Lizzie Doron:
Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?
Jüdischer Verlag 2006
Euro 6,50
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Lizzie Doron:
Ruhige Zeiten
Jüdischer Verlag 2007
Euro 7,00
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Lizzie Doron:
Die Stimme der zweiten Generation
Mit großer Empathie für die Leiden der
Shoah-Überlebenden schreibt Doron für ein Israel, das weniger um sich selbst
kreisen soll. Die Zukunft solle man radikal offen denken, sagt die
Schriftstellerin, sie dürfe nicht mit den Traumata der Vergangenheit
verstellt werden.
Von Martin Jander
Am 6. Mai 2007 erhält Lizzie Doron den Bremerhavener Jeanette
Schocken-Literaturpreis.[1]
Die 1953 in Tel Aviv geborene Doron erzähle "ohne Pathos, Lamento und
Bitterkeit" von Überlebenden des Holocaust und ihren Kindern, begründete die
Jury ihre Wahl. Den Preis haben vor der israelischen Schriftstellerin u. a.
Hanna Krall, Louis Begley, Imre Kertész und Georg Tabori erhalten.
Die Bücher Dorons sind in Israel und in Deutschland sehr erfolgreich. Vielen
gilt die Autorin als die Stimme der zweiten Generation. Leider sind bislang
nur zwei ihrer drei in Israel erschienen Bücher in die deutsche Sprache
übersetzt. Deshalb wohl versteht man in der Bundesrepublik nicht so ganz
genau, welche Botschaft Doron vorträgt. Zum Schreiben kam die ausgebildete
Linguistin aus Zufall. Eigentlich, so heißt es in verschiedenen
journalistischen Portraits, habe sie nur einen Text für ihre Tochter
schreiben wollen, die in der Schule einen Aufsatz über ihre Herkunft
verfassen sollte. Daraus sei ihr erstes Buch entstanden.
"Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen?" (Israel 1998/ Bundesrepublik
2004)
Der Titel ihres ersten Buches, so erzählte Doron der Journalistin Sigrid
Brinkmann in einem Portrait für den Deutschlandfunk, referiere ein
Schlüsselerlebnis. 1960 sei ihre Mutter Helena, eine Holocaust-Überlebende,
mit ihr nach Haifa gefahren, um nach überlebenden Angehörigen zu suchen. Ein
Mann, den sie gesucht hatten, weil er wie Dorons Mutter aus Polen stammte
und denselben Familiennamen trug, interessierte sich jedoch nicht für ihr
Schicksal. Er war vor der Shoah gegen den Willen seiner Eltern nach
Palästina ausgewandert und warf das nun den später nach Israel gekommenen
vor. Dorons Mutter Helena fragte er herablassend: "Warum bist Du nicht vor
dem Krieg gekommen?"
Der Titel des Buches beschreibt sein Kernthema. Es erzählt von der Kluft,
die nach der Gründung Israels zwischen den bereits vor dem Krieg
Eingewanderten sowie ihren Kindern und denen sichtbar wurde, die Shoah und
Krieg überlebt hatten und in Israel zunächst nicht heimisch wurden. Das Buch
spiegelt diesen Konflikt in der israelischen Gesellschaft in der Geschichte
der Beziehung zwischen Helena, einer Überlebenden und Elisabeth, ihrer
Tochter. Helena ist nicht wie die Mütter anderer Kinder. Die Vergangenheit
wirkt untergründig in ihr fort. Sie malt z.B. für die Tochter ein Bild. Es
ist eine Hausaufgabe der Schule. Die Kinder sollen ein Bild zum Thema
"Landarbeit" malen. Auf den Bildern der anderen Kinder sieht man Pioniere
und Zitrusfrüchte. Auf dem Bild Elisabeths, das ihre Mutter gemalt hat,
wachsen dagegen Grabsteine in den Himmel.
Die Geschichte der Fremdheit zwischen den vor und nach der Shoah
Eingewanderten ist es jedoch nicht allein, die den Leser in den Bann zieht,
es ist Dorons Erzählweise. Sie begibt sich mit dem Buch auf die Suche nach
dem Alltag der Shoah-Überlebenden nach der Shoah. In "Warum bist Du nicht
vor dem Krieg gekommen" beschreibt Doron eine Überlebende (Helena) durch die
Augen ihrer nach der Shoah geborenen Tochter (Elisabeth). Elisabeth sind
viele Verhaltensweisen Helenas einfach fremd, sie versteht sie nicht,
versucht aber ihren Geheimnissen auf den Grund zu kommen. Schritt für
Schritt erfahren wir so durch die Augen der Tochter was es heißt eine
Überlebende der Shoah zu sein.
Die Romanfigur Helena, sie trägt wahrscheinlich nicht zufällig denselben
Namen wie die Mutter der Schriftstellerin, lehnt vehement
Wiedergutmachungszahlungen von Deutschen ab. Menschen die solche Zahlungen
erhalten, sieht sie als gekauft an und setzt sie auf ihre persönliche Liste
der Unberührbaren. Gegenstände auf denen made in Germany vermerkt ist,
duldet sie in ihrem Haushalt nicht, sie werden zerstört oder
zweckentfremdet. So vergräbt sie zum Beispiel einige in Deutschland
hergestellte Kristallschalen zwischen Brennnesseln und Sauerklee in ihrem
Vorgarten, wo sie als Futternäpfe für die Tiere des Hauses dienen. Doron
zeichnet das Bild einer resoluten Frau, die ihre toten Angehörigen und
Freunde nicht vergessen kann und will, die ihnen mit ihrem Handeln die Treue
hält.
Doron erzählt mit dem erstaunten, neugierigen aber gleichzeitig auch
liebenden Blick einer Tochter. So furchtbar die zu Tage tretenden
Geheimnisse auch sind und so merkwürdig manches Verhalten ihrer Mutter auch
auf den ersten Blick erscheint, die Schriftstellerin lässt keinen Augenblick
irgendeinen Zweifel daran, wem ihre Liebe und ihr Mitgefühl gehören.
"Haita po pa'am Mischpacha" - "Einst gab es hier eine Familie" (Israel 2002)
Lizzie Doron selbst hat sich nach der Schulzeit ganz der Sache Israels
gewidmet. Sie richtete den Blick nicht zurück, sondern nach vorne. In einem
Interview mit Sigrid Brinkmann für den Deutschlandfunk erzählt sie: "Ich
habe keine Bücher über den Holocaust gelesen, keine Fernsehsendungen
geguckt, die das Thema berührten; auch keine Kinofilme. Mit 18 ging ich in
einen Kibbuz. Weit weg in den Golan-Höhen - die 1967 annektiert wurden -
lebte ich als eine Art Pionierin. Ich glaubte an die israelische
Gesellschaft und den Zionismus als den richtigen Weg."
Ihr zweites Buch liegt bislang in deutscher Sprache nicht vor. Leider gibt
es bisher auch keine ausführliche Beschreibung seines Inhalts. In einem
Interview mit der Journalistin Brinkmann hat Doron jedoch erzählt, nachdem
sie ihr erstes Buch 1998 in Israel veröffentlicht habe, hätten Überlebende
der Shoah sie gebeten, über deren Kinder zu schreiben. Zu diesen Kindern
zählten sieben Jungen, mit denen Doron selbst aufgewachsen war, und die 1973
im Jom Kippur-Krieg getötet wurden. Binnen drei Monaten habe sie ihr zweites
Buch geschrieben, sagte die Autorin. Sie habe sich damit von ihrer Kindheit
verabschiedet und von ihrem Beruf als Linguistin.
"Ruhige Zeiten" (Israel 2003 / Bundesrepublik 2005)
Mit dem Tod ihrer Mutter und den Fragen ihrer eigenen Kinder begann die
Autorin eine intensive Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der
Überlebenden der Shoah. Nach "Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen"
hat sich Lizzie Doron diesen Erfahrungen noch in einem weiteren Buch
genähert, es heißt "Ruhige Zeiten". Auch in diesem Buch kommt Doron auf ein
Schlüsselerlebnis der eigenen Kindheit zurück. Die meisten der
Shoah-Überlebenden entschieden sich, so Doron, von ihren Erfahrungen nicht
zu sprechen. An einem Ort ihrer Kindheit war dies jedoch anders. In einem
Frisiersalon, in dem Doron - fasziniert von den Gerüchen von Shampoo,
Nagellack und Brillantine - viele Stunden zubrachte, begannen die Menschen
frei zu sprechen.
Der Journalistin Katharina Sieckmann hat Lizzie Doron - für ein Portrait im
Hessischen Rundfunk - von diesem Frisiersalon in Tel Aviv erzählt: "Eines
Tages kam ich mit einem Reporter hierher, der sehen wollte, wo ich
aufgewachsen war und ich stand vor diesem Friseursalon. Der war so etwas wie
eine psychologische Haltestelle. Die Menschen, die hier her kamen wussten,
dass sie hier von niemandem beurteilt wurden. Hier konnten sie sich eine
völlig neue Biographie, neue Träume kreieren, hier konnten sie endlich frei
sprechen."
In dem Roman "Ruhige Zeiten" erzählt eine Maniküre des Frisiersalons, Leale,
die Geschichten derer, die sich zum Haareschneiden, Föhnen und zur Maniküre
anmelden. Sie hat mehrere Jahrzehnte in dem Salon gearbeitet, nun ist sein
Besitzer, Sajtschik, gestorben und ihr Leben - und damit auch die
Geschichten aus dem Frisiersalon - zieht vor ihrem geistigen Auge an ihr
vorbei. "Ruhig" sind die Zeiten dabei äußerlich schon, die Erinnerungen an
die Shoah sind jedoch permanent gegenwärtig.
Anders als in "Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen" werden die
Geschichten nicht aus der Perspektive einer nach der Shoah geborenen Tochter
einer Überlebenden beschrieben, sondern aus der Sicht Leales, die als Kind
selbst die Shoah überlebte: "Bis heute" – lässt Doron sie sagen – "weiß ich
nichts über meine Familie, ich weiß nicht ob ich Geschwister hatte, ich weiß
nicht, was mit mir war, bevor man mich zu jener Frau brachte, die mich in
jenem Erdloch versteckte."
Deshalb erzählt "Ruhige Zeiten" noch intensiver als "Warum bist Du nicht vor
dem Krieg gekommen?" aus dem Leben von Überlebenden der Shoah. Die
Erzählweise Dorons versetzt den Leser selbst in die Perspektive einer
Überlebenden, die - um sich von dem Nichts, das sich in ihrer Erinnerung
auftut – sich in Träume und Geschichten zurückzieht und sich, wie Doron sie
sagen lässt, auch schon einmal eine Familie erfindet um nicht alleine zu
sein. Bis in die letzten Zeilen des Romans träumt Leale davon, ihre Eltern,
die sie einer polnischen nichtjüdischen Familie übergaben, um ihr Überleben
zu sichern, hätten sie nach dem Krieg wieder gefunden. Dann, so träumt sie,
wäre alles wieder gut geworden. Der letzte Satz des Buches heißt: "Was für
ein schönes Leben hätten wir alle haben können."
Doron erzählt in diesem Buch mit der zutiefst angegriffenen und doch eben
nicht zerstörten Stimme einer Überlebenden, die trotz aller fast
unglaublichen Leiden ihr Leben danach mit Witz und Tücke meistert. Ein
emotional sehr ergreifendes Buch.
"Leb nicht in der Vergangenheit"
Inzwischen arbeitet Doron an ihrem vierten Buch. Über einen Titel ist noch
nichts bekannt. Der Journalistin Sigrid Brinkmann hat sie aber immerhin
schon erzählt, in ihm lasse sie drei Personen, die wie sie zur Zweiten
Generation gehören, über Lebensentwürfe streiten. Nur eine Person halte
daran fest, weiter in Israel zu leben. Sie äußerte die Ansicht, dass 50
Jahre der Auseinandersetzung mit der Shoah ausreichten, man solle nicht
länger mit den Schatten der Vergangenheit behaftet in die Zukunft sehen.
Auch diese Zukunftsvision selbst jedoch hat sie, wie sie berichtet, von
ihrer Mutter Helena: "Sie sagte: Leb' nicht in der Vergangenheit, denn es
hilft dir nicht. Versuch, eine neue Zukunft zu schaffen. Als Kind machte sie
mich verrückt damit. Wir müssen eine neue Seite aufschlagen."
In welche Richtung Doron dabei denkt, lässt sich immerhin erahnen. Im
Interview mit Sigrid Brinkmann sagte sie: "Das Palästinenser- oder
Araber-Problem resultiert aus der grundlegenden Überzeugung, dass dieses
Land den Juden gehört. Ich glaube nicht, dass die Araber unser Hauptproblem
sind. Wir sind so beschäftigt mit unseren Sorgen und Ängsten, dass wir bis
heute der Frage ausweichen, wie viel dieser Gesellschaft die Religion
bedeutet. Aus genau diesem Grund bin ich wenig zuversichtlich. Die
Religiösen gewinnen immer mehr an Gewicht. Als Bürgerin mache ich mir
Sorgen. Die Zukunft müssen wir radikal offen denken. Wir dürfen sie nicht
mit den Traumen der Vergangenheit verknüpfen, mit all unseren Überzeugungen
und Beziehungen als Juden dieser Welt."
Welchen Lebensentwurf der "Zweiten Generation" Lizzie Doron in ihrem
nächsten Buch präsentieren wird bleibt zunächst also noch etwas vage.
Immerhin lässt sich erkennen, dass die Autorin sich eine Lebensmaxime vieler
Shoah-Überlebender zu ihrer eigenen gemacht hat: Trotz der Erfahrung des
Schreckens optimistisch in die Zukunft sehen.
Lizzie Doron:
Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?
Sigrid
Brinkmann über Lizzie Doron, 14.02.2005, Deutschlandfunk-Büchermarkt:
"Die Kluft
zwischen Zionisten und Juden"
Katharina
Sieckmann über Lizzie Doron, 6.3.2006, Hessischer Rundfunk:
"Denkmal für die Überlebenden des Holocausts"
Anmerkung:
Das Kulturamt der Stadt Bremen
schreibt zum Jeanette Schocken Literaturpreis: "Am 06. Mai 1933, vier Tage
früher als im übrigen nationalsozialistischen Deutschen Reich, wurden auf
dem Marktplatz in Bremerhaven unter öffentlichem Beifall Bücher verbrannt.
Dieses Tages soll durch die Stiftung eines Literaturpreises gedacht werden.
Er erhält den Namen "Jeanette Schocken Preis - Bremerhavener Bürgerpreis für
Literatur". Mit der Namensgebung wollen die Initiatoren, ein gemeinnütziger
Verein, und die Stadt Bremerhaven nicht nur an die Bücherverbrennung und die
Vernichtung des Geisteslebens durch den Nationalsozialismus, sondern auch an
das Schicksal all jener Menschen, die vor der Barbarei der
Nationalsozialisten flohen oder ihr zum Opfer fielen, erinnern. Die
Hafenstadt Bremerhaven war für viele Verfolgte die letzte Station in
Deutschland auf der Flucht ins Exil. Die Bremerhavener Kaufmannsfamilie
Schocken bot, solange sie konnte, den Verfolgten Zuflucht. Jeanette Schocken
wollte mit ihrer kranken Tochter nicht fliehen. Beide wurden am 17. November
1941 gemeinsam mit anderen Bremerhavener Bürgern jüdischen Glaubens nach
Minsk deportiert und dort ermordet. So heißt es im Statut: "Der
Literaturpreis, der ihren Namen trägt, soll ein Zeichen setzen gegen Unrecht
und Gewalt, gegen Hass und Intoleranz. Mit dem Bekenntnis zur verbotenen und
verbrannten, zur unterdrückten und ausgegrenzten Literatur verbindet der
Preis die Ermutigung an alle schreibenden Künstler, deren Literatur für
dieses Bekenntnis steht, und die deshalb der Förderung, Hilfe und
Anerkennung bedürfen."
hagalil.com
27-02-07 |