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„Alle Scherben zusammen machen noch immer kein Glas“…

… zitiert Ruth Klüger in ihrem neuen Buch „Unterwegs verloren“ ein Gedicht der Lyrikerin Mascha Kaleko. Und Scherben gibt es viele. Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt, emigrierte 1947 mit ihrer Mutter in die USA und lehrte dort an verschiedenen Universitäten Germanistik. Berühmt wurde sie durch ihre autobiographischen Erinnerungen „Weiter leben – Eine Jugend“, die 1992 erschien. Mit „Unterwegs verloren“ schreibt sie ihre Lebensgeschichte fort, beschreibt wie Zerbrochenes nie wieder heil wird, ja, dass sogar Scherben weiter brechen können.

Rezension von Ramona Ambs

Ruth Klueger: Unterwegs verlorenDas Buch beginnt mit der Geschichte einer Nummer. Der Nummer, die man ihr als Zwölfjährige in den Arm gebrannt hat und die sie sich erst vor wenigen Jahren entfernen liess. Diese Nummer wurde ihr übelgenommen, wurde als Provokation gesehen, als aufdringliche Entblössung. Die Umwelt schien zu erwarten, dass diese Nummer schamhaft zu verdecken sei. Klüger erzählt dies anhand zahlreicher Beispiele, von peinlich berührten Damen, die anfangen über Armbanduhren zu reden bis hin zu dem anonymen Brief eines Studenten, der sich durch die Zur-Schau-Stellung der Nummer beleidigt fühlte. Eine solidarische Haltung der anderen blieb überall aus. So stellt sie fest, dass es „keine Instanz für die Unannehmlichkeit gab, die ihr die Nummer eingebracht hat“.

Doch es ist nicht nur die sichtbare Nummer, die sie immer wieder zur Aussenseiterin macht. Es ist ihre einfache Existenz als Jüdin und Frau, die sich erfolgreich in ihrem Beruf zu behaupten versucht, die offenbar der akademischen Männerriege bitter aufstösst. So berichtet sie immer wieder von beschämenden Situationen, herablassenden Bemerkungen und subtilen Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war. Die Kränkungen, die ihr aus direkter Feindseligkeit gegenüber entstehen, werden durch die Gleichgültigkeit der anderen verstärkt. Als ob man Salz in eine Wunde streut – als ob man die Scherben eines zerbrochenen Glases nochmals zertritt.

Auch im privaten Bereich sieht Klüger sich vor einem Scherbenhaufen. Die Ehe, die zerbrochen ist, die Söhne, zu denen sie nicht die innige Beziehung hat, die sie sich gewünscht hätte. Und nicht zuletzt die Freunde, die man „unterwegs verloren“ hat. Besonders ausführlich widmet sie sich der Betrachtung der Freundschaft zu Martin Walser. Sie beschreibt, wie langsam eine Kluft zwischen ihnen entstand, die dann letztlich durch Walsers antisemitischen Roman „Tod eines Kritikers“ zum vollständigen Bruch führte.

Die Einsamkeit, die aus diesen Erfahrungen resultiert, wird verstärkt durch das Befremden, das Klüger immer wieder befällt, wenn sie in Deutschland oder Österreich als „Rückkehrerin“ unterwegs ist: „Die Rückkehrerin geht an der Universität vorbei, die sich auf dem Teil der Ringstrasse befindet, der nach einem
berüchtigten Antisemiten (Karl Lueger, Anm. d. Verf.) benannt ist. Wenn sie ihren Spaziergang fortsetzt (…), so stösst sie dort noch einmal auf ihn, oder gleich zweimal: erst als Denkmal und dann als Platz, auf dem das Denkmal steht. (…) Schämt sich denn niemand ein bissel für die dreifache Ehrung? Die Rückkehrerin schlendert weiter Richtung Zentrum und findet am Judenplatz das Denkmal für die Vertriebenen und Ermordeten. Gut gemeint, aber wie verträgt sich diese treuherzige Wiedergutmachung mit der Lueger-Verehrung an der Ringstrasse?“

Es sind aber nicht nur Orte und Institutionen, die sie befremden und irritieren. Es ist der alte Judenhass, dem sie hier und dort ganz unfreiwillig in die Arme rennt: „Doch kaum beginnt man sich wohl zu fühlen (was man vermutlich nirgends soll), sind hämische Bemerkungen über Juden nicht mehr zu überhören (…) Sie kriechen irgendwie aus den Wänden, man vernimmt sie am Markt oder am Flughafen, eine geifernde Unverschämtheit kommt darin zum Ausdruck, vor der ich sofort weglaufen möchte. Keine Streitlust erwacht in mir, sondern das Kind, das ich hier war, will einfach weg von den Gassenbuben, die es beschimpfen.“

Dieses Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit begleitet sie durch alle Orte und Zeiten: „Je älter ich werde, desto deutlicher wird es, dass die Jugenderlebnisse nicht die geringste Absicht hatten, sich aus der Psyche zu entfernen (…) Das Elend von damals ist nur vorbei für die, die damals daran zugrunde gingen, sonst nicht (…).“

Und so liest man Kapitel für Kapitel die Scherben aus Klügers Leben. Viel Bitterkeit findet man da, aber auch Gedichte und Selbstironie der feinsten Sorte. So kommentiert sie die Preisvergabe des Rauriser Literaturpreises für ein Erstlingswerk an sich mit den Worten: „Mit meinen 61 Jahren war ich sicher die älteste Schachtel, die ihn erhalten hat“ oder fragt sich in einer anderen Situation: „Sind denn alle diese Leute Katzen und ich bin der heisse Brei?“ Überhaupt gibt es auch einige wenige positive Beziehungen und
Begegnungen – allesamt aber mit Frauen, Hunden oder Katzen, die dann so nette Namen haben wie „Golda Miau“.

Dennoch bleibt diese Lebenserinnerung ein zutiefst trauriges Buch, das letztlich von der Unfähigkeit erzählt, sich von der Vergangenheit zu befreien und unbefangen eine Zukunft nach Ausschwitz zu beginnen. Alle Scherben zusammen machen noch kein Glas – darüber zu lesen aber zeigt auf, wie schön
das Glas hätte sein können, wäre es nicht zerbrochen worden.

Ruth Klüger: Unterwegs verloren, Zsolnay Verlag Wien 2008, Euro 19,90 (D), Euro 20,50 (A)
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