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Das Überleben der Fanny Englard

Von Köln über Hamburg und Riga nach Israel…

Von Roland Kaufhold

Fanny Englard war 16, als sie als Kind jüdisch-polnischer Einwanderer von Hamburg nach Riga deportiert wurde. Sie überlebte mit viel Glück das Ghetto Riga und die Konzentrationslager Kaiserwald und Stutthof. Sie fand auch Freunde im Überlebenskampf, u.a. die gleichaltrige Lilly Menczel, mit der sie bis heute befreundet ist.

Ende Mai 1947 ging Fanny Englard nach Israel. Israel wurde ihre neue, idealisierte Heimat. Hier fühlt sie sich sicher.1

Nun hat Fanny Englard eine kurze – bebilderte – Erinnerung an ihr Leben in Deutschland und an ihre Verfolgung verfasst, auf Deutsch.

Fanny Dominitz und Leo Englard
Fanny Dominitz und Leo Englard Ende 1945/Anfang 1946 in Liège, Belgien, Quelle: Privatbesitz Fanny Englard

Geboren wurde sie am 6.9.1925 in Köln, wo sie auch aufwuchs. Sie lebte, gemeinsam mit vier Geschwistern, in einer religiösen jüdischen Familie, diese religiöse Orientierung hat sie bis heute bewahrt. Viele ihrer deutschen Freunde waren Christen, anfangs fühlte sie sich ihnen verbunden. Sie hatten eine gemeinsame Sprache. In Köln besuchte sie die städtische Volksschule in der Lützowstraße, danach das jüdische Gymnasium Jawne – an dessen Existenz heute in Köln der kleine, berührende Gedenkort Jawne, mit dem davor gelegenen Löwenbrunnen, erinnert.

Ihr Vater suchte nach Möglichkeiten, in Polen eine neue Lebensgrundlage zu finden – was Fanny, aus der Perspektive des Kindes, als Verlust erlebte: „Es war ein trauriges Leben, weil der Vater nicht zu Hause war. Ich erinnere mich noch immer, dass jeden Freitagabend beim Lichtanzünden meine Mutter so fürchterlich geweint hat. Die ganze Woche hat sie sich heldenhaft benommen, aber am Freitagabend beim Lichtanzünden konnte sie anscheinend ihre Tränen nicht zurückhalten.“ (S. 25) 1938 wurde ihre Mutter von den Nationalsozialisten nach Polen ausgewiesen, sie nahm die beiden ältesten Söhne mit. Fanny blieb mit den beiden jüngeren Brüdern in Köln, kam in ein Waisenhaus, aus dem sie abzuhauen versuchte. Sie musste früh Verantwortung übernehmen: „Dann, im Januar 1939, bekam ich von meinem Bruder eine Postkarte. Er schrieb: `Fanny, wir brauchen dringend unsere Federbetten, wir liegen auf dem Boden. Es ist so kalt: wir brauchen sie wie ein Mensch braucht Augen zum Sehen´“ (S. 28) Das 13-jährige jüdische Mädchen wendet sich in seiner Not an das Polizeipräsidium – und es gelingt ihr, die Betten nach Polen zu verschicken, zu ihrer Mutter.

Mit 15 Jahren schickte sie das jüdische Jugendamt in eine Jugendhachschara nach Hamburg; dort liest sie die Schriften Leon Pinskers, mit dem sie sich identifiziert. Sie erhält eine hauswirtschaftliche Grundausbildung, um sich auf ein Leben im fernen Palästina vorzubereiten. Sie übernimmt Verantwortlichkeiten, für die sie eigentlich entschieden zu jung ist: „Ich bin ein Kämpfertyp und nicht so leicht unterzukriegen, wie man sagt. Deshalb habe ich vielleicht auch überlebt“ (S. 30f.) hebt Fanny Englard im Rückblick hervor.

Im November 1941 wird sie nach Riga verschickt, auch über diese schwierige Lebensphase der Verfolgung, des Überlebenskampfes schreibt sie ausführlicher. Sie muss verschiedene Tätigkeiten ausführen, Schneeschaufeln, Enteisen und Sortieren von Koffern – eine fürchterliche Zeit: „Das Schlimme war nicht der Hunger, sondern die ganzen zivilisatorischen Bedingungen, z.B. kein Tisch, kein Stuhl, kein Sich-Richtig-Waschen-Können, keine richtige Toilette. Das war so, wie wenn man in einen Abgrund geraten ist. Es war sehr schwer.“ (S. 42)

Im Ghetto Riga lernt sie Lilly Menczel (s.o.) kennen – eine überraschende Begegnung:

“…Und so kamen wir im Ghetto Riga an. Wir gingen durch das Tor. Und da plötzlich kommt ein Mädchen in meinem Alter auf mich zu und fragt mich: “Hast Du einen Bruder Leo Dominitz?” Ich verstand ihre Frage nicht, und sie erklärte mir, dass ich dem Leo Dominitz sehr ähnlich sähe und dass er bei ihnen in Köln mit der Familie zusammen gewohnt habe bis zur Deportation. Sicher, Leo war mein Bruder, den ich 1940 mit Isi zusammen im Kinderheim Köln zurückgelassen habe, als man mich nach Hamburg in das Jugendvorbereitungslager zur Auswanderung nach Palästina geschickt hatte. Es war eine komische Situation… (…) Selbstverständlich war die Freude sehr groß; ich wusste damals noch nicht, dass es das letzte Lebenszeichen meines Bruders Leo war, der am 24. Juli 1942 zusammen mit meinem Bruder Isi aus dem Kinderheim nach Minsk deportiert und am 28. Juli im Wald Blagowschtschina bei Trostenez, zwölf Kilometer von Minsk entfernt, erschossen wurde.” (S. 43-46)

Ein weiterer Aspekt: „Was ich noch betonen möchte: Viele haben den Gottesglauben verloren. Ich hatte den Gottesglauben nicht verloren. Im Gegenteil: Das Gebet von Rabbi Carlebach hat mich begleitet, und es hat meinen Gottesglauben gestärkt. Das Gebet `Höre Israel´, `Sch´ma Israel´, war immer auf meinen Lippen, und ich benutzte das Gebet als ein kleines Lichtchen, einen Hoffnungsstrahl: Vielleicht wird es gut. Das Gebet war für mich eine moralische Kraft.“ (S. 53)

Und sie lernte, erlebte – wir werden hier an die Schriften des Psychoanalytikers und KZ-Überlebenden Ernst Federns zur Psychologie des Terrors erinnert – , dass die menschliche Fähigkeit, schwerstes Leiden zu überleben, gelegentlich unvorstellbar ist. Fanny Englard überlebte auch eine mehrmonatige KZ-Haft, die Flucht nach der Befreiung. Sie kam nach Belgien, wo sie ihren späteren Ehemann Leo Englard kennen lernte. Dann aber, mit Beginn der Freiheit, „fing eigentlich die große Tragödie an, die Suchaktion nach unseren Lieben, denn man wusste ja nicht, wer alles überlebt hat.“ (S. 92) Nur ein Bruder hat überlebt, ihre Eltern und drei Geschwister sind von den Nazis ermordet worden.

Gemeinsam mit ihrem Freund ging Fanny Englard im Mai 1947 nach Israel. Heute lebt die 87-jährige in der Umgebung Tel Avivs. Sie haben zwei Töchter, sechs Enkel und acht Urenkel.

Fanny Englard in der Knesset
Fanny Englard in der Knesset in Jerusalem im Jahr 2003 oder 2004 aus Anlass des Gedenkens an die Shoa beim Kerzenanzünden, Quelle: Privatbesitz Fanny Englard

Fanny Englard: Vom Waisenhaus zum Jungfernhof. Deportiert von Hamburg nach Riga: Bericht einer Überlebenden (Hg. Von Gine Elsner). VSA-Verlag (Hamburg) 2009, Euro 12,80, Bestellen?

  1. Siehe: Matthias Küntzel:  Fanny Englard im Gespräch über die iranische Bedrohung und das Gedenken an die Shoa, http://jungle-world.com/artikel/2012/14/45183.html []

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