Lizzie Doron:
Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?
Jüdischer Verlag 2004
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Lizzie Doron:
Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?
"Warum ist deine Tochter so blaß und so dünn? Und was
soll diese Diaspora-Kleidung? Und warum, sag mir, bist du nicht vor dem
Krieg gekommen?", fragt Marek, ein Mann in blauen Hemd, kurzen Hosen und
hohen Stiefeln, der nach Kühen roch, als Helena und Elisabeth ihn
besuchen, um herauszufinden, ob sie verwandt sind.
Elisabeth ist 1953 in Tel Aviv geboren. Ihre Mutter Helena ist ihre ganze
Familie, sonst gibt es keine Verwandte, den Vater hat sie nie kennen
gelernt. Helena ist nicht wie andere Mütter, sie kommt von "dort" und
lebt jetzt "hier", in der großen Stadt, in dem grauen Viertel, in einem
zweistöckigen Haus, ein anderes Leben.
Lizzie Doron erzählt in Episoden, die eindringlich und gleichzeitig
aberwitzig sind, 30 Jahre (1960 bis 1990) aus dem Leben ihrer Mutter,
einer Überlebenden der Shoah, einer mutigen und kämpferischen Frau, die
mit Witz und Einfallsreichtum ihre Würde zu wahren weiß. Helena
vermengte Phantasie und Realität, Unbestimmtheit und Klarheit, sie
löschte Fakten und schuf Tatsachen und baute sich eine eigene Welt.
"Der Sederabend
Helena richtete die Wohnung für das Ereignis
her. Sie machte das Licht in den Zimmern aus, schloß die Fensterläden,
machte das Treppenhauslicht über unserer Tür an und schloß uns ein; die
Nachbarn sollten denken, wir seien schon weggegangen. Sie hatte ihre
klare Regeln für das Essen. Sie füllte die Sederschüssel mit Mazzot,
Eiern, Sellerie und allem, was die Haggada verlangt, aber wenn das
Bitterkraut an der Reihe gewesen wäre, sagte sie: "Bitteres habe ich
schon genug für sieben Generationen gegessen", und jedes Jahr legte sie
statt Bitterkraut ein Stück Kuchen in die Sederschüssel. "Koscher für
Pessach" versicherte sie mir.
Und für jeden von dort hatte Helena hier einen Stuhl hingestellt sowie
Teller, Messer, Gabel, Serviette und ein Seelenlicht.
Am nächsten Tag erzählte sie allen, was für einen wunderbaren Sederabend
sie gefeiert habe und wie interessant es gewesen sei, die ganze Familie
zu treffen.
Jahre danach antwortete sie auf jede Einladung "Danke, Elisabeth, ich
würde gern kommen. Aber du weißt doch, dass ich schon eingeladen bin,
ich habe Verpflichtungen und kann nicht." Weil ich es wusste, kam ich zu
ihr. Und wie immer brannte das Licht draußen, und wie immer war es
dunkel drinnen, und niemand öffnete die Tür."
Kunstunterricht
(Helena zeichnet für ihre Tochter alle Hausarbeiten, weil sie es besser
kann und so will)
"In einer Stunde erzählte der Kunstlehrer von den Pionieren, die durch
ihre Arbeit die Wüste zum blühen gebracht hatten und forderte uns auf,
ein Bild über Landarbeit zu malen. Bei allen Schülern der Klasse
pflanzten Pioniere alle möglichen Früchte und Blumen, während bei Helena
die Erde kahl war, kalt und verschneit, bei ihr blühten nur Namen,
wuchsen Grabsteine und Gräber.
In der letzten Zeichenstunde vor den großen Ferien wurden wir
aufgefordert, das Thema Freiheit zu malen. Helena zeichnete
Stacheldraht, Wachtürme und einen Vogel mit verletzten Flügeln, der
versuchte, sich von der verschneiten Weite hinauf in den grauen Himmel
zu erheben, auf dem in vielen Sprachen das Wort Freiheit stand."
Jahre später trifft Elisabeth den Sohn des Lehrers:
"….seiner Meinung nach sei dieses Bild nicht von seiner Schülerin, sondern
von ihre Mutter, einer Überlebenden der Shoah gemalt worden. Eine Frau,
die er immer treffen und umarmen wollte, aber er habe die Idee
aufgegeben, denn ihre Tochter – und das betonte er – schämte sich
schrecklich für ihre Mutter."
Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen ist ein Buch voller Witz und
Trauer. Die israelische Tageszeitung Ma’ariv schrieb dazu: "Es gibt nur
sehr wenige Bücher, die von der zweiten Generation geschrieben wurden,
den Söhnen und Töchtern der Shoa Überlebenden. Warum bist du nicht vor
dem Krieg gekommen ist das beste von allen." Es gehört inzwischen zu dem
für die israelischen Schulen empfohlenen Lektürekanon.
ee / hagalil.com
02-03-06 |