Lizzie Doron:
Der Anfang von etwas Schönem
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007
Euro 18,80
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Lizzie Doron:
Warum bist du nicht vor dem
Krieg gekommen?
"Warum ist deine Tochter so blaß und so dünn? Und was soll
diese Diaspora-Kleidung? Und warum, sag mir, bist du nicht vor dem Krieg
gekommen?", fragt Marek, ein Mann in blauen Hemd, kurzen Hosen und hohen
Stiefeln, der nach Kühen roch, als Helena und Elisabeth ihn besuchen, um
herauszufinden, ob sie verwandt sind... |
Die Last des Holocaust:
Schweig still, mein Kind, hier wachsen Gräber
Von Sigrid Weber
Jungle World
41 vom 11. Oktober 2007
Ob sie mit Antiquitäten zu tun habe, fragt der
Zollbeamte am Flughafen, als er die Marmorsteine in ihrer Reisetasche
sichtet. Nein, mit Verrückten, sagt Amalia, was wahr ist und falsch. Die
Steine stammen von dem 1942 von den Nazis zerstörten jüdischen Friedhof des
polnischen Städtchens Ustrzyki.
Seine Ausgrabung ist der Auftakt eines Projekts zur Wiederbelebung des
polnischen Judentums. Hitler sei erst an dem Tag besiegt, an dem die Juden
zurückgekehrt seien, findet Chesi, der das Projekt leitet. Chesi ist Amalias
Weggefährte aus Kindheitstagen, in den sie sich 30 Jahre später verliebt.
Doch den "Anfang von etwas Schönem", so seine vielversprechenden Worte für
ihre neue Liebe, hatte sie sich anders vorgestellt: in den hellen Straßen
von Paris und nicht zwischen Gräbern in Polen.
Vieles an der Art und Weise, wie die Protagonisten des neuen Romans von
Lizzie Doron ihr Leben gestalten, wirkt irritierend und verstörend. Und
einiges davon hängt mit ihrer besonderen Geschichte zusammen: Amalia, Chesi
und Gadi sind Kinder von Überlebenden der Shoah.
"Der Anfang von etwas Schönem" ist der dritte Roman der 1954 geborenen
israelischen Schriftstellerin Lizzi Doron und stellt in seiner
Auseinandersetzung mit der zweiten Generation, dem Nach- und Fortwirken der
Vergangenheit, gewissermaßen eine Fortsetzung ihrer anderen Romane dar. In
"Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" schilderte sie aus der
Perspektive des Kindes ihre Erinnerungen an die Mutter, die Auschwitz
überlebt hat und versucht, im jungen Staat Israel eine neue Heimat zu
finden. Nicht weniger eindrucksvoll war "Ruhige Zeiten". Im bewegenden
Porträt einer Überlebenden zeichnete sie das kollektive Trauma der zweiten
Generation nach.
Schauplatz des Geschehens im neuen Roman ist ein Viertel in Tel Aviv, in dem
sich viele osteuropäische Juden niedergelassen haben, die der Vernichtung
entkommen sind und auf der Welt nicht mehr richtig heimisch werden können.
In diesem Milieu sind Amalia, Chesi und Gadi aufgewachsen, und es hat ihre
Entwicklung geprägt – mehr als ihnen bewusst ist.
In Amalias Familie liegt ein bleiernes Schweigen über den leidvollen
Erfahrungen der Eltern. Amalia weiß nur, dass ihre Mutter zusammen mit ihrer
Nachbarin Sarke Auschwitz überlebt hat. Seither kleben die beiden Frauen wie
Pech und Schwefel aneinander. Amalia hasst Sarke, weil ihr eigener Kontakt
zur Mutter nicht annähernd eine solche Intensität erreicht. Es tut förmlich
weh zu lesen, wie abwesend und abweisend die Mutter ihrer Tochter
gegenübertritt. Und es hilft auch nicht, wenn Sarke beteuert, dass ihre
Mutter eigentlich eine gute Frau sei, das Leid habe sie so verändert. Nur
wenn Mutter und Tochter zusammen singen, ist die Liebe zueinander spürbar.
Als der Vater die Familie verlässt, um in der DDR den Sozialismus zu
unterstützen, schlagen Zorn und Verzweiflung über dem Mädchen zusammen.
14jährig geht Amalia in einen Kibbuz, nimmt einen hebräischen Namen an und
wird Rundfunksprecherin für das israelische Militär. Doch trotz der neuen
Identität, die sie selbstbewusst vertritt, lastet das Unausgesprochene auf
ihr, irritiert sie, behindert sie auf tragische Weise, so stolpert sie mehr
durchs Leben, als dass sie es gestaltet.
Lizzie Doron lässt die drei Protagonisten ihre Geschichte in jeweils eigenen
Kapiteln aus der Ich-Perspektive erzählen. Dabei springen sie in kurzen
Episoden beständig hin und her, von der Gegenwart in die Kindheit, von Tel
Aviv nach Brooklyn, Paris oder Ustrzyki. Durch diese Dramaturgie
kommentieren Vergangenheit und Gegenwart sich wechselseitig, gewinnen die
Biografien allmählich Kontur. Man bekommt eine Ahnung davon, warum Amalia
von sich sagt, sie sei "nicht auf der Welt (…), um anderen eine Freude zu
machen". Es ist beeindruckend, wie Doron durch eine fragmentierte
Textstruktur das Fragmentierte im Innenleben ihrer Figuren unterstreicht.
Während Amalia der Vergangenheit eher mit Zynismus begegnet, etwa wenn sie
das Lieblingslied ihrer Mutter "Sei still, mein Kind, hier wachsen Gräber"
als "Schlager aus dem Lager" anmoderiert, hat Chesi die Rolle des Anklägers
und Richters übernommen. Die Abschlussarbeit seines Geschichtsstudiums in
Paris schreibt er über die massenhafte Denunziation französischer Juden
durch Franzosen während des Vichy-Regimes. Immer mehr beschäftigt er sich
mit den Verbrechen an den Juden, seine Freundin Solange bezeichnet ihn als
"Shoah-Schnüffler". Er verlässt sie, weil er ihren Umgang mit der
französischen Geschichte nicht mehr ertragen kann. Als seine Mutter bei
einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, macht er die Deutschen dafür
verantwortlich. Die Mutter hat das heranfahrende Auto nicht gehört – ein
SS-Mann hatte ihr im KZ mit einem Peitschenhieb ins Ohr geschnitten. Chesi
weidet sich geradezu am Schuldgefühl seiner deutschen Projektkollegin
Ursula, vermeintliche Tochter eines Nazis, der er diese Sicht der Dinge
unter die Nase reibt. Und besessen von seiner Idee, Polen wieder mit Juden
zu besiedeln, ist er trotz seiner Liebe zu Amalia blind für ihre
Bedürfnisse, taub gegenüber den Anwürfen der Zionistin, Polen sei gestorben,
das israelische Volk in Israel auferstanden.
Wie in ihren ersten beiden Romanen begegnet Lizzie Doron ihren Figuren mit
viel Empathie, Verständnis und respektvoller Distanz. Und doch ist sie ihnen
in dieser Geschichte auf eine gewisse Art auch näher getreten, konfrontiert
sie stärker mit ihren Widersprüchen und Handlungsmöglichkeiten. Gadi hat
sich zeit seines Lebens als Opfer betrachtet. Wegen einer Kinderlähmung
zieht er ein Bein nach, weshalb ihm Chesi in Kindheitstagen den Spitznamen
"Hinkebein" verpasst hat. Sein Handicap sei schuld daran, dass die anderen
Kinder nicht mit ihm gespielt haben, Amalia seine Liebe nie erwidert hat,
dass er nicht zum Militärdienst zugelassen wurde. Aus diesem Grund hat er
auch immer nachgegeben, ließ sich von seiner übermächtigen Mutter Sarke dazu
drängen, nach Amerika zu gehen. Und obwohl er dort eine Familie gegründet
hat mit einer Frau, die ihm "in Auschwitz sogar Kartoffelschalen besorgt",
so seine Mutter, und mit ihr zusammen zu Wohlstand und einer Art Glück
gekommen ist, mag er die Vergangenheit nicht loslassen. Er sehnt sich nach
seinem Leiden zurück.
Der Eindruck mag entstehen, dass dem Roman etwas Didaktisches anhaftet, weil
die Bewältigungs- und Umgangsformen fast typenhaft aufscheinen. Doch dazu
sind die Porträts viel zu individuell, zu vielschichtig. Es ist die Kunst
von Lizzie Doron, Menschen in ihrer radikalen Individualität zu zeigen, so
dass sie sich sämtlichen Projektionen und Vereinnahmungsversuchen entziehen.
In diesem Buch hat sie diese Kunst zur Meisterschaft gebracht. Bis aufs
Feinste durchkomponiert, entfaltet sie die Themen- und Konfliktfelder der
zweiten Generation in einer Komplexität und Tiefenschärfe, die das Buch zu
einem Ereignis macht.
hagalil.com
17-10-07 |