Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien und die Folgen…
Von Roland Kaufhold
„Wie halten Sie es nur aus“, wurde der jüdische Psychoanalytiker Sammy Speier einmal von einer zartfühlenden deutschen Seele gefragt, „wie halten Sie es nur aus, in Deutschland zu leben?“
Sammy Speier gab die Frage prompt zurück: „Und Sie? Wie halten Sie es aus?“
In Deutschland und Österreich ist der Nationalsozialismus mehrheitlich nicht als traumatisch wahrgenommen worden. Man selbst war ja nicht betroffen, es waren „die Anderen“, die Juden…
Man hätte vermuten können, dass es sich innerhalb der Psychoanalyse anders verhalten hätte, war doch die große Mehrzahl der – wir sprechen im Folgenden nun von Wien – österreichischen Psychoanalytiker der Freudschen Pionierzeit Juden, Sigmund Freud eingeschlossen. Der allergrößte Teil der Wiener Analytiker hatte in den Jahren von 1933 – 1939 emigrieren müssen, vornehmlich in die USA; einige Wenige (u.a. Ernst Paul Hoffmann, Nikola Sugar und Rosa Walk) wurden ermordet (vgl. Kaufhold, 2001, S. 45, 268). Der 82-jährige, sehr kranke Sigmund Freud selbst hatte den Weg ins Exil erst sehr spät, mit innerer Ambivalenz, beschritten. Ein Jahr später starb Freud in London. Die Shoah, den Mord an seinem jüdischen Volk, musste dieser skeptische Menschenfreund nicht mehr erleben. Vier seiner Schwestern – Rosa Graf, Paula Winternitz sowie Adolfine und Marie Freud – wurden in Theresienstadt sowie in Auschwitz ermordet.
Erst 40 Jahre nach Ende der Shoah, Mitte der 1980er Jahre, ist erstmals innerhalb der Psychoanalyse über das Thema „Psychoanalyse und Nationalsozialismus“ publiziert worden, ist über die Verleugnung der eigenen Geschichte, der eigenen institutionelle und seelische Prägung durch den Nationalsozialismus, geforscht, geschrieben worden. Auch knapp zwei Generationen später folgten also partiell Verleugnungen; vereinzelt wurden den Forschern selbst heftige Vorhaltungen gemacht. Der Überbringer der schrecklichen Botschaft erschien als der Täter. Die Tendenz zur fortgesetzten Verleugnung dürfte unter Psychoanalytikern genauso stark gewesen sein wie der Wunsch zu verstehen, die Wirklichkeit anzuerkennen, die Ermordeten zu betrauern.
Vereinzelt gedachte man des Schicksals der ermordeten Kollegen – um gleich darauf wieder zur Tagesordnung, zu den alltäglichen Beschäftigungen und Notwendigkeiten überzugehen.
Der Frankfurter Psychoanalytiker Sammy Speier – er wurde 1944 in Israel geboren, ging 1958 mit seinen Eltern nach Frankfurt a. M. zurück, war als Student kurzzeitig Sympathisant der 68er – Protestbewegung (vgl. Kaufhold, 2012) – bemerkte kurz vor seinem Tod in erschreckender Illusionslosigkeit: „Eine meiner größten Enttäuschungen der letzten Jahre war, fest zu stellen, dass selbst meine Kollegen und Kolleginnen, sprich die deutschen Psychoanalytiker, es bis heute nicht für nötig halten, sich mit diesem unerträglichen Teil ihrer Vergangenheit emotional zu beschäftigen. Ich bin Psychoanalytiker geworden, weil ich glaubte, Analytiker besäßen die `Fähigkeit zu trauern´. Erst in den letzten Jahren wurde mir klar, dass dies eine Illusion ist. Meine Vorstellung, meine Hoffnung und mein Wunsch, ein Zuhause zu finden, wurden von den deutschen Psychoanalytikern genauso enttäuscht wie damals vom SDS. Nur ist meine Wut jetzt viel größer, weil ich von Erwachsenen mehr erwarte und verlange, vor allem wenn sie Analytiker sind, als von Studenten. Zugleich macht mir das Sorge. Sorge um meine Zukunft, aber vor allem, um die Zukunft meiner Kinder in der BRD.“ (in: Kaufhold, 2012)
Die Ermordeten vermögen wir nicht mehr zum Leben zu Erwecken. Wir mögen ihr Leben betrachten, ihr Wirken nachvollziehen – bis zu ihrem grausamen, systematisch vorbereiteten Tod. Und wir mögen mit den Überlebenden in Austausch treten. Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) „machte“ dies, mehrfach. So feierte sie im September 2004 den 90. Geburtstag Ernst Federns, Überlebender von Dachau und Buchenwald und nahezu einziger psychoanalytischer Emigrant, der auf Dauer – von den USA aus, wo er 24 Jahre lang gelebt hat – wieder nach Wien zurückgekehrt ist.
Wenige Monate nach seiner Veranstaltung wurde der vorliegende, von der WPV herausgegebene Tagungsband „Trauma der Psychoanalyse?“ publiziert. Er geht auf ein von der WPV im Oktober 2003 an der Universität Wien veranstaltetes „Internationales Symposium“ zurück.
Der Band erscheint mir als gelungen. Als Lektüre ist er von überdauerndem Wert. Die Herausgeber (die WPV-Mitglieder Wilhelm Burian, Peter Skriboth, Samy Teicher und Gudrun Wolfgruber) haben zehn fachkundige Autoren gewonnen, zum Teil aus ihren eigenen Reihen, aber auch aus England, Israel und den USA. Die Autoren haben alle bereits einschlägig zu diesem Thema publiziert. Ihre Beiträge sind durchgängig von hohem Wert: Professionell, kenntnisreich, illusionslos, engagiert.
In ihrem Geleitwort führt Zwettler-Otte knapp in das Thema ein, indem sie an Anna Freuds Vortrag im 1971 in Wien, auf dem 27. Internationalen Psychoanalytischen Kongress – es war das erste Mal, dass Anna Freud wieder nach Österreichischen Boden betrat, 33 Jahre nach ihrer Vertreibung – anknüpft: „Es ist schwerlich, eins nicht zu denken: wenn wir nicht durch die politischen Ereignisse unterbrochen worden wären, wenn wir weitergebaut hätten auf diesen Anfängen: wo wäre die Psychoanalyse heute in Wien“, konstatierte sie (S. 11)
In den Beiträgen von Elke Mühlleitner „Das Ende der psychoanalytischen Bewegung in Wien und die Auflösung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ und Thomas Aichhorn: „Bausteine für eine Chronik der WPV: 1938 – 1950“ werden die Phasen der Vertreibung der Wiener Psychoanalytiker nachgezeichnet. Lange, zu lange hingen viele Wiener Psychoanalytiker, gemeinsam mit Freudselbst, der Illusion an, dass sie auch nach dem gescheiterten Februaraufstand 1934 noch in Wien bleiben, dass die Psychoanalyse in Wien überleben könne – trotz Hitler. Der sich als marxistisch verstehende Analytiker Otto Fenichel teilte diese Illusionen nicht. Fenichel formulierte 1938 in einem seiner „Geheimen Rundbriefen“: „Vor einigen Jahren fragte mich ein Freund (…): `Welche Fragen sind heute in der Psychoanalyse wichtigster Forschungsgegenstand?´ Ich antwortete: `Die Frage, ob in Wien die Nazis zur Regierung kommen werden.´ Nun sie sind gekommen. (…) Das Schicksal der Psychoanalyse wird vom Schicksal der Welt und der Wissenschaft überhaupt abhängen.“ (S. 13)
Einige Zahlen: 1938 hatte die WPV 68 Mitglieder und 38 Kandidaten; weiterhin besuchten etwa 90 Teilnehmer den von der WPV organisierten „Ausbildungsgang für Pädagogen“. Während des Krieges blieben nur noch drei Analytiker in Wien, die übrigen emigrierten bzw. wurden ermordet. Der bekannteste von ihnen war August Aichhorn, Begründer einer psychoanalytischen Arbeit mit seelisch sehr gestörten, „delinquenten“ Jugendlichen. Im Exil, vor allem in den USA, wurden viele dieser Wiener Emigranten angesehene psychoanalytische Experten, prägten in den darauffolgenden Jahren insbesondere die amerikanische Psychoanalyse. Thomas Aichhorn hebt den Verlust hervor, den die Vernichtung der jungen Wiener Psychoanalyse historisch bedeutete, indem er betont: „Da sowohl die britische wie auch die amerikanische Vereinigung der pädagogischen Anwendung von Psychoanalyse ablehnend gegenüber gestanden sind, hat die Vernichtung der WPV die Zerstörung des bis dahin Aufgebauten zur Folge: Die aus Wien Vertriebenen haben zwar ihre Arbeit der Emigration – einige von ihnen überaus erfolgreich – fortgesetzt, sie konnten aber nirgendwo ähnlich günstige Voraussetzungen für die Tradierung ihrer Arbeit finden, wie sie in Wien bestanden hatten.“ (S. 38).
Hervorheben möchte ich noch den Beitrag „Über den Einfluss der Vertreibung der Psychoanalytiker 1938 auf die Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ von Gertraud Diem-Wille, dem ich vielerlei neue Details entnommen habe. So erinnert sie an die sehr kontroverse Diskussion innerhalb der WPV in den Jahren 2002 und 2003, inwiefern, mit welchem moralischen und politischen Recht sich die WPV an der Diskussion über Entschädigungszahlungen für Opfer des Nationalsozialismus beteiligen, selbst Entschädigungen einfordern dürfe. Es wird auch der nationalsozialistische Hintergrund einiger Analytiker der Nachkriegszeit erwähnt, der zwar als „Gerücht“ (S. 73) existierte, jedoch nie „offiziell“ diskutiert wurde.
Persönlichkeiten wie Ella Lingens, die während des Krieges Juden geholfen und August Aichhorns „Untergrundseminaren“ angehört hatte, wurde die analytische Ausbildung verwehrt, da sie „zu traumatisiert“ (S. 73) sei! Diem-Wille fügt hinzu: „Viele Forschungen zur Vertreibung von PsychoanalytikerInnen aus Wien und deren weiterem Schicksal wurden von NichtanalytikerInnen veröffentlicht.“ (S. 90) Ziel bleibe es weiterhin, „gemeinsam über die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit und deren Folgen nachzudenken.“ (S. 100)
Komplementiert werden diese zeitgeschichtlichen Analysen durch R. Steiners umfangreichen Beitrag über die theoretischen und klinischen Entwicklungen in der Psychoanalyse nach Auflösung der WPV.
John S. Kafka, der als Kind aus Österreich emigrierte, schreibt – von seinen Besuchen in seiner Heimatstadt Linz geprägt – über „`Unterbrechen´ und `Zerbrechen´. Die Gewalt der Nicht-Interpretation“. Die Emigration ist ein so einschneidendes Erlebnis, dass sich seine Wahrnehmung Österreichs grundlegend von der eines Österreichers unterscheide: „Wenn ich jetzt nach Österreich komme, habe ich oft unerwartete merkwürdige Gefühle und Gedanken. Diesmal wurde ich mir eines unheimlichen Gefühls bewusst, wenn jemand mit ausgeprägtem österreichischen Akzent spricht.“ (S. 146) Das Erlebnis der Vertreibung, der Exils, verunmöglichte für viele Jahre eine Trauerarbeit, die Biographie ist „unterbrochen“, es ist im wörtlichen Sinne etwas zerbrochen. Die Erinnerung bleibt eine lebenslange Aufgabe – und für John S. Kafka war es eine verstörende Erfahrung, als ihn ein österreichischer Rundfunkjournalist nach seinen Gefühlen bei seiner Wiederbegegnung mit Österreich fragte: „Ich sagte unter anderem dass es mir schwer fiel in ein Land zu reisen in dem so viele Leute Haider und seine Partei wählten.“ (S. 152) Der Journalist teilte ihm danach mit, dass er diese Passage nicht senden dürfe.
„Auf der Jagd nach Nazis“ ist ein klinischer Beitrag von Marion M. Oliner. In ihm versucht die in New York tätige Psychoanalytikerin, den Unterschied zwischen selbst erlittenen Traumata und Traumata, denen die eigenen Eltern durchlitten haben, zu verdeutlichen. Die Schwierigkeiten, zwischen diesen unterschiedlichen traumatischen Erfahrungen zu differenzieren, sind außergewöhnlich groß, die intergenerationelle Weitergabe von Traumatisierungen stellt eine kaum lösbare Aufgabe dar.
Ich hatte einführend ein Zitat des viel zu früh verstorbenen, in Tel Aviv geborenen Psychoanalytikers Sammy Speier gebracht, in dem dieser die sehr „andere“ Wahrnehmung von gesellschaftlichen und psychischen Prozessen beschreibt, wie sie viele Juden empfinden, die in deutschsprachigen Ländern leben. Dieser Bruch in der Wahrnehmung der Welt wird auch von E. Brainin und S. Teicher in ihrem Beitrag „Trauma und Phantasie“ fokussiert. Beide stammen aus jüdischen Familien. Sie konstatieren: „Die Diskussionen über die Geschichte der WPV erreichten eine Heftigkeit, die wir niemals in der Diskussion über die Folgen der Verfolgung erlebten.“ (S. 173) Sie verwahren sich entschieden dagegen, eine Parallelität zwischen der – wie es seit über 20 Jahren in unterschiedlicher Gewichtung und Intention häufig formuliert wird – seelischen Realität von Kindern, deren Eltern „mitgeholfen hatten, den Nazistaat zu tragen“ (S. 171) sowie den Kindern verfolgter Juden zu sehen. Die österreichische Geschichte insgesamt sei durch Verdrängung, Verleugnung und Komplizenschaft mit den früheren nationalsozialistischen Tätern und Mitläufern gekennzeichnet: „Verleugnung und Lüge bestimmten die österreichische Politik ebenso, wie das Familienleben hunderttausender Menschen im Nachkriegsösterreich.“ (S. 171) Sie konstatieren eine „Deckidentität“ (S. 174) österreichischer Psychoanalytiker der Nachkriegszeit; diese Diagnose rief sogleich heftigste Gegenreaktionen gerade unter Psychoanalytikern selbst hervor. Brainin/Teicher betonen: „Die Identität als Psychoanalytiker bietet manchen der heute in der WPV Aktiven die Möglichkeit, sich quasi eine Deckidentität zuzulegen. In ihrer Vorstellung sind sie mit Hilfe ihrer Ausbildung Mitglied einer großen neuen Familie geworden, die direkt von Freud (…) abstammt. Das erlaubt ihnen, sich der Konflikte mit der eigenen Ursprungsfamilie, in der sich nicht selten Täter, Mitläufer und Profiteure der NS-Zeit befinden, auf der bewussten Ebene zu entledigen.“ (S. 174f.) Die Psychoanalyse diene so dem Familienroman; mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Shoah komme es zu einer „Mythologisierung der `Holocaust´“ (S. 175), zu einer Entlastung einer ganzen Generation. Die Autoren beschreiben das äußerst schwierige Leben, den schwierigen biographischen Neubeginn der wenigen Juden, die nach der Shoah, als Displaced Persons, in Österreich blieben – und dort „gesellschaftlliche Randexistenzen waren, stigmatisiert und entwurzelt.“ (S. 180) Nachdrücklich betonen sie: „In den Familientraditionen dieser beiden Gruppen gibt es keinerlei Übereinstimmung. Die affektiv gefärbte Erinnerung wird zum Mythos.“ (S. 180) Gewalt, Mord, Verfolgung – diese Erinnerungen und Affekte sind in allen jüdischen Familien auffindbar: „Die mit unbewussten Phantasien verbundenen Gefühle sind bewältigbar, der Zivilisationsbruch unserer Kultur nicht“ (S. 192), heben Brainin/Teicher hervor.
Abgeschlossen wird der lesenswerte Band von einem klinisch orientierten Beitrag der israelischen Analytikerin Ilany Kogan über „Trauma und Kreativität“ – womit zugleich eine Hoffnungsperspektive geboten wird.
Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) (Hg.) (2005): Trauma der Psychoanalyse? Die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien 1938 und die Folgen, Wien (Mille Tre Verlag Robert Schächter).
Literatur: Roland Kaufhold (2012): Der Psychoanalytiker Sammy Speier (2.5.1944 – 19.6.2003): ein Leben mit dem Verlust. Oder: „Kehrt erst einmal vor der eigenen Tür!“. In: Kaufhold, R. & B. Nitzschke (Hg., 2012): Jüdische Identitäten nach dem Holocaust in Deutschland. Schwerpunktband der Zeitschrift Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung Heft 1/2012, S. 96-112. Internet: http://buecher.hagalil.com/2012/07/identitaeten-2/
In dem Bericht vermisse ich einen Hinweis auf die wesentlich durch Sándor Ferenczi (aus jüdischer Familie) geprägte ungarische psychoanalytische Schule, die damals politisch wesentlich fortschrittlicher war als die österreichischen und deutschen Psychoanalytiker. Natürlich wurden auch sie durch die Nazis vertrieben. Ziemlich viele von ihnen hatten erheblichen Einfluß in den nächsten Generationen der Psychoanalyse (vor allem vom englischen Exil aus). Und Sándor Ferenczi (der Freud beschwor, ins Exil zu gehen) war der einzige Psychoanalytiker der ersten Generation, der Realtraumata im Kindesalter zum Thema machte.