Kategorien / Themen

Werbung

Die Juden im Wiener Arbeiterbezirk Simmering

Wer an historische Ansiedlungsgebiete der Juden in Wien denkt, tippt meistens auf die so genannte "Mazzes-Insel" zwischen Donaukanal und Donau. Tatsächlich aber haben Juden auch das Antlitz des entlegeneren Arbeiterbezirkes Simmering mitgeprägt. In allen Schichten vertreten, vielfach der Sozialdemokratie zugetan, demonstrierten sie in der Zwischenkriegszeit ihren Selbstbehauptungswillen; unter anderem im "Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs". Ein berührendes Buch entreisst jetzt ihre Schicksale dem Vergessen…

Rezension von Heimo Gruber

exenbergerDer Autor Herbert Exenberger, langjähriger Bibliothekar des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und jahrzehntelanger Mitarbeiter des Museums des Wiener Arbeiterbezirkes Simmering, hat bereits Dutzende von Detailstudien zur Geschichte seines Herkunftsbezirkes veröffentlicht. Schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann er mit der Arbeit an einer Geschichte der Simmeringer Juden. Das vorliegende Buch kann aufgrund seines Umfanges, der Gründlichkeit der aufgewendeten Recherchen, des Materialreichtums und der anschaulichen Dokumentation und Rekonstruktion früheren jüdischen Lebens mit Recht als Lebenswerk gewertet werden.

Auf dem Gebiet des späteren Simmering finden sich schon während des Mittelalters erste jüdische Spuren. Eine nennenswerte Zuwanderung erfolgte aber erst im 19. Jahrhundert.
Als sich ab 1848 die ersten Juden in Simmering niederliessen, bildete der heutige 11. Wiener Gemeindebezirk noch eine kleine selbständige Gemeinde. Es waren Zuwanderer aus dem damals ungarischen Karlburg (Oroszvar, heute Rusovce), die von judenfeindlichen Ausschreitungen während des Revolutionsjahres im benachbarten Pressburg alarmiert worden waren.

In den folgenden Jahren zogen weitere jüdische Familien aus Karlburg nach Simmering und bildeten den Grundstock der entstehenden jüdischen Gemeinde, deren restliche Angehörige sich vorwiegend aus anderen ungarischen Orten rekrutierten. 1863 wurde die erste Israelitische Betgenossenschaft, 1875 eine jüdische Religionsschule und 1882 eine "Chewra Kadischa" (Beerdigungsbruderschaft) gegründet. Einen eigenen Rabbiner konnte sich die bescheidene Gemeinde, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit etwas mehr als 500 Personen ungefähr 1,5% der Simmeringer Wohnbevölkerung bildete, nicht leisten.

Als Resultat der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert expandierte auch Simmering; katastrophale Wohnverhältnisse waren die Folge. Der jüdische Bevölkerungsteil, der in Simmering stets alle sozialen Schichten umfasste, war davon ebenso betroffen. Es ist der unschätzbare Verdienst der Arbeit Herbert Exenbergers, dass er nicht nur die grossen Linien der Geschichte verfolgt, sondern persönliche Einzelschicksale der Vergessenheit entreisst und den Menschen wieder Namen, Gesichter und Stimmen gibt. Exenberger erlaubt sich, genau hinzuschauen und hat in mehr als zwanzigjähriger mühevoller Kleinarbeit biographische Daten und Lebensumstände, Wohnadressen (incl. aller Umzüge), berufliche Laufbahnen und familiäre Situationen rekonstruiert und zusätzlich mit einer Fülle historischer Fotos bereichert. Unter den Simmeringer Juden gab es Branntweinschänker, Hausierer, Pferdehändler, Näherinnen, Weinhändler, Schneider, Gärtner, Steinmetze, Arbeiter der verschiedensten Branchen, Tramwaybedienstete, Gastwirte, Ärzte: die genannten Berufe repräsentieren nur eine Auswahl des vielfältigen Spektrums. Entgegen weit verbreiteter Klischeevorstellungen zählte das Gros der Juden des Arbeiterbezirkes Simmering eher zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen.

1891 wurde Simmering nach Wien eingemeindet und 1899 erhielt das jüdische Leben im Bezirk mit der Einweihung der neu errichteten Synagoge in der Braunhubergasse ein auch nach aussen sichtbares Zeichen stolzer Präsenz. Aber zugleich regten sich bereits deutliche Zeichen von Antisemitismus. 1885 wurde ein jüdischer Lumpenhändler ermordet und die Christlichsozialen, die ab 1896 den Simmeringer Bezirksvorsteher stellten, schreckten auch vor Ritualmordpropaganda nicht zurück. Exenberger beschreibt anschaulich, wie sich das auf die Betroffenen auswirkte.

Der Dampfmühlenbesitzer Friedrich Vogel, eine herausragende Persönlichkeit der Simmeringer Juden, stellte sich dieser Entwicklung mutig entgegen. Vogel entfaltete eine Vielzahl wohltätiger Aktivitäten für Arme und war in zahlreichen Vereinen engagiert; als Mitglied der Bezirksvertretung und des Bezirksschulrates, als Funktionär der Handels- und Gewerbekammer und als Vorstand der Wiener Kultusgemeinde war er gleichermassen ein Mann der Öffentlichkeit wie des jüdischen Gemeindelebens und verkörperte noch die Hoffnungen und Verheissungen des Liberalismus. 1900 nahm auch der "Erste Simmeringer Israelitische Frauen-Wohltätigkeits-Verein" seine Tätigkeit auf.

Im Ersten Weltkrieg befanden sich unter den 300.000 Juden, die in der österreichisch-ungarischen Armee dienten, auch die Simmeringer Juden, die einige Tote zu beklagen hatten. Viele der Überlebenden fielen später der Shoa zum Opfer. Pogrome im Osten trieben jüdische Kriegsflüchtlinge nach Wien, wo sie abermals zu Objekten antisemitischer Angriffe wurden. Während des Ersten Weltkrieges war in Simmering für einige Tausend Verwundete ein Kriegsspital errichtet worden, das später in die Barackensiedlung Hasenleiten umgewandelt wurde; an deren jüdische Bewohnerinnen und Bewohner erinnert Exenberger mit berührenden und erschütternden Lebensläufen.

Zur Zeit der Ersten Republik wurde Simmering zu einer politischen Hochburg der Sozialdemokratie, die hier die meisten Stimmen – darunter auch von der Mehrzahl der jüdischen Wählerinnen und Wähler — erhielt. Etliche Simmeringer Juden waren als aktive Mitglieder und Funktionäre in der Sozialdemokratie engagiert und blieben es zum Teil auch nach 1934 in der Illegalität.

Mit Jakob Ornstein wurde ein prominenter Simmeringer Jude 1919 zum Präsidenten der "Union österreichischer Juden" gewählt, die bis zu Beginn der dreissiger Jahre die Politik der Israelitischen Kultusgemeinde bestimmte. Auch der "Zionistische Landesverband für Österreich" und die "Vereinigung werktätiger Juden Wiens" unterhielten in Simmering Bezirksgruppen.

Im Sportleben des Bezirkes spielten Juden als Ringer und vor allem als Funktionäre des bedeutendsten Fussballvereines "Erster Simmeringer Sport-Club" eine gewichtige Rolle.
Christlichsoziale und Grossdeutsche entfalteten weiterhin ihre antisemitische Agitation, deren Früchte bald darauf die Nationalsozialisten ernten und in ihrer Politik zu einem mörderischen Höhepunkt vorantreiben konnten. Obwohl die Stimmenanteile der NSDAP in Simmering weit unter dem Wiener Durchschnitt lagen, zeichneten sich die Nationalsozialisten dort durch besondere Militanz aus. Beim Naziüberfall auf das Simmeringer Arbeiterheim im Oktober 1932 wurde die Fassade des Hauses mit der Parole "Juda verrecke" beschmiert. Es war kein Zufall, dass im selben Jahr als Ausdruck selbstbewusster Gegenwehr der "Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs" mit einer besonders aktiven Simmeringer Bezirksgruppe gegründet wurde.

1938 entlud sich der barbarische Furor konzentriert und in beschleunigter Form. Öffentliche Demütigungen, Verhaftungen, Beraubungen, Verluste von Arbeits- und Schulplätzen, Vertreibung aus Wohnungen und "Arisierung" der Geschäfte: Herbert Exenberger dokumentiert das grauenhafte Geschehen für den lokalen Bereich und gibt den Opfern und Tätern Namen und den Schauplätzen Adressen. Im Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge in der Braunhubergasse niedergebrannt. Die Barackensiedlung Hasenleiten wurde als Lager für die aus den Wohnungen vertriebenen Jüdinnen und Juden verwendet. Das Areal des jüdischen Sektors des Zentralfriedhofes wurde in den folgenden Jahren für viele zur alltäglichen Zufluchtsstätte und zum Treffpunkt für ausgegrenzte jüdische Jugendliche.

Wer sich nicht ins Exil retten oder als "U-Boot" untertauchen konnte, musste den Weg zur Vernichtung antreten; im Buch finden sich mit ihren Lebensdaten, Wohnadressen und Deportationsorten die Namen aller Simmeringer Juden, die Opfer der Shoa wurden. 1944 wurde in Simmering das Nebenlager Saurer-Werke des Konzentrationslagers Mauthausen eingerichtet, dessen Häftlinge zu Kriegende in einem Evakuierungsmarsch nach Steyr getrieben wurden, dem noch viele Menschen — darunter Juden aus etlichen europäischen Ländern — zum Opfer fielen. Ebenfalls 1944 wurden zur Zwangsarbeit verschleppte ungarische Juden in Lagern des Gas- und Elektrizitätswerkes Simmering und auf dem Gelände der Saurer-Werke interniert. Auch ihnen hat Herbert Exenberger ein Denkmal gesetzt. Es zählt zur traurigen Ironie der Geschichte, dass während des letzten Kriegsjahres in Simmering mehr Juden unter Bedingungen von Terror und Gefangenschaft festgehalten wurden als zuvor dort gelebt hatten.

Von den überlebenden Simmeringer Juden kehrten nur wenige ab 1945 nach Österreich zurück und im Bezirk konnte sich kein Gemeindeleben mehr entfalten. Zu manchen über die ganze Welt verstreut lebenden Vertriebenen, bzw. zu deren Nachkommen konnte Herbert Exenberger noch Kontakt aufnehmen. Einige von ihnen hatten in den alliierten Armeen gekämpft und einen aktiven Beitrag zur Befreiung Europas geleistet und auch dabei — wie der frühere Angehörige des "Schutzbunds" (die Verteidigungsorganisation der sozialdemokratischen Partei) Julius Bindel — oftmals mit dem Leben bezahlt.

Die neuzeitliche Geschichte der Juden Simmerings ist eine kurze und währte weniger als ein Jahrhundert. Sie begann mit grossen Hoffnungen auf Integration und Emanzipation und endete in unermesslichem Leid. Sich jener Geschichte anzunähern, heisst auch eine Ahnung von den monströsen Dimensionen dieses Verlustes zu gewinnen. Der notwendigen Erinnerung hat Herbert Exenberger mit seinem Buch einen unschätzbaren Dienst erwiesen.

Herbert Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer. Die jüdische Gemeinde in Simmering 1848 bis 1945
Wien: Mandelbaum Verlag 2009. 384 Seiten. ISBN 978-3-85476-292-8, Euro 24,90 [Bestellen?]
(Reihe Jüdische Gemeinden — Hg. von Eleonore Lappin-Eppel im Auftrag des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs)

Nachruf:
Herbert Exenberger (1943-2009)

Prof. Herbert Exenberger, über drei Jahrzehnte lang Bibliothekar des DÖW, Autor und engagierter Sozialdemokrat und Antifaschist, verstarb in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2009 im Alter von 66 Jahren…

1 comment to Die Juden im Wiener Arbeiterbezirk Simmering