„Der Weg zur friedlichen Föderation der Völker kann nicht über die Zerstörung eines Nationalstaates führen …“
„Weil es die kommunistische, anarchistische und sozialdemokratische Linke nicht schaffte, die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft zu erstreiten, bedarf es heute des Staates Israel als Ort der Zuflucht für alle von Antisemitismus Bedrohten“, konstatiert die Anarchistische Gruppe Freiburg. „Dieses Spezifikum des zionistischen Staates sollte von einer antinationalen Linken nie ausgeblendet werden.“
Libertäre verteidigen die Existenz eines Nationalstaates: die von Israel. Eine ungewöhnliche Position für Anarchisten, die ansonsten für eine freiheitliche und soziale Föderation von autonomen Städten und Gemeinden ohne nationale Grenzen eintreten. Im Unterschied zu vielen, nicht nur deutschen, Linken haben sie aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Shoa Konsequenzen gezogen und erkennen die Notwendigkeit eines jüdischen Staates an. Denn: Solange es Antisemitismus weltweit gebe, sei es Juden und Jüdinnen nicht zuzumuten, als Minderheit in judeophoben nichtjüdischen Gesellschaften zu leben, schreiben Jürgen Mümken und Siegbert Wolf in der Einleitung ihres äußerst interessanten Buches „Antisemitismus, das geht nicht unter Menschen“. Die sich im libertären politischen Spektrum verortenden Herausgeber sind zutiefst davon überzeugt, dass eine freiheitliche, sozial gerechte Gesellschaft nur dann erreicht werden kann, wenn zuvor auch eine der „ältesten Gruppenfeindschaften der Menschheitsgeschichte, der Antisemitismus, in den Köpfen und Herzen aller Menschen dauerhaft beseitigt wird.“
Nachdem sie bereits im ersten Band ihres zweibändigen Werkes (siehe Rezension) die Positionen der anarchistischen Antisemiten Pierre-Joseph Proudhon und Michael Bakunin darstellten, in die Literatur bedeutender Libertärer, wie etwa Gustav Landauer, Erich Mühsam, Martin Buber oder Rudolf Rocker einführten und einen geschichtlichen Bogen von den antijüdischen Pogromen in Russland, der Shoa bis zum anarchistischen Zionismus in der Kibbuz-Bewegung schlugen, beleuchten sie nun im zweiten Band den Zeitraum von der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 bis heute.
Anhand von zeithistorischen Originalbeiträgen israelischer und deutscher Libertärer wird das Verhältnis der Anarchisten zum Staat Israel und Palästina sowie zu den Themen Anarchismus und die Shoa, Anarchismus und die Kibbuzbewegung und der Antisemitismus der Linken beschrieben. Dabei reicht das Spektrum von den binationalen Ideen Bubers, die die Herausgeber in ihrem exzellenten und umfangreichen Vorwort historisch einordnen, bis über kaum bekannte anarchistische Pro-Israel-Texte von Augustin Souchy, Willi Paul, Sam Dolgoff, aber auch den teilweise befremdlichen Ansichten der israelischen Gruppe „Anarchist against the wall.“ Diese Vereinigung befürwortet eine staatliche Lösung des jüdisch-arabischen Konflikts und schreckt dabei auch nicht vor gemeinsamen Aktionen mit der islamistischen Terrororganisation Hamas zurück.
Gleichwohl wird der Anarchismus nicht nur als exotische oder utopische Idee beschrieben, denn eines der bedeutendsten freiheitlichen Sozialexperimente des 20. Jahrhunderts wurde mit den Kibbuzim in Israel verwirklicht. Die reale Umsetzung eines libertären Sozialismus, der die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und der persönlichen Freiheit garantiert, funktioniert ohne staatliche Verordnung.
Jürgen Mümkens und Siegbert Wolfs hervorragend edierte und mit umfangreichen und nützlichen Fußnoten versehenen Bände sind viele Leser zu wünschen. Ihre verdienstvolle Arbeit ist auch eine Kampfansage gegen die als Antizionismus beschönigten antisemitischen Positionen vieler Linker, deren einseitige Solidarität mit den Palästinensern „weniger auf einer nachhaltigen Verbesserung ihrer Lebensqualitäten zielt, sondern eher auf einem Unbehagen am Judentum, einer Abneigung gegenüber jüdischen Menschen.“
Eine wichtige Publikation! Gerade in Zeiten des wiederaufflammenden, offenen und gewalttätigen Antisemitismus in deutschen Städten und Gemeinden. (jgt)
Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (Hg.), „Antisemitismus, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zur Antisemitismus, Zionismus und Israel. Band I, Von Proudhon bis zur Staatsgründung, 295 Seiten; Band II, Von der Staatsgründung bis heute, 268 Seiten, jeweils 18 €.
Buchvorstellung und Diskussion mit Jürgen Mümken „Antisemit, das geht nicht unter Menschen!“
7. Dezember 2014, 16.00 Uhr
A-Café, Sielwallhaus, Sielwall 38, Bremen
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