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„Nazi Madness“

Frühe Augenzeugenberichte der Novemberpogrome 1938 sind gefunden und veröffentlicht worden…

Von Anke Schwarzer

Wer daran interessiert ist, kann noch in den meisten Städten Deutschlands von Augenzeugen erfahren, was in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschehen ist. Auf den Gedenkveranstaltungen der jüdischen Gemeinden und Opferverbände berichten Überlebende über die Novemberpogrome, die hier und da verharmlosend "Reichskristallnacht" genannt werden. Sie erzählen die Ereignisse aus der Sicht eines Kindes, das sie damals waren: etwa dass der Brandgeruch über der Stadt lag, wie sie die Synagogentrümmer voller Russ auf dem Weg zur Schule entdeckten oder wie der Vater der Familie versteckt wurde, um der Verhaftung zu entgehen. Und sie schildern die Vorgänge heute im Lichte dessen, was folgte: der fast endgültigen Vernichtung des europäischen Judentums.

augenzeugenberichteUta Gerhardt und Thomas Karlauf haben nun Berichte von Augenzeugen herausgebracht, die ihre Erfahrungen bereits im Frühjahr 1940 zu Papier brachten. Die Pogrome hielten sie für den Gipfel der Nazi-Barbarei, dabei sollte es nur ein "mattes Vorspiel" dessen sein, was den Juden in Deutschland und dem besetzten Europa widerfahren sollte, wie der Historiker Saul Friedländer im Vorwort schreibt. In der Novembernacht ermordeten die Nationalsozialisten etwa 400 Juden oder trieben sie in den Tod, verhafteten jüdische Männer und Jungen, zerstörten Synagogen, Geschäfte, Wohnungen und Besitz von Juden, stahlen Geld und Schmuck. Die Zahl der in den Konzentrationslagern umgekommenen Juden der "Novemberaktion" wird auf 1000 geschätzt, so Thomas Karlauf, der in der Einleitung Fakten und Hintergründe rund um das Pogrom liefert.

21 Frauen und Männer aus Österreich und Deutschland schildern — jeder in seiner eigenen Sprache — was sich schon vor Herschel Grynszpans Attentat auf Ernst vom Rath unter der NSDAP zusammengebraut hatte, was sie während des organisierten Pogroms erlebten: "Am Nachmittag hatte man eine Anzahl alter Leute mit Revolvern in einen kleinen Flusslauf getrieben, wo sie — immer bedroht von Revolvern — zum Gaudium des Mobs stundenlang in dem eiskalten fliessenden Wasser stehen mussten", schrieb der Kinderarzt Siegfried Wolff aus Eisenach, der 1939 nach Holland ausreiste und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Zwei Kinder aus einem Heim seien totgeschlagen, die Thora-Rollen zertrampelt worden. Der Wiener Rechtsanwalt Siegfried Merecki, dem man zuvor die Ärmel seines Wintermantels zur Hälfte abgeschnitten hatte, notierte über einen SA-Mann: "Er trug mir auf, seine Stiefel zu putzen. Sie waren sehr rein, ich entnahm, dass ich nicht der Erste war, dem diese Ehre zuteil wurde. Ich rieb aus Leibeskräften".

Fast alle Autoren erwähnen auch Freunde und Nachbarn, die sie nach der NS-Rasseneinteilung als "arisch" bezeichnen und die sich abgewandt haben — die sich in manchen Fällen aber auch sehr hilfsbereit zeigten. Siegfried Wolffs Ansicht nach seien viele Deutsche, egal ob arm oder reich, erbittert über die "kulturlosen Ausschreitungen" gewesen und hätten erkannt, "welch Irrsinn es war, jede Tube zu sammeln und dann Riesenwerte zu zertrümmern und wertlos zu machen". "Freilich — die einzige wirkliche und wirksame Konsequenz, zu Millionen aus der Partei auszuscheiden, hat niemand gezogen", schrieb er.

Die nicht-jüdische Autorin Marie Kahle ist auch in der Textsammlung vertreten: Weil sie ihre jüdischen Freunde besuchte und ihre Söhne beim Aufräumen der demolierten Läden halfen, wurde Marie Kahles Familie bedroht: "Verrat am Volke!", hiess es. Ihren Mann, den Bonner Orientalisten Paul Kahle, beurlaubte man sofort, den Sohn Wilhelm schlossen die Nationalsozialisten von der Hochschule aus — "wegen des eines Studenten unwürdigen Verhaltens gelegentlich der Protestaktion gegen die jüdischen Geschäfte", wie es in dem Disziplinar-Urteil hiess. Marie Kahle verliess das Haus mit dem Fahrrad und fand Unterkunft in einem Nonnenkloster: "Ich wollte nicht vor den Augen meiner Kinder totgeschlagen werden und war ja auch nur eine Gefahr für meine Familie", schrieb sie.

Die authentischen Texte bestechen durch ihre Detailfülle und die unterschiedlichen Erlebnisse, die sich auf so manche Art aber auch wieder gleichen — etwa, dass die Feuerwehr nur die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen der Flammen geschützt habe, die Synagogen aber habe brennen lassen. Das macht sie überaus anschaulich und holt die Ereignisse rund um die Novemberpogrome sehr nah heran.

Auch wenn man schon vieles gehört und gelesen hat: Es ist eine schier unglaubliche Sammlung dessen, was den Nationalsozialisten alles in den Sinn kam, um Juden zu demütigen, zu berauben, zu verletzen, zu verhaften und totzuschlagen. Die Augenzeugen beschreiben in vielschichtiger Weise nicht nur die Akribie der Zerstörungsarbeit, sondern auch das Verhalten der Nachbarn und Freunde, die Zeit in der Haft, in den Konzentrationslagern und die Fluchtvorbereitungen. Ab und zu erhellt sich der dunkle Wahn und zwar dann, wenn es gelang, dem Nazi-Mob ein Schnippchen zu schlagen: ein Gefangener, der einen Geistesgestörten mimte, um aus der Haft entlassen zu werden; ein Ehepaar, das sich am Bettlaken aus dem rückwärtigen Fenster hangelte, während vorne die Haustür aufgebrochen wurde.

"So endete mein Leben in Deutschland, und ich bedaure nicht, dass ich Deutschland verlassen habe, um in einem freien Land als freier Mensch leben zu können", schliesst der Schuhhändler Harry Kaufman aus Essen seinen Bericht und ähnlich wie er äussersten sich fast alle am Ende ihrer Texte. Die meisten Autoren waren kurz nach dem Pogrom ausgewandert.

Über ein halbes Jahrhundert lagen ihre Berichte in einem verstaubten Pappkarton in einer Bibliothek der Harvard Universität. Aufgestöbert hat ihn die Soziologin Uta Gerhardt, die über den Sozialwissenschaftler Edward Hartshorne forschte. Dieser hatte gemeinsam mit einem Psychologen und einem Historiker zu wissenschaftlichen Zwecken ein Preisausschreiben zum Thema "Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933" ausgerufen. Zwar meldeten sich auch ein schlesischer Koch und ein in den USA arbeitendes Au-pair-Mädchen, die vom neuen Deutschland schwärmten, doch die grosse Mehrzahl der Berichterstatter waren Juden, die Deutschland und Österreich nach den Pogromen verlassen hatten. Die meisten Texte kamen aus den USA, einige aus Grossbritannien, Palästina und Shanghai. Etwa ein Viertel der Berichte stammte von Frauen. Von den rund 250 Manuskripten aus aller Welt hatte Hartshorne 1941 eine Handvoll ausgewählt, um sie unter dem Titel "Nazi Madness: November 1938" zu veröffentlichen. Doch dazu kam es nicht. Kurz vor Kriegseintritt der USA begann er für die Regierung zu arbeiten. Der entschiedene Nazi-Gegner kam zur kämpfenden Truppe, erstellte Lageberichte, beschäftigte sich mit der "Reeducation" und leitete später Entnazifizierungen an deutschen Hochschulen. Ab 1944 hatte er auch in einer Expertengruppe Memoranden über die Konzentrationslager in Deutschland erstellt, die 1945 dem Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg als Beweisstücke dienten. 1946 wurde Hartshorne auf der Autobahn bei Nürnberg mit einen Kopfschuss durch das Autofenster ermordet. Vermutlich weil er im Begriff war, Informationen über die so genannte Ratline an die Sowjetunion weiterzugeben. Unter den hochrangigen Nationalsozialisten, die mit Unterstützung des amerikanischen Counter Intelligence Corps (CIC), über eine Route des Vatikans nach Südamerika geschleust wurde, befand sich Klaus Barbie, der "Schlächter von Lyon". Unter dem Namen Altmann war er — ebenso wie Hartshorne — in Marburg ansässig.

Uta Gerhard beleuchtet Hartshornes Schaffen näher. Gemeinsam mit Thomas Karlauf hat sie die Berichte der Augenzeugen ediert und biographische Anmerkungen zu den Verfassern gemacht, da einige damals aus Angst unter Pseudonym und mit anonymisierten Namens- und Ortsangaben gearbeitet haben. Die Texte spiegeln die Gedanken jüdischer Menschen kurz nach 1938 und geben einen Einblick in den Kenntnisstand und die Ahnungen, die die Autoren zu dieser Zeit von den antisemitischen Vernichtungsplänen der Nationalsozialisten hatten. Das Buch dokumentiert die Novemberpogrome so detailreich, anschaulich und konzentriert wie kaum ein anderes.

Uta Gerhardt und Thomas Karlauf (Hrsg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938.
Propyläen, Berlin 2009. 368 Seiten, 22,90 Euro, Bestellen?

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