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„Aktion 1005“ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten

Im Aphorismus "Unmass für Unmass" in den Minima Moralia schreibt Theodor W. Adorno: "Was die Deutschen begangen haben entzieht sich dem Verständnis, zumal dem psychologischen, wie denn in der Tat die Greuel mehr als planvoll-blinde und entfremdete Schreckmassnahmen verübt zu sein scheinen denn als spontane Befriedigungen." Der Kritiker war sich im Klaren darüber, dass antisemitischer Wahn, der — damals wie heute — das Heil der Welt im Tod der Juden sucht, nicht mittels Vernunft begriffen werden kann. Vielmehr entzieht sich Antisemitismus dieser durch seine Irrationalität. Was der Vernunft gleichsam brutal entgegenschlägt, ist die Praxis des eliminatorischen Antisemitismus, die, als Adorno diesen Gedanken formulierte, gerade erst unter Aufbietung enormer militärischer Mittel und Millionen von Menschenleben gestoppt worden war…

Von Markus Bitterolf

hoffmannUm die Praxis dieses Wahns, genauer seine letzte Phase, geht es in "Das kann man nicht erzählen" "Aktion 1005"™ — Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten von Jens Hoffmann. Hoffmanns Studie handelt von dem was im Jargon der Nationalsozialisten "Enterdung" genannt wurde — ein technisch-bürokratischer Begriff, in dem — wie bei "Entjudung" — das Grauen in wenigen Buchstaben zusammenschiesst. Real bedeutete er, dass vornehmlich Juden durch SS-Sonderkommandos gezwungen wurden, die durch den Vernichtungskrieg der Wehrmacht und der Einsatzgruppen an vielen Orten in Osteuropa entstandenen Massengräber aufzulösen.

Diese "zur geheimen Reichssache" erklärte und als "Aktion 1005" codierte Spurenbeseitigung weist nach Einschätzung Hoffmanns "die für viele Verbrechen der Nazideutschen typische Mischung aus Rationalität und Wahn auf. Wer Beweise beseitigt, um seiner Strafe zu entgehen oder das zu erwartende Strafmass zu mildern, handelt verbrecherisch und rational." Mitentscheidend für dieses Vorgehen war die veränderte Kriegslage im Osten Europas. Ab 1942 ordnete das Reichssicherheitshauptamt deswegen das Ausgraben und Beseitigen der Überreste von Hunderttausenden durch Erschiessen oder Vergasen ermordeter jüdischer Männer, Frauen und Kinder an.

Trotz aller Geheimhaltung — die Pläne und Berichte zur "Aktion 1005"™ wurden fast ausschliesslich mündlich weitergegeben — gelang es Hoffmann die verstreuten Informationen aus Archiven, Gerichtsakten und Zeugnissen der wenigen Überlebenden zusammen zu tragen und so die Vorgehensweise einzelner Sonderkommandos detailliert zu rekonstruieren. Dabei zeichnet sich Hoffmanns Herangehensweise in Bezug auf die Aussagen der Täter wie auch gegenüber den Darstellungen der Überlebenden durch eine aufklärerische Intention aus. Resultat seiner mehrjährigen Arbeit ist ein 400seitiger Bericht, der dem Leser einiges abverlangt. Es ist ein Buch, das man sich Absatz für Absatz zumuten muss, wobei sich das Muss auf ein antifaschistisches Erkenntnisinteresse bezieht, das letztlich nur einen Schluss zulässt: solches oder ähnliches nie wieder möglich werden zu lassen.

Dass es möglich wurde lag an der aktiven und passiven Mitwirkung einer ganzen Gesellschaft, die sich bis auf Wenige zur deutschen Volksgemeinschaft verschworen hatte, um die "Staatsidee Adolf Hitlers", wie Joseph Goebbels sich einmal ausdrückte, in die Tat umzusetzen. Organisiert wurde ein Vernichtungskrieg über Europa hinaus, dessen Ziel die Eliminierung der jüdischen "Gegenrasse" war, ein von Millionen Deutschen staatlich organisiertes Inferno. Diese Hölle nannte ein SS-Arzt, der Universitätsprofessor und Doktor der Medizin und Philosophie Johann Paul Kremer, mit Bezug auf Auschwitz den "Anus mundi". In dieser Bezeichnung spiegelt sich sowohl der Fakt, dass das Verbrennen von zig Tausenden Leichen bestialischen Gestank hervorruft, wie den darin enthaltenen antisemitischen Gedanken der Reinigung der Welt von einer imaginierten "jüdischen Weltpest". Nichts mehr sollte an die Juden erinnern. — "Aktion 1005" war Teil dieses unglaublichen Plans.

Jens Hoffmann: „Das kann man nicht erzählen“. „Aktion 1005“ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten
Konkret Literatur Verlag 2008, 432 S., 29,80 Euro, Bestellen?

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