Tel Aviv, Anfang der 90er Jahre. Helena, Elisabeths Mutter ist gestorben. Zur Schiwa kehrt Elisabeth, die vor Jahren von zu Hause weggegangen und inzwischen verheiratet und Mutter von 2 Kindern ist, in die Wohnung ihrer Mutter, zurück…
In dem kleinen Tel Aviver Viertel, in dem sie aufgewachsen ist, versuchten Überlebende der Shoah "von dort", in den 50er und 60er Jahren für sich und ihre Kinder ein neues Leben "hier" aufzubauen:
"Anfang der fünfziger Jahre entstand im Saat Israel ein neues Land, das Land "hier". In diesem Land lebte ein verfolgtes Volk, der aus dem Land "dort" gekommen war. Seine Einwohner hatten sich hier nicht aus freien Stücken eingefunden, ihnen war nichts geblieben als eine fremde Sprache, seltsame Bräuche, Erinnerungen und Alpträume. Nachdem das Land dort wüst und leer war, befahlen sie sich selbst ein Schöpfungswerk und erschufen sich von neuen eine Welt. Im Land hier lebte auch Helena, meine Mutter, nachdem sie im Zweiten Weltkrieg gestorben war, und hier zog sie mich alleine auf.
Anfang der neunziger Jahre, nachdem meine Mutter zum zweiten Mal gestorben war, versammelten sich jene, die im Land hier noch übriggeblieben waren, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, und erweckten diejenigen wieder zum Leben, die nicht mehr waren.
Und dieses Land, das mit seinen Toten schon seit vielen Jahren dahin stirbt, ist noch einmal auferstanden: Nur sieben Tage lang war es noch einmal da, das unbekannte Land. Das Land, das mir Heimat und Familie war. Und das ist seine Geschichte." (Vorwort von L. Doron)
Die Eltern sind immer noch in der Vergangenheit befangen und ihren Alpträumen gefangen:
"An einem Herbstmorgen, der erste Regen fiel, betrat ich mit meiner Mutter die Bankfiliale in unserem Viertel. "Ich möchte für meine Tochter ein Sparkonto eröffnen" sagte sie zu dem Bankangestellten und fügte stolz dazu: "Für die Universität".
Der Angestellter, ein junger Mann, erkundigte sich höflich nach dem Namen meiner Mutter, und sie sagte: "Helena, schreiben Sie Helena" und dann buchstabierte sie auch den Familiennamen.
"Und die Adresse ?" fragte der Angestellte und schaute sie über seine Brille hinweg an.
"Auschwitz, Baracke 2, gegenüber vom Krematorium" antwortete sie.
Der Angestellte erstarrte. Ich stand neben meiner Mutter, erloschen.
Vielleicht wollte sie ihre Worte abschwächen, denn sie fügte hinzu: "Manchmal bin ich in Krakau, manchmal in Plaszów, manchmal in Buchenwald, aber am Ende, Herr Bankangestellter, bin ich immer in Auschwitz".
Alle Kinder, mit denen Elisabeth gross geworden ist, haben so wie sie schon vor vielen Jahren das Viertel verlassen. Sie wollten die Ängste und Alpträume ihrer Eltern hinter sich lassen und ein normales Leben führen. Doch auch hier herrscht Krieg, Jom Kippur Krieg:
"Gadi ist gefallen", sagte ich.
Schweigen breitete sich aus. Meine Mutter kam in mein Zimmer, setzte sich auf einen Stuhl und schaute mich mit feuchten Augen an. Sie trank einen Schluck Wasser und sagte dann: "Die Deutschen haben wir besiegt, nicht mit Kanonen, nicht mit Panzern und nicht mit Flugzeugen. Wir haben sie besiegt, in dem wir Familien gründeten und Kinder auf die Welt gebracht haben. Und jetzt, da man unsere Kinder tötet, verlieren wir auch den Krieg von damals."
Und da, in meinem Zimmer, sie auf dem Stuhl und ich auf dem Bett, hörte ich ihr zum ersten Mal in meinem Leben zu — und verstand."
Die Trauergäste, das Viertel, die Wohnung der Mutter mit allen vertrauten Gegenständen, die alten Fotos und die Erinnerungen bringen Elisabeth noch einmal in die Welt ihrer Kindheit. Sie, die keine Verwandte hatte, ausser ihrer Mutter, erkennt nach Ende der sieben Tage, dass sie doch in einer Familie aufgewachsen ist: das Viertel hier war einmal eine Familie. Es wird ihr klar, als die Nachbarin Sonia am Ende der Trauerzeit zusammenfasst: "Die Schiwa war wirklich sehr gelungen, nur schade, dass Helena nicht dabei war."
Lizzie Doron: Es war einmal eine Familie
Jüdischer Verlag im Suhrkamp 2009, Geb., 142 Seiten
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