Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782-1848…
Rezension von Hannes Tulatz
Wer heute von Menschen jüdischen Glaubens spricht, wähnt sich auf der Seite politischer Korrektheit – umgehe man mit dieser Wendung doch eine vermeintliche Essentialisierung, der sich schuldig mache, wer einfach von Jüdinnen und Juden spreche. Dass dies der Geschichte antisemitischer Verfolgung nicht gerecht wird, erscheint dabei fast nachrangig. Ob Menschen, die als Juden verfolgt wurden, sich überhaupt als solche verstanden und wenn ja religiös, säkular oder atheistisch eingestellt waren, spielte bei den Nationalsozialisten bekanntlich keine Rolle. Jenen ging es schließlich nicht um eine spezielle Verfolgung von Andersgläubigen, sondern um die Ausrottung eines „jüdischen Prinzips“. Auch fallen die jüdischen Debatten um ein positiv bestimmtes Selbstverständnis gänzlich unter den Tisch. Bei diesen Fragen war und ist keineswegs von vornherein ausgemacht, ob Juden nun lediglich eine religiöse Glaubensgemeinschaft, ein Volk oder noch etwas ganz anderes seien. Der Zionismus und die Gründung Israels als jüdischen Staat legen Antworten auf diese Frage nahe und werden seither auch vor diesem Hintergrund diskutiert. Jedoch vertraten selbst die mehrheitlich antizionistischen Bundisten der Zwischenkriegszeit, also die Mitglieder des Jüdischen Arbeiterbundes, eigene Vorstellungen einer kollektiven jüdischen Identität, obgleich sie diese kaum religiös untermauerten. Allen Verständigungen über jüdische Identität gemein ist eine Reflexion darauf, was man jeweilig für vermeintlich wesenhaft jüdisch hält oder geltend machen will, wofür der Rückgriff auf unterschiedliche konstituierende Ideen und Mythen von Nöten ist. Derlei Debatten halten an und in ihrem Schatten sind heute auch Stimmen zu hören, die in fragwürdiger Weise die Mythen des Zionismus entzaubern wollen um daraus den Fehlschluss abzuleiten, Israels staatliche Existenz sei – erst einmal diskursiv dekonstruiert – illegitim.
Von letztgenanntem Phänomen grenzt sich Philipp Lenhard in seiner Dissertationsschrift Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782-1848, die als Band 4 der Reihe Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit erschienen ist, positiv ab. Thema seiner Arbeit ist die Reaktion der Juden auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Aufklärung, sprich die Neuorientierung des Judentums zwischen Tradition und Moderne. Dabei ging es, anders als die Begriffe „Assimilation“ und „Integration“ nahelegen, nicht bloß darum „das Judentum mit der modernen Gesellschaft kompatibel zu machen, sondern auch[…], angesichts der neuen Herausforderungen das Judentum zu verteidigen und zu erhalten.“ (S.25) Verschiedene Konzepte „jüdischer Ethnizität“, so Lenhard, seien die Antwort auf diese Herausforderung gewesen. Er stellt zwar klar: „weder soll suggeriert werden, alle Juden hätten das Judentum ethnisch definiert, noch, dass moderne jüdische Ethnizität auf ein einziges Konzept reduziert werden kann.“ (S. 23). Allerdings habe es sich bei ihr um einen Leitgedanken gehandelt, „der die verschiedenen Parteien verband – gerade aufgrund ihrer Streitigkeiten über die Bedeutung ethnischer Begriffe und Ideen.“ (S.23)
Ethnizität definiert Lenhard als Bewusstsein über eine tatsächliche oder vermeintliche gemeinsame Abstammung, die sich auf Geist, Religion, Politik und Kultur auswirke, und die den Subjekten als naturwüchsig und quasi sakral zugleich erscheine. Nicht nur rechtlich (Bürgerrecht, Erbrecht), sondern auch sozial-psychologisch ist die Kategorie der Abstammung für Gemeinschaften prominent. Ethnizität sei dabei sowohl Teil des Bewusstseins als auch eine Praxis, die das Bewusstsein durch Ritualhandlungen performativ herstellt und verfestigt. Lenhard sieht im Konzept der Ethnizität eine Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse. Nicht um die Wahrheit eines ethnischen Verständnisses, sondern um dessen Wirkmächtigkeit bei den historischen Subjekten geht es ihm in seiner Analyse.
Die beiden untersuchten Regionen, Frankreich und die deutschsprachigen Gebiete, boten sich in besonderer Weise für das Vorhaben an. Schließlich gingen von Frankreich Aufklärung und Revolution aus, die den Juden erstmals Gleichheit vor dem Gesetz gaben, und von Deutschland die Haskalah, die jüdische Aufklärung, die für ein modernes, reformiertes Judentum steht und untrennbar mit dem Namen Moses Mendelssohn verbunden ist. Statt synchronem Vergleich folgt Lenhard hierbei dem Ansatz einer histoire croisée, einer Verflechtungsgeschichte, da die Juden beider Regionen im behandelten Zeitraum untereinander in einem Maße vernetzt waren, dass ein bloß diachroner nationaler Vergleich eine methodische Teilung vornehme, die im Widerspruch zur Realität stünde und damit die Arbeitsergebnisse manipulierte. (S.30) „Geschichtsschreibung, die nicht die Form ihres Gegenstandes reflektiert, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie eine nur abstrakte Geschichtsphilosophie, die sich gegen das Material, also die Quellenerfahrung abdichtet“ (S.10), heißt es, in diese Richtung weisend, bereits zu Beginn.
Während die Idee der Nation – und mit ihr die des Nationalstaates – für die bürgerliche Revolution steht, gilt das Selbstverständnis als jüdisches Volkes bzw. Volk Israel als vormodern. Hierfür steht mitunter die jüdische Gemeindeautonomie, die man als „Nation in der Nation“ (Napoleon) (S. 107) im Widerspruch zur verkündeten egalité sah, und die Juden als „unsichere Kantonisten“ (S. 114) erscheinen ließ. Das Konsistorialsystem – die staatliche Kontrolle über und Besetzung religiöser Ämter durch den Staat – löste die Gemeindeautonomie auf. Als Produkt der Modernisierung kann die „Religionisierung des Judentums“ (S. 154), sprich die Verwandlung in Staatsbürger jüdischen Glaubens, gelten. Jedoch wurde den Juden ein besonderer Bekenntniszwang auferlegt, standen sie doch weiterhin im Verdacht der Illoyalität. Jüdische Stimmen wie Mendel Hess oder Samuel Holdheim betonten darauf hin mehr den monotheistischen Charakter des Judentums um damit den „alten Bund“, die Gemeinsamkeit von Christen und Juden, hervorzuheben. Sie bestritten dazu jegliche ethnische Grundlage des Judentums (S. 168ff) und ernteten so Widerspruch sowohl von Seiten der Orthodoxen als auch von Seiten der Modernisierer. Gegen diesen „jüdischen Protestantismus“, den sie mit David Friedländer identifizierten (S. 120ff), sprachen sich die orthodoxen Stimmen vehement aus, da dieser elementare Teile der Tradition und mit ihr die Gemeinschaft aus der Heiligen Schrift über Bord werfe. (S. 170f)
Gegen Hess und Holdheim richteten sich allerdings auch eine Vielzahl von modernen Vorstellungen jüdischer Ethnizität, in der sich immer wieder Ideen von Nation und Judentum, u.a. mit Rückgriff auf die aufkommende Rassentheorie (S. 80ff) oder Hegels Theorie vom Weltgeist und daran anknüpfend einen jüdischen Volksgeist (S. 260ff), verbanden. Eine Auseinandersetzung, um die die orthodoxen Kreise auch nicht umhin kamen. (S. 196ff) Einige Modernisierer lösten das Judentum dagegen gänzlich von seiner religiösen Seite ab, und verstanden es nur noch als Kulturausdruck des jüdischen Volksgeistes. Damit gaben sie sich einer radikalen Säkularisierung hin, bewahrten aber gleichermaßen eine ethnisch begründete jüdische Gruppe bzw. schufen diese überhaupt erst. Bemerkenswert war außerdem das Verhalten, derjenigen, die zum Christentum konvertierten, denen sich der Autor programmatisch im 9. Kapitel „Christliche Religion, jüdischer Stamm“ (S. 172ff) widmet. So etwa Joel Jacoby, der seinem Selbstverständnis nach als „jüdischer Katholik“ vorgestellt wird. (S. 180ff) Die Bereitschaft zur Konversion war laut Lenhard besonders bei nicht-religiösen Juden hoch, da sie dadurch pragmatisch ihrer Benachteiligung entgehen wollten. Umso verwunderlicher, dass viele trotz ihrer Abkehr von der jüdischen Religion ihre Verbundenheit mit dem Judentum weiter betonten.
Was bleibt nach der Lektüre? Die vorliegende Arbeit schreibt jüdische Geschichte aus jüdischer Perspektive. Sie bildet somit einen Gegenpol zu einer Geschichtsschreibung, in der unter der Maßgabe von „Assimilation“ und „Integration“, Juden bloß als Objekte christlicher Geschichte auftauchen – eine Sicht, die lange tonangebend war. Umfangreich wurde die Debatte um die Frage, was das Judentum ausmache, in seiner Vielschichtigkeit dargestellt. Dabei hat sich gezeigt, dass Dichotomien wie Volk oder Religion dem jüdischen Modernisierungsdiskurs nicht gerecht werden. Wer einen Eindruck von der Lebendigkeit jüdischer Debatten im Umgang mit der zeitgenössischen Gedankenwelt, mit Tradition und Moderne sowie einer oft feindlichen Umgebung gewinnen möchte, hat ein kenntnis- und nicht minder quellenreiches Werk gefunden. Eine Stärke von Lenhards Arbeit ist es, einen Eindruck von der Uneindeutigkeit und Offenheit von Geschichte zu vermitteln, die zu gegebenen Zeitpunkten auch andere Möglichkeiten als die später tatsächlich vollzogenen Entscheidungen – und heutigen Gewissheiten – zulässt. Das Buch ist indes nicht nur spannend für Kenner jüdischer Geschichte, sondern auch methodisch interessant. Sowohl die Selbstreflexion aufs Schaffen eines Historikers, als auch seine Bezugnahmen auf Kritische Theorie und Psychoanalyse, mit deren Hilfe sich der Autor eingangs der Nationalismusforschung widmet, sind über das Thema der Arbeit hinaus sehr lesenswert. Dem Buch ist somit weite Verbreitung auch außerhalb der Fachwissenschaft zu wünschen.
Philipp Lenhard (2014), Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782-1848, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 79,99, Bestellen?
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