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Individuum und Gemeinde

Ein Sammelband zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien 1520 bis 1848…

Von Monika Halbinger

Die diametralen Pole Individuum und Gesellschaft bewegen sich seit jeher in einem Gegensatz zueinander, sind aber nicht voneinander zu trennen. Persönliche Wünsche und Neigungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die auch als einschränkend erlebten Anforderungen der sozialen Gruppe, ohne die der Einzelne jedoch nur schwerlich existieren kann. Vielleicht noch mehr als andere Religionen ist das Judentum in der alltäglichen Praxis ohne Gemeinschaft nicht denkbar. Im Falle der jüdischen Minderheit ist zudem zu bedenken, dass die jüdische Gemeinschaft auch von zentraler Bedeutung sein kann für die eigene identitäre Selbstvergewisserung, für die Abgrenzung zur, aber auch den Schutz gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, die gewissermaßen als dritte, nicht selten repressiv wahrgenommen Bezugsgröße eine bedeutende Rolle spielt.

Genau diesem Spannungsfeld widmet sich vorliegender Sammelband für die Geschichte der Juden in den Ländern der böhmischen Krone zwischen 1520 und 1848, also in der Frühen Neuzeit bis zur Revolution von 1848/49. Er basiert auf Referaten, die auf der internationalen Konferenz „Jedinec a obec / Individuum und Gemeinde“, die vom 6. bis 8. Oktober 2009 in Trebitsch / Třebič stattfand, gehalten wurden. Die Edition ist zweisprachig angelegt. Jeder Beitrag ist sowohl in deutscher wie auch tschechischer Sprache abgedruckt.

Herausgegeben wurde dieser Sammelband von Helmut Teufel und Pavel Kocman von Společnost pro dĕjiny židů v České republice (Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Čechischen Republik) und Iveta Cermanová und Alexandr Putík vom Židovské muzeum v Praze (Jüdisches Museum in Prag). Er erscheint als Supplement der Zeitschrift Judaica Bohemiae des Prager Jüdischen Museums.

Aus technischen und organisatorischen Gründen konnten nicht alle Referate aufgenommen werden. Doch die zehn Beiträge, die Eingang in Sammelband fanden, zeigen die Relevanz dieser Thematik deutlich, vor allem auch dann, wenn das individuelle jüdische Leben im Kontext der bzw. in der Opposition zur jüdischen Gemeinschaft analysiert wird.

So kann Tamás Visi von einer interessanten Episode aus der Geistesgeschichte des mährischen Judentums aus den 1560er Jahren berichten, als der aus Braunschweig stammende Jude Elieser Eilburg in einem in zehn Fragen gehaltenen Brief an die drei mährischen Oberrabbiner, von denen einer laut Visi vermutlich der berühmte Maharal war, die Grundlagen des jüdischen Glaubens in Frage stellte. Eilburgs Abhandlung, eine Vorwegnahme der Religionskritik Spinozas rund 100 Jahre später, war eine bemerkenswerte Haltung innerhalb des mährischen Judentums des 16. Jahrhunderts.

Ebenso erstaunliche Ergebnisse liefert die Untersuchung von Martin Štindl über das Verhältnis zwischen zum Christentum konvertierten Juden und ihren ehemaligen Gemeinden in Mähren im frühen 18. Jahrhundert. Eigentlich bedeutete die Taufe einen Abbruch aller bisherigen sozialen und vor allem familiären Banden, aber de facto bestanden auch weiterhin nicht nur Kontakte zur Familie, sondern auch zu Angehörigen der jüdischen Gemeinde, der man den Rücken gekehrt hatte. Nicht selten versuchten einige Mitglieder den Abtrünnigen zur Rückkehr zu bewegen. Eine Konversion war letztlich kein unübliches Phänomen im jüdischen Mähren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und gerade was die sozialen Beziehungen zu den ehemaligen Glaubensgenossen anlangte, eine recht unkomplizierte Angelegenheit.

Die von Konflikten geprägte innenpolitische Geschichte der Prager jüdischen Gemeinde in der Frühen Neuzeit legt detailreich Alexandr Putik dar. Als es im März 1579 zu einer außerregulären, vorgezogenen Gemeindevorstandswahl, vollzogen durch sechs prominente Rabbiner, kam, sollten ordentliche Wahlen umgangen werden. Grundsätzlich war es das primäre Ziel jüdischer Politik, die Behörden zu einem Wahlsystem zu drängen, das den politischen Willen der Gemeindemitglieder berücksichtigen und eigenmächtige Ämtereinsetzungen verhindern würde, was auch schließlich durchgesetzt werden konnte.

Generell wenig aufgearbeitet ist das 17. Jahrhundert in der Geschichte der mährischen Juden. In Pavel Kocmans Beitrag, der anhand bisher unbekannter Quellen ebenfalls Individuum und Gemeinde in Opposition setzte, vor allem auch im Kontrast zur nichtjüdischen Umwelt, wird offenkundig, dass die Beziehung zur Obrigkeit häufig im Konflikt endete; die Koexistenz zu den übrigen Christen war vor allem im Bereich des Handels spannungsgeladen. Kocman betont, nur „Problembereiche zu skizzieren und die weitere Forschungsrichtungen abzustecken“.[S. 129.]

Die Erfahrungen von Juden während des Dreißigjährigen Krieges sind ebenfalls bislang nur rudimentär erforscht. Gleich zwei Aufsätze des Sammelbandes versuchen diese Lücke zu füllen. Sowohl Lisa-Maria Tilian, als auch Martha Keil haben Ego-Dokumente untersucht, um die traumatischen Erfahrungen und Auswirkungen des Kriegsgeschehens innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu eruieren. Tillians Fokus liegt bei der Untersuchung von 54 deutsch-jüdischen Privatbriefen aus dem Jahre 1619 auf einer alltagsgeschichtlichen Perspektive, in der Alltag vor allem unter den Aspekten „Stabilität“ und „Wiederholung“ definiert wird. Die Briefe Prager Juden und Jüdinnen an Verwandte in Wien zeigen nicht nur den intensiven Kontakt zwischen beiden Gemeinden, sondern bieten vielfältige Erkenntnisse über die Lebens-, Gedanken- und Gefühlswelten von Juden dieser Zeit. Diese entsprachen zu weiten Teilen der allgemeinen Alltagsrealität der frühneuzeitlichen Gesellschaft: eine allgemeine Unsicherheit, gefährliche äußere Umstände durch den Krieg, die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die Bedrohung durch Krankheit und Seuchen. Eine speziell jüdische Komponente wurde vor allem in der Hochschätzung religiöser Gelehrsamkeit sowie in der Wahrnehmung der jüdischen Religion als stabilisierendes Lebenselement deutlich, ebenso in der expliziten Thematisierung der jüdischen Arbeiterschicht. Zudem gibt es interessante Hinweise auf die Umkehrung von Geschlechterrollen; so z.B. die fürsorgend-mütterliche Rolle, die ein Mann gegenüber seiner Tochter nach der Geburt des Enkelkindes zeigt, aber auch Ansätze für weitere Forschung, z.B. im Kontext von „Kulturtransfer“ in Form des postalischen Austauschs von Kleidung und Büchern, der in den Briefen belegt ist.

Unter anderem am Beispiel der Chronik „Milchama be-Schalom“ des Jehuda Leib bar Jehoschua aus Prag legt Martha Keil die jüdisch-religiösen Interpretationskonzepte für den Dreißigjährigen Krieg dar. Der Autor deutet den Krieg als Ausdruck göttlichen Handelns und als eine Art pädagogische Reaktion auf menschliches Fehlverhalten. Die Kriegsereignisse erinnern ihn dabei sogar an die Tempelzerstörung. Da aber Buße und Umkehr als Mittel gesehen werden, Gott zu besänftigen, wird das Gottvertrauen nicht erschüttert. Gleichzeitig waren Juden aber im Gegensatz zu früheren Kriegsgeschehen aktiv an der Stadtbefestigung und am Feuerschutz beteiligt, was ihre Stellung innerhalb der Stadtgesellschaft stärkte. Keil plädiert für eine Neuedition und genaue historische Auswertung der Chronik unter Berücksichtigung nichtjüdischer Quellen.

Iveta Cermanová beleuchtet in einem Perspektivenwechsel den Gegensatz von nichtjüdischem Individuum und jüdischer Gemeinde anhand des Zensors „in hebraicis“ für Böhmen, Karl Fischer (1757-1844), dessen Tätigkeit keineswegs isoliert von der jüdischen Gemeinschaft erfolgte. Vielmehr war er jüdischen Gelehrten durchaus freundschaftlich verbunden und hegte eine tiefe Vorliebe für die hebräische Literatur sowie die traditionelle jüdische Gelehrsamkeit.  Allerdings kam es mit den Jahren zu einer Radikaliserung seiner Ansichten – auch getragen von seiner Sympathie für die jüdischen Aufklärung – , die ihn an einer Modernisierung jüdischen Lebens zweifeln ließ und sich geradezu antisemitisch entwickelte, wenn er Juden „in der Rolle eines unbelehrbaren Volkes“[S. 152.] sah.

Mit der jüdischen Aufklärung, also der Haskala, beschäftigen sich auch die Beiträge von Louise Hecht und Wolfgang Gasser. Hecht erläutert das jüdische Bildungssystem in Böhmen und Mähren, das vor allem durch die Anstrengungen der jüdischen Aufklärer, der Maskillim, unter Druck geraten war. Diese wollten die auf Tora- und Talmudstudium beruhende jüdische Erziehung erneuern und um einen weltlichen Fächerkanon erweitern oder religiöse Fächer gar durch diesen ersetzen. Als infolge der Josephinischen Reform tatsächlich ein breites Netz jüdischer deutschsprachiger Schulen installiert wurde, wich die anfängliche Begeisterung bald Spannungen. Durch den Säkularisierungsschub wurde das traditionelle Element geschwächt und die religiösen Schulen ins Abseits gedrängt. Teilweise wurden die religiösen Cheder, denen von den Aufklärern autoritäre Strukturen und irrational-abergläubische Lehrinhalte unterstellt wurden, überraschenderweise jedoch von Lehrern wiederentdeckt, die sich durch die starren Begrenzungen des modernen Schulwesens eingeschränkt fühlten. Eine individuelle jüdische Perspektive auf die Revolutionsjahre 1848/49 stellt Wolfgang Gasser in seinem Aufsatz vor. Das von ihm inzwischen in einer kritischen Ausgabe herausgegebene Tagebuch [Wolfgang Gasser (Hrsg.), Erlebte Revolution 1848/49. Das Wiener Tagebuch des jüdischen Journalisten Benjamin Kewall, (Quellenedition des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 3), Wien 2010.] des aus Polná stammenden jüdischen Hauslehrers und Journalisten Benjamin Kewall gewährt Einblick in das Selbstverständnis des Autors, eines Anhängers der Haskala, der zwischen den Welten stand: einerseits mit der mangelden Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert, andererseits dem orthodoxen Judentum entfremdet. Diese Zerrissenheit verschärfte sich zudem biographisch durch den Zuzug orthodoxer Juden nach Wien sowie den wachsenden Antisemitismus.

Der letzte Beitrag schließlich liefert noch eine kunsthistorische Ergänzung zur jüdischen Kalligraphie und Buchmalerei im Mähren des 18. Jahrhunderts. Falk Wiesemann zeigt, wie die so genannte Mährische Schule einen „ originären Beitrag zur Kulturgeschichte des aschkenasischen Judentums in dieser Zeit“ [S. 205.] lieferte und die Schreiber keineswegs, wie lange angenommen, nur als Kopisten tätig waren. 18 Abbildungen von Illustrationen hebräischer Prachthanschriften ergänzen den Text.

Insgesamt ermöglich die Lektüre dieses lohnenden Sammelbandes eine Reihe überraschender und eindrucksvoller Erkenntnisse. Vor allem der Blick auf bisher vernachlässigte, vielen bisweilen eher als marginal erscheinenden Aspekte, aber auch alltagskulturelle Phänomene, sowie die Erschließung unbekannter oder noch wenig erschlossener Quellen geben tiefe Einblicke in das große Ganze und zeigen,– dies wird auch von den Herausgebern im Vorwort angesprochen – , dass unser Bild der jüdischen Geschichte Böhmens, Mährens und Schlesien bislang nur unvollständig ist und der dringenden Ergänzung bedarf. Und sie machen deutlich, wie spannend und lohnend Forschung in diesem vielschichtigen Geschichtsfeld sein kann.

Helmut Teufel, Pavel Kocman, Alexandr Putík, Iveta Cermanová (Hg.): Individuum und Gemeinde. Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien 1520 bis 1848. Jedinec a obec. Židé v Čechách, na Moravĕ a ve Slezsku 1520-1848.  Judaica Bohemiae XLVI – Supplementum, Židovské Muzeum v Praze/Jüdisches Museum Prag, Společnost pro dĕjiny židů v České Republice/Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Čechischen Republik, Praha – Brno 2011.

 


[1] S. 129.

[2] S. 152.

[3]

[4] S. 205.

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