Spuren jüdischen Lebens in Schwaben…
Über dem Eingangstor zum jüdischen Friedhof von Altenstadt-Illereichen, einer kleinen Gemeinde im Schwäbischen, erinnert die hebräische Inschrift „Den Geborenen zum Sterben – Den Toten zum Leben“ den Besucher an seine eigene Sterblichkeit und erhält ihm gleichzeitig die Hoffnung auf neues Leben. Daher wird der Friedhof im Hebräischen als Bet Olam, Haus der Ewigkeit, bezeichnet, worin sich ebenfalls das Vertrauen auf das ewige Leben ausdrückt. Auch der Begriff Bet Hachaim, Haus des Lebens, wird oft verwandt; hier offenbart sich desgleichen die Hoffnung auf die Auferstehung. Deshalb gehört nach jüdischem Verständnis der Boden, in dem die Toten ruhen, diesen auch bis ans Ende aller Tage. Ein Auflassen der Gräber, wie in der christlichen Tradition üblich, ist unvorstellbar. Das Gebot der ewigen Totenruhe zwang daher die jüdischen Gemeinschaften, die Grundstücke für den Friedhof zu erwerben. Weil dafür beträchtliche Summen aufgewandt werden mussten, befinden sich viele Gräberfelder sehr oft weit außerhalb der Ortschaften, an steilen Hängen, auf unfruchtbaren Böden oder in schlecht zugänglichen Waldstücken.
Diese teilweise Jahrhunderte alten Friedhöfe, manchmal auch Gebäude, die einst Synagogen beherbergten oder Mikwaot, sind die letzten Spuren einer ehemals blühenden jüdischen Kultur in Schwaben, die ihren Anfang bereits im 13. Jahrhundert nahm und ihr jähes Ende während der nationalsozialistischen Barbarei fand. Zunächst ist die Besiedlung in den Städten nachweisbar, später – bedingt durch die Vertreibung zum Ende des Mittelalters – in den zahlreichen kleinen Landgemeinden, wie etwa Binswangen, Fischach, Steinhart oder Buttenwiesen. Der bildende Künstler Martin Paulus hat die letzten Relikte dieser vergangenen und vergessenen Welt aufgesucht und über einen Zeitraum von zehn Jahren dokumentiert. Eine Auswahl seiner fotografischen Spurensuche ist nun in dem Bildband „Das leere Haus“ erschienen. Mit eindrucksvollen künstlerisch-ästhetischen, aber zuweilen auch trivial wirkenden Bildern überrascht und verwirrt Paulus den Betrachter. Er will nicht nur dokumentieren, sondern gleichfalls mit subjektivem Blick die Atmosphäre und damit die entschwundene Schattenwelt der Orte einfangen.
Blick auf den 1671 angelegten jüdische Friedhof von Harburg, Foto: © Volk Verlag (aus dem besprochenen Band)
Die Fotografien werden durch Aufsätze der beiden Historiker Edith Raim und Stefan Paulus ergänzt, in denen sie die Verfolgung während des NS-Regimes sowie weitere politische und kulturgeschichtliche Aspekte beleuchten. Abgerundet wird der Band durch einen autobiografischen Text des Schriftstellers Rafael Seligmann, dessen Großvater Isaak Raphael 1873 in Ichenhausen geboren wurde. Die Autoren sehen ihren Band auch als eine Art Reiseführer. Im Anhang sind deshalb Karten und Adressen verzeichnet, die zu einer Fahrt nach Altenstadt-Illereichen, Harburg, Ichenhausen, Hainsfarth oder andere Orte einladen. (jgt)
Martin Paulus/Stefan Paulus/Edith Raim, Das leere Haus. Spuren jüdischen Lebens in Schwaben. Fotografien und Essays, Volk Verlag München 2013, 216 Seiten, 24,90 €, Bestellen?
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