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Von Thomas Mann bis Martin Walser: Literarischer Antisemitismus in Deutschland

Die Gewalt, die in sprachlichen Stereotypisierungen steckt, ging und geht der Demütigung, der körperlichen Gewalt, der Vertreibung und des Völkermords voraus. Wie aber kann es gelingen, antisemitische Sprechweisen freizulegen? Nach welchen Kriterien kann Antisemitismus in literarischen Texten analysiert werden?

Von Anke Schwarzer

Letztes Jahr trafen sich Literaturwissenschaftler, Soziologen und Historiker im Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld, um sich fächerübergreifend mit dem Literarischen Antisemitismus zu beschäftigen. Ein Buch dokumentiert über zwanzig Beiträge dieser Wissenschaftler.

Es geht ihnen freilich nicht darum, grosse, längst verstorbene Literaten zu diffamieren, Verbotsschilder aufzustellen und nach Kontrolle und Zensur zu schreien. Im Fokus steht das Anliegen, seriöse Textanalyse zu betreiben. Die Kunst und Literatur überschreitet Grenzen und bricht Tabus — das ist ihr Recht. Die Pflicht der Wissenschaft dagegen – so lautet der Tenor – ist die Kritik, die klar beim Namen nennen muss, was Antisemitismus ist. Der Germanistik-Professor Klaus-Michael Bogdal wendet sich dagegen, dass zuweilen die öffentliche Kritik an antisemitischen Stereotypen in der Literatur zur Gesinnungsprüfung und Verfolgung umgedeutet würde. "Analyse ist nicht Verbot", betont er.

Eine Vielzahl von Disziplinen beschäftigt sich damit, den Antisemitismus zu erforschen. Die Literaturwissenschaft sei eine von ihnen, die bislang eher randständig blieb, schreiben die Herausgeber. Und das, obwohl sie zwei Pfunde in ihrer Hand halte: ein breit aufgefächertes Spektrum an Methoden des Textverstehens und einen riesigen Fundus an Quellen — die schöne Literatur — für die allgemeine Antisemitismusforschung.

Wichtig sei es, die Eigenart der Texte nicht zu unterschlagen. Man könne literarische Texte nicht schlicht einem, etwa von der Geschichtswissenschaft, vorgegebenen Antisemitismusbegriff unterwerfen. Deshalb nennen die Herausgeber ihr Thema nicht Antisemitismus in der Literatur sondern Literarischer Antisemitismus.

Florian Krobb fasst einige wichtige Kriterien zusammen: Verwenden die Autoren eine "jiddelnde" Sprache und andere Stilmittel, die jüdische Figuren als andersartig darstellen, benützen sie Klischees, die sich in der Geschichte des Antisemitismus herausgebildet haben, oder einen Erzählkommentar, der die Leser gegen jüdische Gestalten aufbringt, dann weisen diese Indikatoren — zumal wenn sie gemeinsam auftreten – auf eine antisemitische Tendenz. Die Zuweisung der "bösen" Seite an die Juden und der "guten" Seite an die Nichtjuden in einer schwarz-weiss gemalten Erzählung und die ungenügende Abgrenzung vom Antisemitismus, der sich in der Handlung zeigt, gehören ebenfalls zu diesen Indikatoren. Krobb weist aber auch darauf hin, dass die Sache nicht so einfach ist: Wichtig sei auch der historische Kontext, in dem solche Mittel verwendet würden. Zu einem Zeitpunkt, in der die Kenntnis der monströsen Folgen des Judenhasses fehlte, mögen manche Züge nicht als antisemitisch empfunden worden sein. Dann könnte eine "jiddelnde" Sprache nicht automatisch Ausdruck einer Stigmatisierung der Figur, sondern Kennzeichen einer "realistischen" Charakterisierung sein. Dafür spräche auch, dass sich das Literaturjiddische in Texten nicht-jüdischer und jüdischer Autoren gleiche, so Krobb.

Im Fokus des Bandes stehen Romane und Stücke deutscher Autoren. Martin Walser, Günther Grass, Thomas Mann, Luise Rinser, Gerhard Zwerenz, Bernhard Schlink, Wilhelm Raabe und Gustav Freitag gehören unter anderen zu den Literaten, deren Werke kritisch unter die Lupe genommen wurden. Besonderes Augenmerk schenken die Beiträge der Frage, wie sich der Literarische Antisemitismus in den Werken nach 1945, also nach dem Völkermord an den europäischen Juden, entfaltet.

Die Abwehr von Schuld sei seit 1945 zum Kernmotiv des Antisemitismus in Deutschland geworden, so der Soziologe Werner Bergmann. Bei der Verkehrung von Oper und Täter nach 1945 würden Juden als ein Kollektiv gesehen, das durch seine blosse Existenz die Erinnerung an den Holocaust und die Schuld der Deutschen vor 1945 wach halte. Bergmann erläutert Schritt für Schritt die verschiedenen Muster der Abwehr: Angefangen von der Leugnung des Holocaust oder der Verantwortung dafür über die Formen der Aufrechnung, etwa, dass den Juden eine Mitschuld gegeben wird, bis hin zur Verweigerung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, beispielsweise wenn ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden solle, die Existenz von Antisemitismus negiert oder gar die moralische Ansprüche der Opfer diskreditiert werden.

Bleibt die Frage, wie sich diese Abwehr in der Literatur niederschlägt. Die Beiträge zeigen in einzelnen, detaillierten Analysen, wie sich der Literarische Antisemitismus nach Auschwitz gewandelt hat. Sie dokumentieren aber auch so manche Kontinuitäten, die sich vom christlichen Antijudaismus über den wissenschaftlichen Antisemitismus bis hin zum Schuldabwehr-Antisemitismus erstrecken.

So führt die Autorin und emeritierte Literaturprofessorin Ruth Klüger aus, dass die beiden Protagonisten in Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" (2002) – der als seelenloser und bösartiger Kritiker dargestellte Jude als Gegenspieler des aufrechten, naturverbundenen Schriftstellers – in gut und böse aufgeteilt würden. Auf die böse Seite werde die Folie jüdisch, auf die gute Seite die Folie christlich gelegt. Die ausführliche Benutzung einer deutsch-christlichen Mystik als ein stärkendes Element im Leben des guten Protagonisten, etwas das ihm helfe, die unfairen Angriffe des Juden zu überstehen, setzte eine Tradition fort, die ins Mittelalter zurückreiche und der zufolge nur das Christentum die Menschen vor den Nachstellungen der Juden retten könnte, so Klüger.

Eine andere Variante, wie sich antisemitische Erzählweisen vor und nach 1945 verquicken, diagnostiziert Yahya Elsaghe in Thomas Manns Werk. Der Literaturprofessor stellt fest, dass keiner der Romane, die Mann vor seinem Exil veröffentlichte, ohne jüdische Figuren auskomme. Dieses häufige Auftreten stehe in keinem Verhältnis zum geringen Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs. Nicht nur jeder zehnte bis zwanzigste Arzt sei in Manns Romane ein Jude — das entspräche ungefähr den realen Verhältnissen — sondern fast jeder zweite. In "makaberem Gegensatz" dazu stehe, dass Mann in seinen Werken nach Auschwitz so gut wie keine jüdischen Figuren auftauchen lasse. Diese Abwesenheit nach Auschwitz spreche Bände, so Elsaghe. Sie verrate eine deutsche Befangenheit und reflektiere auf "unheimlich beredete Weise" den mit dem Ortsnamen gemeinten Genozid.

Der Band gibt keine Information darüber, wie verbreitet der Literarische Antisemitismus ist, ob er zu oder abnimmt. Auch muss manchmal offen bleiben, wie bewusst oder unbeabsichtigt Autoren antisemitische Erzählweisen einsetzen, etwa Luise Rinser in "Jan Lobel aus Warschau". Das Buch präsentiert zahlreiche Werkanalysen und skizziert die schwierige Methodenfrage. Damit nähert es sich dem Thema Literarischer Antisemitismus; glasklare Interpretationsraster liefert es jedoch nicht. Diese sind auch nicht unbedingt sinnvoll. Die Literaturwissenschaftlerin Mona Körte betont, dass ein verallgemeinerbarer Katalog von Merkmalen, der den Literarischen Antisemitismus erfassen könnte, die Vielzahl an Interpretationswegen verkürzen oder gar umgehen würde. Wichtig sei zudem die Frage, wer eigentlich in einem Roman spreche, der Text, der Leser, der Autor? Die judenfeindlichen Ausformungen seien nur von Werk zu Werk in einem sehr genauen Lesen zu bestimmen und von Lesern, die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten der Texte, Stilmittel und Figuren einlassen.

Klaus-Michael Bogdal/Klaus Holz/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart 2007, Verlag J.B. Metzler. 373 Seiten, 49,95 Euro.
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