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Neue Werke von Hans Keilson: „Kein Plädoyer für eine Luftschaukel“

„In meiner Erinnerung ist das 20. Jahrhundert geprägt vom Hass als Staatsräson. Das ist eine Form der Selbstzerstörung, die sich nicht wiederholen darf. (…) die Nazis haben sich damit selbst vernichtet“, so Hans Keilson im Gespräch mit der spanischen Tageszeitung El Pais, 2010 (Keilson, 2011a, S. 148)…

„`Was ist die Grundlage Ihres Lebens?´ – Die Trauer.“
Hans Keilson im Gespräch mit der New York Times, 2010 (Keilson, 2011a, S. 154)

Von Roland Kaufhold

Vor 1 ½ Jahren, anlässlich Hans Keilsons 100.ten Geburtstages, haben wir die Vita und das Werk des großen jüdischen Psychoanalytikers und Schriftstellers Hans Keilson angemessen gewürdigt (Kaufhold, 2008, 2009a, 2009b). Es mag keine Helden mehr geben: Hans Keilson ist einer. Der seit 76 Jahren in den Niederlanden lebende Schriftsteller – die deutschen Nationalsozialisten haben ihn als Juden aus Deutschland vertrieben, seine Eltern ermordet – schreibt weiter, hält gelegentlich immer noch Vorträge, besonders gerne in Schulen, vor Jugendlichen. Auch im niederländischen Fernsehen ist er gelegentlich zu sehen.

Eine gute, eine authentische Biografie braucht ihre Zeit, bis sie angemessene Würdigung und Rezeption findet. Viele Künstler haben die öffentliche Rezeption ihres Wirkens nicht mehr erlebt – erst posthum sind sie entdeckt, gelesen worden. Lange war Keilson nahezu unbekannt, wurde nur in kleinsten Kreisen rezipiert. Heute nun, wo dieser liebenswerte, nüchterne Menschenkenner und jüdische Widerstandskämpfer 100 Jahre alt geworden ist, wird Hans Keilsons Gesamtwerk weltweit gefeiert: Nahezu alle großen amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften entdecken und feiern nun seine Schriften, in einem geradezu euphorischen Ton.

Vor 50 Jahren, 1962, wurde Keilsons Erzählung Der Tod eines Widersachers in den USA außergewöhnlich positiv besprochen – übrigens in auffallendem Gegensatz zur Rezeption insbesondere dieses Werkes in der Bundesrepublik. Das Time Magazine setzte den Roman auf die Liste der zehn wichtigsten Fiction Books des Jahres 1962.

Hans Keilsons literarische Werke sind in den letzten Monaten in zahlreichen Ländern neu aufgelegt bzw. erstmals publiziert worden. Und nun legt Keilsons Fischer Verlag gleich drei Werke dieses großen, 101-jährigen Autors vor: im leserfreundlichen Taschenbuchformat, geeignet auch für die Lektüre im Schulunterricht.

Zur ersten Neuerscheinung Keilsons: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel. Essays, Reden, Gespräche enthält eine Sammlung seiner Schriften aus den letzten 80 Jahren. Der größte Teil dieser aufrührenden Essays und Reden sind bereits in seiner zweibändigen Werkausgabe (Keilson, 1995) publiziert worden (vgl. Kaufhold, 2008, 2009a, 2010), ergänzt durch neun aktuelle, kürzere Texte und Interviews aus den letzten Jahren. Auf diese neuen Stücke möchte ich an dieser Stelle eingehen.

In den drei Interviews mit dem Freitag: „Ich lebe. Als Sieger und Besiegter“, El Pais: „Den anderen zu töten ist eine Verirrung“, dem niederländischen De Pers: „All das Schöne, nicht den Abgrund“ sowie der New York Times: „Eine koschere Antwort“ kommt Keilsons Lebendigkeit, seine skeptische Grundhaltung wie auch sein gleichbleibendes Interesse an aktuellen Zeitereignissen und Zeitfragen zum Ausdruck. „Ich bin sehr neugierig“ (S. 7), hebt Hans Keilson hervor, bezogen auf den Computer, den der seinerzeit über 80-jährige bereits sehr früh verwendete. Und auf sein Interesse an der aktuellen Energie- und Umweltpolitik angesprochen entgegnet er: „Daran rieche ich. Aber ich muss nicht mehr eintauchen. Das ist nicht mehr mein Thema. Wenn ich zweihundert Jahre alt würde vielleicht…“ Hans Keilson ist immer auf zwei Steckenpferden gleichzeitig geritten: Auf dem der Forschung und Therapie wie auch auf dem der Literatur. Die Forschung – die in seiner großen Studie zur Sequentiellen Traumatisierung (Keilson 1979/2005) mündete – , die pädagogisch-therapeutische Arbeit mit verfolgten jüdischen Kindern empfand er zeitlebens als innere „Verpflichtung“ (S. 10). Sie wird sein wichtigstes Vermächtnis bleiben.

Immer wieder hat er als Jude gegen den Antisemitismus – auch gegen die spezielle, nicht weniger unsympathische Variante des „Linken Antisemitismus“ (vgl. Kaufhold, 2009, S. 123f.) – angeschrieben, dagegen gehandelt – für überwindbar hält er den Antisemitismus nicht: „Nein, aber diese Grausamkeiten könnten überwunden werden“ (S. 11). Hans Keilson vermag die späten, sehr späten Ehrungen, die er nun auch in Deutschland erfährt, durchaus zu schätzen – aber eine Rückkehr in sein ehemaliges Heimatland hat der ehemalige jüdische Flüchtling und Überlebende immer ausgeschlossen, grundsätzlich: „Nein. Niemals“ (S. 13). Die Niederlande sind die Heimat des Juden Hans Keilson, hier möchte er auch beerdigt werden: „Ja, auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe von Amsterdam, neben meiner ersten Frau. Ich bin Mitglied der liberal-jüdischen Gemeinde in der Nähe von Amsterdam“ (S. 13). Die Nazizeit hat ihm jeglichen Romantizismus, der in den Tod verschiedentlich hineinprojiziert wird, genommen. Die Ermordung seiner Eltern bleibt sein tiefster, unheilbarer Schmerz; alle scheinbaren Erfolge als Schriftsteller, Wissenschaftler und Therapeut haben hieran nichts zu ändern vermocht: „Dass ich meine Eltern nicht retten konnte, bereitet mir heute noch Pein. Das ist furchtbar“ (S. 13). Und im Gespräch mit der New York Times wiederholt Keilson 2010: „Meine  Eltern waren die Grundlage meines Lebens. Ich empfinde noch immer Schuld wegen meiner Eltern, das hört niemals auf“ (S. 155). Jede Trennung, insbesondere die von seinen Kindern und Enkeln, ist für ihn mit Schmerzen verbunden.

Deutschland, wohin Hans Keilson nach dem Krieg zwar regelmäßig gereist ist, wo er unter Kollegen aber nur wenige Freunde hat, bleibt für ihn mit Ambivalenz besetzt. Die „Erziehung nach Auschwitz“ (Adorno) scheint jedoch nicht vergeblich gewesen zu sein: „Ich muss hinzufügen, dass Deutschland sich heute gewandelt hat. Die Deutschen haben aus dem, was geschehen ist, wirklich gelernt. Das war nicht einfach. Sie hatten die Augen vor den Nazis verschlossen. Aber es ist klar, dass eine Gesellschaft ohne Kritik sterben muss. Sehen Sie, was aus den Nazis geworden ist: Sie sind verschwunden“ (S. 149).
Tröstend und belebend war für Hans Keilson zeitlebens die Musik. Sie war ein Ort des Rückzugs, der Erholung, der Besinnung, wie auch die Literatur. Als Trompete- und Geigespieler hatte er sich sein Studium verdient, spielte in Cafés und Varietés (vgl. Kaufhold, 2009, S. 121): „Musik habe ich immer geliebt und viel gespielt. Jazz. Und Konzerte von Mozart, von Mendelssohn. Ja, der Musik verdanke ich sehr viel“ (S. 152f.).

Am bedeutsamsten, das hat Hans Keilson in seinen Schriften immer wieder hervorgehoben, ist für ihn jedoch seine psychoanalytische Tätigkeit mit schwer traumatisierten jüdischen Kindern und Jugendlichen geblieben. Unvergessen seine 24 Jahre zurückliegende Präsenz bei einer kinderanalytischen Tagung des Rottenburger Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit; seine Wortbeiträge, sein Wissen, seine Anteilnahme an den Kindern – gemeinsam mit dem seiner jüdischen Kollegen Rudolf Ekstein und Ernst Federn – , war außerordentlich bewegend.

Gegenüber der New York Times hebt er auf die Frage nach der wichtigsten Tätigkeit seines Lebens demgemäß hervor: „Meine wissenschaftliche Arbeit. Darauf bin ich stolz. (…) Es ist schwer, da eine koschere Antwort zu geben … Aber meine Arbeit als Psychoanalytiker ist wichtiger als mein Schreiben. Und das meine ich aufrichtig“ (S. 155).

Seine Sorge gilt dem jüdischen und demokratischen Staat Israel – über den er nur selten schreibt, mit dem er jedoch zeitlebens zutiefst identifiziert geblieben ist. Es muss schmerzend für ihn gewesen sein, als seine mutige, Tabus verletzende  Erzählung Der Tod des Widersachers (1959) wegen seines literarischen Niveaus zwar Anerkennung, wegen seiner Thematik jedoch auch entschiedene, emotionale Ablehnung erfahren hat – insbesondere in Israel. Der Jude Hans Keilson ließ sich durch dieses scheinbare nicht-Verstehen nicht kränken, nicht irritieren: „Ich begriff, daß man sich in Israel den Luxus einer vorurteilsfreien Betrachtung von Verhältnissen, die auf Leben und Tod zielen, nicht leisten konnte“ (Keilson 2005, S. 233), fügte er hinzu.

Auf die Frage des Interviewers der spanischen Tageszeitung El Pais (2010): „Wie sehen Sie den Blick auf die Gegenwart?“ entgegnet Hans Keilson: „Ich bin Arzt, kein Politiker. Im Konflikt zwischen den Palästinensern und den Israelis sehe ich die Verhältnisse sehr kritisch. Der Tod ist niemals ein guter Ratgeber. Für keine Seite. Was jetzt geschieht, ist absurd, und Israel weiß, dass es scharf kritisiert wird“ (S. 149).

Hans Keilson blickt mit Zufriedenheit auf sein Leben zurück. Er erlebt das Aufwachsen seiner Enkel, genießt die Gemeinsamkeit mit seiner zweiten Ehefrau, seinen Garten – und das neuerwachte Interesse an seinen Schriften.  Nun, ich stehe „Pflichtlektüren“ sehr skeptisch gegenüber, auch in Schulen. Aber dieser Essayband sollte in Schulen gelesen werden. Wirklich.

1933 publizierte der seinerzeit 23-jährige Hans Keilson seinen ersten Roman Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit – ein Titel, der auch als Motto über Keilsons Leben stehen könnte. Sein Erstlingswerk war zugleich das letzte Werk eines jüdischen Autors beim S. Fischer Verlag – „gerade, noch rechtzeitig, um verboten zu werden“, merkte Keilson 50 Jahre später in seinem Nachwort zur Neuauflage (1994) ironisch an. In seinem Roman erzählt der junge Autor in autobiografisch getönter Weise den wirtschaftlichen Niedergang eines kleinen Selbstständigen am Ende der Weimarer Republik. Das Buch wurde kurz darauf verboten und erst 51 Jahre später in der Reihe Verboten und verbrannt – Bücher aus dem Exil auf Deutsch neu aufgelegt. Auch dieses Buch ist nun wieder neu aufgelegt worden, als Taschentuch. Der seinerzeit 23-jährige Hans Keilson beginnt seinen Familienroman mit den Worten:

„Der Hauswirt kam in den Laden, er war dick und hatte das Benehmen einer Frau.
`Ich will gern mal mit Ihnen reden, Herr Seldersen´, sagte er und machte sich wichtig. Der Vater sitzt hinter der Kasse, vorn an dem großen Schaufenster, und liest…“ (S. 5)

Als letztes zu nennen ist Hans Keilsons Autobiografie „Da steht mein Haus“. Erinnerungen – ein 130 Seiten schmales Werk. Hierüber werden wir hier auf haGalil später schreiben – das Buch liegt mir noch nicht vor (Nachtrag: Zur Rezension von „Da steht mein Haus“). Aber die FAZ hat just heute einen verständnistiefen, mit Schön, gefragt zu werden betitelten Besuch bei dem 101-jährigen veröffentlicht, anlässlich des Erscheinens dieser Autobiografie. „Schreiben, das ist für mich eine andere Möglichkeit spazieren zu gehen, in der Welt“, bemerkt Keilson hierin. Später mehr. Versprochen.


Foto: Martin Spieles / S. Fischer Verlag

Womit ich für heute enden möchte. Und doch noch ein Zusatz: Hans Keilson hat seinen von den Nazis ermordeten Eltern mehrere Gedichte gewidmet: In den Tagen des November (1947), Sterne (1967) und Dawidy (1997). In letzterem heißt es:

„In diesem Haus oder, vielleicht, in jenem lebte mein Vater als Kind –
die alte Stadt mit neuen, kyrillischen Lettern,
erreichbar mit Paß, gültigem Stempel und Taxi (…)

Gedenk und vergiß. Im Abschaum der Geschichte
gibt es kein anderes Maß für Flucht und Tod.

Anfang wie Ende: kein Stein, kein Gras gibt Kunde,
zerstört und vorbei, unsinniger, unvergänglicher Schmerz,
verwaist, was bleibt: als wäre er nie allein gewesen, mein Vater –
hieß Max, trug später den verordneten Namen Israel,
mit Würde.

Hat nicht viel erzählt, hab ihn zu wenig befragt.
Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte –
sprachloser Himmel…“

(Keilson, 2005, Bd. 1, S. 44).

Hans Keilson (2011a): Kein Plädoyer für eine Luftschaukel. Essays, Reden Gespräche. Frankfurt/M. (Fischer TB), 167 S., 9,99 Euro

Hans Keilson (2011b): Das Leben geht weiter. Roman. Frankfurt/M. (Fischer TB) Euro

Hans Keilson (2011c): „Da steht mein Haus“. Erinnerungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 130 S., geb., 16,95 Euro

Literatur

  • Hans Keilson (2005): Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. H. Detering & G. Kurz. Frankfurt a. M. (Fischer)
  • Hans Keilson (2005a [1979]): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Gießen (Psychosozial Verlag).
  • Roland Kaufhold (2008): „Das Leben geht weiter“. Hans Keilson, ein jüdischer Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge und Musiker, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis (ZPTP), Heft 1/2-2008, S. 142-167. www.zptp.eu/aduploads/zptp2008h1-2_kaufholdkeilson.pdf
  • Roland Kaufhold (2009): „Literatur ist das Gedächtnis der Menschheit“: Der jüdische Psychoanalytiker, Schriftsteller und Pädagoge Hans Keilson, haGalil, 12.12.2009. www.hagalil.com/archiv/2007/11/keilson.htm
  • Roland Kaufhold (2009a): Weiterleben – biografische Kontinuität im Exil. Hans Keilson wird 100, psychosozial Nr. 118 (4/2009), S. 119-131.
  • Roland Kaufhold (2009b): Hans Keilson wird 100. Schriftsteller, Traumatherapeut, Psychoanalytiker, Tribüne H. 192, 4/2009, S. 10-13
  • Roland Kaufhold (2010): „Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – sprachloser Himmel“. Hans Keilson wird 100, Kinderanalyse, 1/2010 17. Jg., S. 94-109.

„Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – sprachloser Himmel“ – Zum Tode von Hans Keilson (12.12.1909 – 31.5.2011)

Weitere Beiträge über Hans Keilson:
David Vickrey Review: Hans Keilson’s: Das Leben geht weiter, Dialog International German – American Opinion: Politics and Culture (19.9.2010)
Hans Keilson interview: „Genius? I’m not even a proper writer!“
Hans-Keilson – Mit 100 Jahren zum Bestsellerautor: Die Welt, 24.4.2011

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