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Die verbotene Zukunft

Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Spiegel psychosozialer Forschung…

Von Maria Heer

„Die Juden haben eine gemeinsame Vergangenheit. Ihre Wurzeln sind tiefer als der Holocaust. Die Dimension des ‚Unbewussten’ der Schoa ist in der Psyche dreier Generationen von Tätern und Opfern stark verankert. Die Geschichte der Familie B. aus Oswiecim, die zwischen West und Ost wanderte, viel gelitten hat, aber überlebte, kann man trotz schrecklicher Erfahrungen als eine Herausforderng zum neuen Leben betrachten. Die Nationalsozialisten verurteilten die Juden zu einer „Nichtzukunft“. Jetzt leben sie in verschiedenen Ländern in dieser „verbotenen Zukunft.“

So bilanziert Bella Liebermann in ihrem Buch „Das Trauma der Holocaust-Überlebenden“ ein „narratives Interview“ mit zwei Geschwistern, das sie einbettet in eine vielseitige und inhaltsreiche Darstellung der bisherigen Forschungsansätze zur psychosozialen Erfassung und Therapie der Traumata Betroffener.

Was ist ein Trauma? Das griechische Wort für „Wunde, Verletzung“ benutzt der Begründer der Psychoanalyse, der Wiener Arzt Siegmund Freud, für schwere Verletzungen der Seele. Dr. Freud, von den Nazis vertrieben, starb 1939 im Londoner Exil. Ihm blieb unbekannt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen der NS-Terror Leid und Grausamkeit zufügen würde.

Die Autorin zeigt anhand verschiedener Konzepte seiner Nachfolger auf, wie bis in unsere Zeit hinein immer neu versucht wird, menschliches Verhalten in „Extremsituationen“ (Bruno Bettelheim) zu deuten und die schmerzlichen Folgen zu lindern. Weltweit wurden therapeutische Modelle entwickelt. Die Analyse verdeutlicht, dass dennoch die Forschung über traumatische Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden in den ehemaligen Sowjetstaaten bisher noch in den Anfängen steckt.

Bella Liebermann, selbst Betroffene der zweiten Generation, kam 1994 aus Moldawien nach Deutschland. Ihre Studie basiert auf der Bachelor-Arbeit, die sie im Fach „Soziale Arbeit“ an der Fachhochschule Erfurt vorgelegt hat. Auf wissenschaftlichem Niveau und zugleich mit großer Einfühlsamkeit führte sie Interviews, die persönliches Leid ansprechen und zur Erkenntnis der doppelten, oft dreifachen Traumatisierung von Überlebenden aus den ehemaligen Sowjetstaaten beitragen. .

Diese Menschen wurden, nachdem der NS-Faschismus endlich besiegt war, erneut einem diktatorischen Regime unterworfen. Sie mussten ihr Judentum verleugnen; totale Anpassung war ihr einziger Weg, beruflich eine Existenz aufzubauen. Ab 1990, als viele jüdische Familien nach Deutschland kamen, mussten sie oft erleben, dass ihre akademischen Abschlüsse und Berufspositionen hier nicht anerkannt wurden.

Die Arbeit von Bella Liebermann ist eine wertvolle Grundlage zum Verständnis der Situation jüdischer russisch-sprachiger Zuwanderer. Und sie gibt einen wichtigen Impuls zur weiteren Erforschung der traumatischen Schicksale sowjetischer Holocaust-Überlebender.

Bella Liebermann: „Das Trauma der Holocaust-Überlebenden. Ihre Anamnese am Beispiel des narrativen Interviews“; Edition Neuer Diskurs Band 26, Freire Verlag, Oldenburg 2012; 109 S., 22,-Euro, Bestellen?

2 comments to Die verbotene Zukunft

  • Eli's Freund

    Liebe Maria Heer,

    erst einmal bedanke ich mich bei Ihnen, dass ich Bella Liebermann kennenlernen durfte, zumindest virtuell.
    Aber, ich war zutiefst erschüttert nach der Lektüre Ihres Beitrages. So viel Tragik, Opfer in der 2. Generation, ständig unter diktatorischen Regimen, Holocaust, Holocaust u.s.w.

    Lesen Sie mal zum Vergleich diesen Text;
    http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/2325

    Der von mir zitierte Artikel entstammt der Jüdischen Allgemeinen, also offenbar für unsere jüdischen Mitbürger geschrieben. Für WEN schreiben Sie ?

  • Uri Degania

    @ Eli‘ Freund:
    Ich verstehe Ihre Frage wirklich nicht.
    Gemeinhin schreibt man für Menschen. Gleichgültig, welcher Nationalität, Religion, Hautfarbe, Überzeugung sie angehören…
    Ein Zusatz: Warum ist die Jüdische Allgemeine „für unsere jüdischen Mitbürger“ geschrieben?