Mit „Millionen Toten auf den Schultern geboren"“ fühlt er sich gefangen in der Vergangenheit. Die Rede ist von Reiner Schürmann. Im Alter von dreissig Jahren schreibt er sich seine Suche nach der moralischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Deutschland der Nachkriegszeit in seiner autobiografischen Erzählung „Ursprünge“ von der Seele…
Von Soraya Levin
Reiner Schürmann ist erst vier Jahre alt als der Krieg zu Ende ist. Dennoch entwickelt sich der vergangene Krieg mit seinen Verbrechen für Schürmann zum privaten Lebenskonflikt. Allein der Ort, wo er gross wird, nämlich eine ehemalige Sprengstofffabrik, ist umgeben von der Ära der nationalsozialistischen menschenverachtenden Gräueltaten. In seinem Zimmer „riss man den ukrainischen Pyjamas die Fingernägel raus“.
Unabwendbar stellt sich für Reiner Schürmann die Frage nach den Ursachen und der Verantwortung für das Dritte Reich. Selbst in der Familie unausgesprochene Worte über die NS-Zeit. Sein eigener Vater — vielleicht ein Täter? Schürmanns Sinnsuche treibt ihn zunächst in ein Kibbuz nach Israel. Als das Kollektiv ihn ausschliesst, trifft ihn unmittelbar die Schuld ein Deutscher zu sein. Schürmann reist zurück nach Freiburg. Mit dem Besuch seines jüdischen Freundes Joschko wird deutlich, dass sich hinter dem verklärten Freiburger Leben immer noch der Geist des Nationalsozialismus bewegt. Joschko, KZ-Insasse in Belzec und ein Opfer von Menschenversuchen, begegnet zufällig einem seiner zur „Normalität“ zurückgekehrten und „reingewaschenen“ Täter. Kein Wort der Reue oder eines Schuldeingeständnisses. Und Schürmann? Er ist „"dem Opfer genauso nah wie dem Henker.“ Getrieben von den fremden Schatten der Vergangenheit will Schürmann „"die brennende Haut abstreifen: einer Rasse von Folterern zu entstammen…“ und flieht weiter nach Frankreich, in die Sowjetunion und letztlich in die USA. Neben dem harten und irrwitzigen Kampf um einen Job, findet Schürmanns Flucht schliesslich ein Ende.
Wie setzt sich eine Generation mit einer Vergangenheit wie dem Nationalsozialismus auseinander, wenn sie diese Zeit nur als Kind oder Nachkriegsgeneration wahrgenommen hat? Reiner Schürmann ist in „Ursprünge“ auf der Suche nach den offenen Fragen der Verantwortung und der Schuld für die unmenschlichen Verbrechen während der NS-Herrschaft. Einer Verantwortung und Schuld, der kein moralisches Eingeständnis folgt, sondern ein Schweigen, eine Distanzierung, eine Reinwaschung. Keine Bewusstseinskatharsis, stattdessen eine Nachkriegsära, die tabuisiert, die entschuldigt, die sich vielfach selbst zum Opfer stilisiert. Eine Normalität, die die Reflexion des unsagbaren Geschehens verweigert, lässt aber Raum für Wiederholungen.
Reiner Schürmann entblättert auf äusserst sensible Art und Weise in Ursprünge seine Seele. Eine Seele, die unter dem unausgesprochenen Erbe der Schatten der Vergangenheit nicht nur leidet, sondern zwischen dem Gestern und Heute gefangen ist. „Ursprünge“, ein ethisch feinfühliger schmerzvoller und sinnsuchender Umgang mit den dunklen Schatten des Dritten Reiches.
Reiner Schürmann: Ursprünge.
Titel der französischen Ausgabe: Les Origines. Recit
Aus dem Französischen von Michael Heitz und Esther von der Osten
224 Seiten, Gebunden, diaphanes Zürich-Berlin 2008
Euro 19,90 / CHF 35,90
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