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Oradour–sur-Glane – Wider das Vergessen

„Wir haben dort das Allerliebste aus der Welt, das man als Zwanzigjährige hat, verloren: Vater, Mutter,  Großmutter.  Wir verdanken unser Leben dieser kleinen Truppe (…),  die uns während dieser angstvollen Stunden geschützt hat, und vor allem unserem kleinen Papa, der uns den Rat gegeben hat.“ Das ist die Aussage von Jacqueline Pinède,  die das Massaker von Oradour-sur-Glane  vom 10. Juni 1944 mit ihren Geschwistern überlebte, weil ihr Vater ihnen den Rat gegeben hatte, sich unter einer Betontreppe an der Rückseite des Hotels Avril in Sicherheit zu bringen…

„Oradour hat keine Frauen mehr
Oradour hat keinen einzigen Mann mehr
Oradour hat keine Blätter mehr
Oradour hat keine Steine mehr
Oradour hat keine Kirche mehr
Oradour hat keine Kinder mehr.“
Jean Tardieu (für Paul Eluard)

Rezension von Christiane Goldenstedt

Mit dem  empfehlenswerten Buch über  Oradour-sur–Glane wollen die Herausgeberin Florence Hervé und der Photograph Martin Graf über die Verbrechen des 20. Jahrhunderts informieren und zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker beitragen.  Was war in diesem kleinen Ort Oradour  im Jahre  1944 geschehen? Am 10. Juni  drang die SS-Panzerdivision „Das Reich“ in das kleine französische Dorf im Limousin ein. Die Waffen-SS  erschoss 161 Männer. Anschließend wurden 221 Frauen und 260 Kinder bzw. Jugendliche in einer Kirche zusammengetrieben und eingeschlossen und das Gebäude gesprengt.  Es gab 642 Opfer.

Bis zum  Zeitpunkt des Massakers war Oradour ein Ort der Ruhe und der Zuflucht. 1939 hatte das Dorf spanische Republikaner, die auf der Flucht vor Francos Anhängern waren, aufgenommen. Aber Oradour war kein Ort des französischen Widerstandes. Der belgische Historiker Bruno Kartheuser zieht Verbindungen zu den Vorkommnissen in Tulle,  einem benachbarten Ort   (vgl. S. 10-13).  Am Morgen des 7. Juni 1944 griffen 500 kommunistische Widerstandskämpfer/-innen (Francs-tireurs et partisans) die deutschen Besatzer in Tulle  an.  Dabei  fielen 40 deutsche Soldaten, 60 Soldaten ergaben sich  und neun Angehörige des Sicherheitsdienstes wurden erschossen. Die Rache der SS-Panzerdivision „Das Reich“  war furchtbar: 99 Geiseln wurden erhängt und  450 Bewohner/-innen  auf Lastwagen verfrachtet und nach Limoges gebracht. Der Kommandeur der Division,  General Heinz Lammerding, hatte  in einer Note vom 5. Juni 1944  den höheren Kommandostellen der Wehrmacht sein Konzept der Kampfmaßnamen gegen die französischen WiderstandskämpferInnen vorgelegt. Nach der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie hatte die SS-Division  den Auftrag, den französischen Widerstand auszuschalten, um die Entstehung einer zweiten Front zu verhindern. Insofern ist Kartheusers These stichhaltig, die Verbrechen in Tulle und Oradour nicht isoliert zu betrachten, sondern miteinander zu verbinden und die SS-Aktionen in die globalen militärischen Strukturen der Okkupation einzuordnen.

Die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tulle und Oradour sind fast ausnahmslos ungesühnt geblieben.  Das ist unentschuldbar. In der DDR fand 1983 der einzige deutsche Prozess gegen Heinz Barth, Obersturmführer und Zugführer der 3. Kompanie, statt, der an der Ermordung von 642 Einwohnern in Oradour beteiligt war (vgl. S.22).  In der Bundesrepublik konnte das Dokumentationszentrum Simon Wiesenthal mit einer groß angelegten Kampagne hunderte Persönlichkeiten mobilisieren,  die sich erfolgreich  gegen die vorgesehene Verjährung der NS-Verbrechen im Jahr 1965 in Deutschland und Österreich wehrten. Aber in den folgenden Jahrzehnten  hat die deutsche Justiz diese Möglichkeit nur unzulänglich  wahrgenommen, die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuarbeiten und   die  Täter zur Verantwortung zu ziehen.  Auch  der strafrechtlichen Aufarbeitung der deutschen Besatzungszeit in Frankreich wurde  zu wenig Beachtung geschenkt. Das große Schweigen über die Verbrechen der Wehrmacht  war mit der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944“ beendet, die eine öffentliche Debatte initiierte  (vgl. Ulrich Schneider, S. 75). Der historische Aufarbeitungsprozess wurde in der Bundesrepublik fortgesetzt.

In der Folgezeit lag ein besonderer Fokus auf  der Auswertung von Quellen über die  Okkupation, Kollaboration, Résistance und Judenverfolgungen in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Ahlrich Meyer stellt eine Verbindung zwischen diesen Forschungsschwerpunkten  her und beweist, dass die  „Partisanenbekämpfung“ im Osten wie im Westen  eine Mittäterschaft der Wehrmacht implizierte, die  am Beispiel der Massaker von Tulle oder Oradour diese Vergeltunsmaßnahmen der SS billigend in Kauf genommen habe (Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich, Darmstadt 2000).  2004,  als sich die Massaker von Tulle und Oradour zum 60. Male jährten,  erschien eine Studie von Claudia Moisel über Frankeich und die deutschen Kriegsverbrecher.  Diese  Auswertung von französischen Quellen mit breiter Archivbasis konnte eine Geschichtslücke schließen. Danach vergingen fast zehn Jahre, bis die Politik endlich reagierte. Im September 2013, einige Monate vor dem 70. Jahrestag des Massakers in Oradour, besuchte Joachim Gauck als erster deutscher Bundespräsident den Ort. In seiner Rede erklärte er, er teile mit den Überlebenden und den Familien der Opfer die Bitterkeit, „dass die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt blieben.“ (vgl. S. 7)

Oradour - Geschichte eines MassakersDiesen Worten müssten nun endlich Taten der deutschen Politik und Justiz folgen, so Florence Hervé in ihrem Vorwort über Oradour (vgl. S.7). Der hier vorgestellte zweisprachige  Band soll diesen Forderungen Nachdruck verleihen. Hier erhalten die Stimmen der Überlebenden einen zentralen Platz  wie Jacqueline Pinède, Marguerite Rouffanche, Camille Senon, Jeanine Rénaud, Marcel Bélevier, Martial Brissaud  und Robert Hébras, der sich nach diesem Massaker der Résistance anschloss. Für die Forschung und für ein geschichtsinteressiertes Publikum sind diese letzten Zeitzeugen- und Zeitzeuginnenberichte von größtem Wert. Gedichte von Louis Aragon und Jean Tardieu, Zeichnungen von Paul Colin und Fernand Léger, ein Chanson und Tagebucheinträge ermöglichen einen affektiven  Zugang zu diesem Thema, das auch in der pädagogischen Arbeit mit Schülern und Schülerinnen, vor allem in bilingualen Lerngruppen, behandelt werden könnte.  Gleiches gilt auch für Martin Grafs sensible Photographien von  Oradour. Ihm gelingt es,  die vorgefundene Atmosphäre so zu verdichten, dass sie erahnen lässt, wie die Frauen, Männer und Kinder in diesem Ort gelebt haben. Die Toten haben verrostete und verkohlte Gegenstände hinterlassen, die sie aus der Namenlosigkeit des Todes herausheben.

Oradour-sur-Glane, der Ort des Schmerzes, der Erinnerung und des Gedenkens, bleibt auch ein Ort der Anklage, der Mahnung und der der Hoffnung auf Frieden.

Florence Hervé (Hg.), Martin Graf  (Fotos), Oradour, Geschichte eines Massakers, Histoire d’un massacre, Köln 2014, 144 Seiten.  ISBN:  978-3-89438-554-5, 18 Euro, Bestellen?

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