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Die Koffer sind ausgepackt

Deutsch-jüdisches Leben nach 1945: Eine fast unglaubliche Wiedergeburt…

Für die meisten Juden schien ein Leben in Deutschland nach 1945 undenkbar und dennoch hielten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit rund 200.000 Überlebende der Shoa im Land der Täter auf – mehrheitlich osteuropäische Juden, die vor Pogromen in ihrer Heimat geflohen waren und in den sogenannten Displaced Persons (DP) Camps einer ungewissen Zukunft entgegensahen. Bis zum Ende der 1940er Jahre verließen bis auf etwa 20.000 Juden das von vielen als „blutgetränkte deutsche Erde“ bezeichnete Land und siedelten sich zumeist im neu entstandenen Staat Israel oder in einem der klassischen Emigrationsländer in Übersee an. Die Minderheit, darunter viele deutsche Juden, blieb aus unterschiedlichsten Motiven in Deutschland, sei es aus gesundheitlichen, politischen oder privaten Gründen, und begannen die zerstörten jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen.

Jüdische DPs warten im Hafen von Neapel auf die Überfahrt nach Erez Israel
Jüdische DPs warten im Hafen von Neapel auf die Überfahrt nach Erez Israel, Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)

Obwohl mittlerweile einige Werke zur Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute vorliegen, fehlte doch bislang eine Zusammenschau, indem der Bogen vom schweren Neuanfang nach der Shoa bis hin zu den deutsch-jüdischen Gemeinden unserer Tage geschlagen wird. Seit einigen Jahren arbeitet unter Federführung von Professor Michael Brenner von der Ludwig-Maximilians-Universität in München eine Gruppe von Historikern zu diesem Kapitel der Zeitgeschichte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. In dem soeben vorgelegten Band „Geschichte der Juden in Deutschland“ haben Michael Brenner und acht renommierten Kollegen aus den USA, Israel, Deutschland, England und der Schweiz das Thema auf über 500 Seiten spannend und facettenreich aufbereitet.

In seinem einleitendem Essay skizziert Dan Diner was es bedeutete als Jude in Deutschland zu bleiben, das als ein vom Jüdischen Weltkongress geächtetes Land galt. Atina Grossmann und Tamar Lewinsky beschreiben die Zeit zwischen 1945 und 1949, in der es in den DP Lagern und Communities zu einer Wiedergeburt der nahezu vollständig vernichteten osteuropäischen Kultur kam. Sie thematisieren dabei auch die unübersehbaren Konflikte und das große Misstrauen zwischen den wenigen deutschen Juden und der überwältigenden Mehrheit der zumeist aus Polen stammenden Displaced Persons. Den Wiederaufbau der deutschen Gemeinden und ihrer Organisationen beleuchten Michael Brenner und Norbert Frei, während Constantin Goschler und Anthony Kauders die Positionierung der jüdischen Bevölkerung in der deutschen Gesellschaft und den Kampf um die Wiedergutmachung aufarbeiten. Zum Schluss des Bandes stellen Yfaat Weis und Lena Gorelik die jüngsten Umbrüche innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland dar: Die massive Zuwanderung russischsprachiger Kontingentflüchtlinge und die daraus resultierenden Debatten und Kontroversen hinsichtlich eines neuen deutsch-jüdischen Selbstverständnisses.

Der Beck Verlag bezeichnet das Buch in seiner Werbung schon jetzt als ein Standardwerk über das jüdische Leben in Deutschland. Ein bisschen vorlaut erscheint das Urteil schon, eine hauseigene Publikation, die soeben die Druckerpresse verlassen hat, mit einem solchen Prädikat zu versehen. Wobei der Band die Substanz für ein solches Lob allemal hat. Unverständlich ist allerdings, dass die Autoren bei der Berücksichtigung der Sekundärliteratur einige wichtige deutschsprachige Arbeiten nicht zur Kenntnis nahmen. Dazu gehören etwa die bemerkenswerte Untersuchung über das DP-Camp Landsberg „Flüchtige Heimat“ von Angelika Eder, der vom Haus der Geschichte Baden-Württembergs herausgegebene Band „Untergang und Neubeginn. Jüdische Gemeinden nach 1945 in Südwestdeutschland“, das Standardwerk von Jacqueline Giere „Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste“ über jüdische Erziehung und Kultur, oder die Arbeit über das DP Camp Belsen „Öffnet die Tore von Erez Israel“ von Nicola Schlichting. Obwohl Frankfurt „eine besondere Rolle in der jüdischen Geschichte der Bundesrepublik einnahm“, so die Autoren, sucht man im Literaturverzeichnis auch nachfolgende im Herbst 2011 publizierten grundlegende Werke vergeblich: „Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frankfurt“ von Jim Tobias sowie „Es war richtig wieder anzufangen. Juden in Frankfurt am Main seit 1945“ von Helga Krohn.

Das sind kleine Wermutstropfen, die das positive Gesamturteil über ein eindrucksvolles und schon lang erwartetes Überblickswerks allerdings kaum eintrüben. Lesen! – (jgt)

Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012, 542 Seiten, 34,00 €, Bestellen?

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