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Die Vogelwelt von Auschwitz

Surminski„Um Böses zu tun, muss der Mensch es zu allererst als Gutes begreifen.“ Mit diesem Zitat des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn leitet Arno Surminski seine Novelle „Die Vogelwelt von Auschwitz" ein.

Der polnische Kunststudent Marek Rogalski wird 1940 nach Auschwitz deportiert. Im Vernichtungslager befindet sich auch der SS-Wachmann Hans Grote. Ein Vogelkundler, der seine Zeit in Auschwitz nutzen möchte, um die Vogelwelt um das Lager herum zu erforschen. Da er für sein Forschungsprojekt noch einen Skizzenzeichner braucht, fällt seine Wahl auf Marek Rogalski…

Rezension von Soraya Levin

Rogalskis Lagerleben beginnt sich dadurch zu verändern. Er muss nicht mehr die Baracken anstreichen, bekommt Zivilkleidung von einem Toten und kann mit Grote das Lager verlassen. Und draussen ist der Frühling. Und die Freude über den Duft, die Blumen und den Vogelgesang gibt Marek die Hoffnung, bald wieder frei und bei seiner Verlobten Elisa zu sein. Und für Momente taucht der SS-Wachmann Hans Grote und der Verschleppte Marek Rogalski wieder in ein scheinbar ziviles Leben ein. Hans Grote wird zum lachenden Familienvater, der keinem Vogel etwas zu Leide tun kann. Aber die Schreie der Gefolterten hört er nicht, die am Galgen Baumelnden und die an der Mauer zersiebten Körper sieht er nicht. Das Töten von Vögeln steht im Lager unter Strafe. Das Töten von Menschen eben nicht.

Endstation Auschwitz

Von anderen Lagerinsassen wird Marek gedrängt, Grote zu ermorden. Doch er kann nicht töten, denn er ist doch nur ein Kunststudent. Als Grotes Forschungsarbeit kurzfristig unterbrochen wird, kommt Marek als Zwangsarbeiter in die am Lager angrenzende Fabrik nach Monowitz. Sein Traum von Freiheit zerbricht hier endgültig.

Mit weiter fortschreitendem Krieg bricht das Vernichtungslager aus allen Nähten und Auschwitz wird um das Dorf Birkenau erweitert, ""wo die Gesetze der Stadtplanung auf den Kopf gestellt" werden und "Bevor noch eine einzige Baracke errichtet wurde, liessen sie mehrere Verbrennungsgruben ausheben." Die Zugvögel kommen und gehen und die Zeit bringt immer mehr Massengräber, Leichenberge und immer mehr Güterzüge mit Menschen, für die der Bahnhof Auschwitz zur Endstation wird. Und "Marek wundert sich, dass die Ankommenden deutsch sprechen. Nun bringen sie schon die eigenen Leute um, denkt er."

Die Rettung

Marek gewinnt den Überlebenskampf. Er wird nach viereinhalb Jahren aus dem Vernichtungslager befreit und trifft in New York seine Verlobte Elisa wieder. Aus dem SS-Wachmann Hans Grote wird nach lediglich drei jähriger Haftstrafe ein anerkannter Wissenschaftler der Vogelkunde.

Zwei Lebenswege

Arno Surminski zeigt in seiner nach einer wahren Begebenheit erzählten Novelle, "Die Vogelwelt von Auschwitz", das Grauen der fanatischen Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten, aus der Perspektive einer fokussierenden Nebenhandlung.

Die Erforschung der Vogelwelt von Auschwitz führt den aus Krakau stammenden Kunststudenten Marek Rogalski mit dem SS-Wachmann und Ornithologen Hans Grote zusammen. Zwei Lebenswege, wobei der eine Weg dem Opfer Marek Rogalski gehört und der andere dem Täter Hans Grote. Einem Täter, der sein Handeln rechtfertigt, der keine Reue oder Schuld spürt, der für die Teilhabe an dem unfassbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit lediglich drei Jahre Haft verbüsst. Und ein Opfer, das bei all dem sichtbaren Grauen noch an das Gute glaubt, ein Opfer, das selbst nicht zum Täter wird, das die Sehnsucht nach der Freiheit und diesen kleinen winzigen Optimismus an das Gute im Menschen schliesslich mit dem reinen Überlebenskampf verliert.

Kontraste des Grauens

Surminski setzt Kontraste. Die frühlingshafte Idylle, die Freude am Erwachen des Frühlings und daneben die Einäscherung menschlicher Lebensläufe. Der süsslich verwesende Geruch legt sich wie ein Schleier über den Duft des Flieders. Auschwitz-Birkenau, ein Ort wo Vögel zwitschern, ein Ort, wo keinem Vogel ein Haar gekrümmt wird. Ein Ort wo Menschen bestialisch leiden, wo Menschen zu Tode gefoltert werden, wo der Massenmord zu Hause ist.
Der "Leben" bringende Storch auf dem Schornstein des Krematoriums als Symbol des letzten menschlichen Aufbäumens gegen die Welt der Toten. Ein kleiner Vogel, der sechs Tage ohne Wasser und Nahrung im Viehwaggon überlebt hat, ruft Mitleid bei den SS-Wachmännern hervor. Ihr Empfinden für das unsagbare menschliche Leid der im Viehwaggon Eingepferchten bleibt jedoch kalt.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Hans Grothe schickt Marek Rogalski in die Fabrik nach Monowitz. Surminski zeigt, auch die Industrie, hier insbesondere die IG-Farben, ist Teilhaber des unmenschlichen Systems. Einer Teilhabe, die aus Zigtausenden von Menschen reine in den Tod gehende Arbeitssklaven macht.

Surminski setzt vor seine Jahreszahlen kein Jahrhundert. Denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit existieren ohne zeitliche Beschränkung. Nach der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sollen sie "das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen""

Die Empörung soll nicht Hass sein, aber sie soll Mahnung und Vorsicht sein und gegen alle vorgehen, die in menschenverachtender und vernichtender Absicht handeln und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen.

Arno Surminskis Novelle, "Die Vogelwelt von Auschwitz" ist ein aufrichtiger grenzenloser Appell gegen das Vergessen, denn nur die Erinnerung an die Barbarei macht die Bedrohung sichtbar.

© Soraya Levin

Arno Surminski, Die Vogelwelt von Auschwitz, Novelle, 2. Auflage München 2008, 192 Seiten, LangenMüller, 17,90 EUR D / 18,40 EUR A / 32,90 CHF (UVP), ISBN: 978-3-7844-3126-0
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1 comment to Die Vogelwelt von Auschwitz

  • Ruth Spicker

    ….mein jüdischer Vater, der mitsamt seiner gegründeten Familie und deren Verwandtschaft, auf der „Rampe“ in AUSCHWITZ in der Nacht vom 19/20.02.1943 „ankam“, sagte mir auf meine Nachfrage, „dass es in A. keine Vögel gegeben und dass er nie Vögel oder Gras gesehen habe und wenn es Vögel gegeben hätte, wären sie vom Himmel gefallen, auch sie – die Vögel – wären im Rauch der Verbrannten erstickt.

    Als ich 1991 das Museum des ehemaligen KZ A. „besuchte“ und ich im Alleingang aus dem „Block des Martyriums“ heraustrat und vor mir wenige Stufen sah, um diese Stätte des Grauens zu verlassen, wunderte ich mich sehr, dass die Sonne schien und Vögel zwitscherten.
    Bei der Schilderung meinem jüdischen Vater gegenüber, wurde Vater wütend und verwies darauf, „keine Vögel, keine Sonne und kein Gras. Nur Rauch, Dreck und Gestank – verbunden mit Hunger und Qual.
    Das ist der Unterschied zwischen künstlerischer Freiheit und der Realität in meiner Familie, was davon übrig geblieben war/ist.