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Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung

Leseprobe aus Band 4: Nation, Krieg und Revolution der Ausgewählten Schriften Gustav Landauers…

Die vereinigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung. (25.11.1918)
In: Das Flugblatt. Hrsg. von Norbert Einstein. Frankfurt am Main 1918, Heft 3 [7 S.]

Von Gustav Landauer

Seliger Pufendorf [1], ich habe Dir längst abgebeten, und ich bitte Dir nochmals ab. Etwa 15 Jahre mochte ich alt sein, da kaufte ich mir für 20 Pfennig aus Reclams Universalbibliothek deine Verfassung des Deutschen Reiches und war erstaunt und betrübt, damit eine Beschreibung zu erhalten, dazu noch eine Beschreibung des längst Vergangenen, statt der Verfassungsurkunde des von Bismarck [2] gegründeten Reiches. [3]

Inzwischen habe ich aber gelernt, dass eine Verfassung nicht ein Papier mit Paragraphen, sondern ein tatsächlicher Zustand ist.

Nun ist wieder ein deutsches Reich gestorben, das in der Geschichte als vorübergehende Schöpfung der Gewalttat leben wird; der kriegerisch roh zurechtgehauene und zugleich diplomatisch klug gesponnene Fürstenbund mit scheindemokratischem Einschlag, den der Realpolitiker Bismarck den 48er Ideen entgegensetzte [4], ist tot, ist von der Revolution zertrümmert worden. Das alte Deutsche Reich, 1871-1918, existiert nicht mehr; es ist in Schmach zusammengebrochen; Schmach tritt da zu Tage, wo eine Scheinmacht in Staub verweht, weil niemand da ist, der zu ihr steht und sie hält. [5]

Jetzt gilt es, klar zu sehen, wollend zu sehen, was da ist und wird. Das Phantom zersplitterte an neuen Mächten, die ihre Lebenskraft wundervoll, keineswegs bloß stürzend, sondern im Umsturz bauend, mit Bauen einreißend, betätigten. Das waren die soldatisch-demokratischen, rebellisch-kommunalen Bewegungen, die an der Wasserkante und in Westdeutschland einsetzten, war die fegende Bewegung, mit der die Dynastien in ganz Deutschland entfernt wurden, war zumal die Gründung der Republiken in Österreich und in Bayern. [6]

Diese Dinge sind im Werden, im Wachsen, neue Abtrennungen und Angliederungen und Verbündungen sind gekommen und werden weiter kommen; ein prachtvoller öffentlicher Geist – gelegentliche Dummheiten und Auswüchse sind, wie die süddeutsche Redensart sagt, gleichgültig wie ein Kropf – weht durch ganz Deutschland, mit einer einzigen Ausnahme aber, dünkt mich, wo es sich nur dann um Nebensächliches handelt, wenn wir unsere Schuldigkeit tun: nach Berlin und den Teilen Preußens, die zu ihm gehören, scheint der neue Geist noch nicht gedrungen; da waltet noch scheinlebendiger Tod; da wird der Versuch gemacht, der so lange gefährlich ist, wie wir ihn nicht dazu verdammen, bloß kurios zu sein, die Kontinuität zu wahren, die Kontinuität des alten Reiches und die Kontinuität seiner irgendwie preußisch-cäsarischen Zentralregierung und seines öden Parteiwesens. Da regnet es Verfügungen fürs ganze Reich, ausgeheckt von ein paar zufälligen Berlinern, deren Mutter die Revolution sein mag, die in väterlicher Linie aber ganz gewiss vom Prinzen Max [7] und vom Kaiser und von Ludendorff [8] abstammen, ohne dass man die neuen autonomen Republiken auch nur gefragt hätte, ob sie diese Erlasse brauchen und brauchen können. Wäre es nicht einstweilen besser, fühlt nicht jeder, wie die Natur es erfordert, dass die Brandenburg-Preußen mit einiger Bescheidung für jetzt lediglich so für sich selber sorgen, wie es die anderen Republiken in Deutschland und Österreich tun? Fühlt nicht jeder, dass so und nur so das neue Reich herrlich und sicher zusammenwächst? Ich sage: die Brandenburg- Preußen; denn Preußen, das unorganisch zusammengestohlen ist, wird jetzt sofort wieder in seine natürlichen Bestandteile zerfallen. Schleswig geht; die Gebiete an der Wasserkante gehen; Hannover geht. Aus Rheinhessen, Kurhessen, Frankfurt, Nassau, der übrigen Rheinprovinz, Westfalen und Lippe-Detmold bildet sich eine westdeutsche Republik; sie ist unausbleiblich; diese Stämme taugen zusammen und taugen nie mit dem übrigen Preußen anders zusammen, als all die deutschen Republiken untereinander einen Bund bilden werden. Widerstrebt aber Großpreußen, will es nicht ein Glied unter Gliedern sein, sondern ein Haupt mit Vormacht, will es das alte Reich fortsetzen, dann wird sich Nordwest- und West- und Süddeutschland und Österreich zunächst als selbständiger Bund zusammenschließen; das ist die organische Entwicklung und wird ein Gebilde schaffen, das unüberwindlich ist.

Gegen diese frohe, sichere Stimmung, die mit Klarheit sieht und akzeptiert und fordert, was da ist und wird, regen sich zwei Bedenken: die Furcht vor der Entente und ihrem Verlangen nach einer verhandlungsfähigen und aus der Demokratie hervorgegangenen Spitze, und die Furcht vor der Diktatur des Proletariats, welche Furcht nicht nur in weiten Teilen des deutschen Volkes, sondern eben auch wieder bei den regierenden Kreisen der Entente besteht. So gehören die beiden Bedenken eng zusammen.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten, und wer zuletzt die politische Revolution macht, darf und soll sich die beste Demokratie erlauben.

Demokratie, Selbstbestimmung des Volkes und der einzelnen Gliederungen im Volk, ist ganz etwas anderes als der verruchte Wahlunsinn, welcher Abdankung des Volks und Regierung durch eine Oligarchie ist.

Unsere Revolution, hat schon angefangen, zu der echten Demokratie zurückzukehren, wie sie in den Gemeinde- und Landesversammlungen der mittelalterlichen Verfassungen, Norwegens und der Schweiz, vor allem aber in den Tagungen der Sektionen in der französischen Revolution vorgebildet ist.

Es soll keine atomisierten und abdankenden ‚Wähler’ mehr geben; es soll Gemeinden und Korporationen und Verbände geben, die in Gesamtversammlungen und durch Delegierte ihr Schicksal bestimmen. Delegierte der beschließenden Korporationen, Delegierte, die dauernd in engem Einvernehmen mit ihren Auftraggebern stehen, und jederzeit von ihnen abberufen und durch andere ersetzt werden können; imperatives Mandat, das sich nicht auf Regieren und Gesetze machen überhaupt, sondern auf die bestimmten Vorlagen bezieht, die die Exekutive oder die Initiative von Körperschaften dem Volk vorlegen. Dass die organischen Gliederungen des Volks wirklich über ihr Schicksal selbst bestimmen, dazu taugt nicht das atomisierende, ‚direkte’ und noch weniger das abscheuliche, geheime Wahlverfahren; beide gehören einer Zeit der Entrechtung, der Vergewaltigung, der cäsaristisch-demagogischen Beschwindelung der Völker durch Privilegierte und ihre Parteien an; die Republik ist die öffentliche Sache, das gemeine Wesen; da erledigt das Volk in seinen Korporationen öffentlich, unter eigener Verantwortung und permanenter Überwachung seine eigenen Angelegenheiten; weh dem, der politisch oder wirtschaftlich einen Druck ausüben wollte! Die Schmachzeit des Wahlklosetts, des Stimmzettelumschlags und des Suppentopfes oder der Urne mit dem Schlitz muss für immer vorbei sein.

Es muss wieder werden, wie es einst war: Da stellten die Männer das Werkzeug in die Ecke und nahmen die Waffen oder den Stock zur Hand und gingen zum Thing [9]. Da berieten sie über bestimmte Dinge der Gemeinschaft und all ihre überflüssige Arbeitslust strömte nun zusammen zu den öffentlichen Angelegenheiten. So traten die Dorfgemeinden und Stadtgemeinden zusammen, so gaben die Beauftragten Rechenschaft, so wurden neue Beauftragte ernannt, so gab es heiße Köpfe und Streit und Wut und Einigkeit und Beschluss und das war eine freie öffentliche Sache, und jeder stand seinen Mann und stand bieder und ehrenfest in seinen Stiefeln und wirkte fürs gemeine Ganze.

Es muss Gleichheit und Freiheit, es muss Föderation werden – von unten nach oben muss die Gliederung gehen. Bunt und mannigfaltig muss die deutsche Freiheit zumal sein: Was nur die Gemeinden angeht, ordnen die Gemeinden für sich, in Selbstverwaltung, der niemand hineinredet, und so weiter zum Bezirk, zum Kreis, zur Landschaft, zur Provinz, zur autonomen Republik, zum Bund deutscher Republiken und zum Völkerbund. Man wird nicht in romantischen Gelüsten altes ständisches Wesen nachahmen; es wird nicht alles in persönlichen Versammlungen geordnet werden müssen, wo der Funke der Mitteilung elektrisch von Ort zu Ort, von Land zu Land, über die Welt hin sprüht; man wird Vertrauen zu Mandataren haben und wird Genialität des Wirkens und Durchführens nicht beschränken; der Geist wird im Volk stehen und in ihm sein Recht und seine freie Bewegung finden. Aber das Volk in seinen Körperschaften wird bei seinem eigenen Schicksal dabei sein.

Dass diese Demokratie in unlöslicher Verbindung mit dem Sozialismus steht, erwähne ich hier nur; davon will ich besonders handeln. Eine Demokratie und ein Sozialismus wird es sein, wo jeder mit seinen Berufsgenossen und Gemeindekameraden beisammen ist, wo es Individuen als Isolierte, Losgelöste, Zersprengte gar nicht mehr gibt; wo aber Demokratie und Sozialismus mit ihrer korporativen und kommunalen Gliederung doch gerade bloß die Formen und Bedingungen sind, aus denen die in Geist und Beseelung ursprünglichen und selbständigen Individuen erwachsen.

Zu all dieser Entwicklung sind nun die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, wie sie die Revolution nach altrevolutionärem und neurussischem Muster sofort gebracht hat, der trefflichste Beginn. Wer ist denn kein Arbeiter? Die tüchtige Hausfrau ist eine Arbeiterin, der in seinem organisierenden Beruf tätige Kaufmann oder Fabrikant, ist ein Arbeiter, der Maler, der Bildhauer, der Musiker, der Schriftsteller sind Arbeiter, die Beamten sind Arbeiter. Dass da später manches anders werden wird, zumal in dem grässlichen Unfug und Unglück der rein geistigen Berufe, ändert fürs Erste nichts an der Sache. Ungeistige Arbeit hat es, absolut betrachtet, gar nie gegeben; von nun an wird es so etwas ganz gewiss nicht geben. Der Aktionär, wenn er sonst nichts ist, der Kuponabschneider und dergleichen Leute sind keine Arbeiter, sondern Schmarotzer; wie ihre wirtschaftliche Lage späterhin sein wird, darüber rede ich in diesem Zusammenhang nicht, deute nur an, dass ich zu allen, die sich nicht mehr umstellen können, als zu Invaliden sehr menschlich empfinde, und sie wie andere Hilfsbedürftige zu unterstützen vorschlage; – politisch kann keiner ein Recht haben, der nicht in dem weiten Sinn des produktiven Wirkens ein Arbeiter oder ein Bauer oder ein Soldat ist und also einer Berufskorporation angehört oder von ihr als Gast aufgenommen ist.

Keineswegs aber wird es so sein, dass es Fabrikantenräte oder Ladeninhaberräte und dergleichen als politische Körperschaften geben wird; zur Vertretung ihrer Klasseninteressen mögen sie private Vereine bilden, so viele sie wollen, und ebenso etwa die Schriftsteller und Künstler; aber für die Dinge des Gemeinwesens sitze der Fabrikant mit seinen technischen und kaufmännischen Gehilfen und seinen Arbeitern zusammen, ein Tätiger unter vielen; diese Gemeinschaft wird allen Teilen sehr gut tun; der Schriftsteller schließe sich an Verleger und Drucker und Buchhändler und Zeitungsverkäufer an; der Pfarrer an Ärzte und Totengräber; und wenn der Kunstmaler die Delegierten zu einem Arbeiterrat zusammen mit den Stubenmalern und Anstreichern, der Minister die seinigen mit den Kanalräumern und Straßenkehrern ernennt und überredet und informiert, so wird es für alle Teile und für den Geist unseres Volkes ein Segen sein. Für die Gesellschaft, die Jesus von Nazareth aufsuchte, werden auch unsere Intellektuellen nicht zu schade sein; der Geist, der ehrlich und Gemeingeist ist, übt seine Überlegenheit überall und setzt sich schließlich durch; nur ist es im Einzelfall keineswegs ausgemacht, ob das Herz des Arbeitsmannes nicht eine bessere und sicherere Entschließung trifft als das Hirn des Gelehrten oder die nach Reizen schweifende Phantasie des Dichters.

Wer sieht nun nicht, dass diese politische Gliederung der neuen, der echten Demokratie auf dem besten Wege ist, und dass sie auch auf organische Art von unten nach oben, zu der Spitze, zu dem Bundesrat führt, der Verhandlungen und Bünde mit dem Ausland nach dem gemeinsamen Willen des Volksganzen zu Stande bringt? Und wer fürchtet jetzt noch eine Diktatur des Proletariats? Ich würde sie auch, nein, nicht fürchten, sondern hassen und bekämpfen als Pest, wenn sie drohte; sie steht nicht bevor; bevorsteht, früher als irgendjemand ahnt, nicht die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats und die Erstehung der neuen Menschengesellschaft.

Und die Nationalversammlung? fragt vielleicht doch noch einer. Dem ginge es aber wie mir, dem Knaben, als ich im Pufendorf vergebens die Reichsverfassung suchte. Die Nationalversammlung habe ich mit alldem, was ich hier sagte, beschrieben. – Die Versammlungen aller in ihren Berufsgruppen eingegliederten arbeitenden Deutschen beiderlei Geschlechts haben in immer höher hinaufgehenden Stufen für die verantwortlichen Lenker ihrer Landesrepubliken gesorgt; diese treten durch ihre Delegierten – alles in voller geziemender Öffentlichkeit und unter Verantwortung – zum Bundesrat zusammen; soll nun etwa, wenn so das neue deutsche Reich sich in all seinen Gliedern zusammengefunden hat, noch einmal extra abgestimmt werden, ob es sein dürfe, was es ist, ob es werden dürfe, was es wird?!

Wir brauchen das organische Erwachsen von Tatsächlichem; es ist auf schönstem Wege; es muss nur weitergehen, im Geiste dieser Revolution.

Der Geist nämlich, meine Herren Intellektuellen, der Geist hat das alte Reich gestürzt und die Gliederungen des neuen, die im Werden sind, die schön sind, wie alles ist, was Jugend und Wachstum hat, ins Leben gerufen; der Geist von dem ihr töricht und anmaßend genug vermeint, ihr müsstet ihn nun als nachhinkender Tross der Revolution erst nachträglich liefern. Der Geist hat es angebahnt und durchgeführt und wird’s weiterführen, der unseren herrlichen, unseren gepeinigten, unseren nun befreiten und beglückten Soldaten, einer nicht allzu großen Schar Arbeiter und junger Leute und ihren Führern, unverwüstlichen Freiheitskämpfern unsterblicher Jugend, die ihr Utopisten gescholten habt, in die Hände und, wo es einen Augenblick Not tat, in die Fäuste gefahren ist. Fürs Wesentliche aber waren Fäuste keineswegs nötig; es ging nach dem fürtrefflichen Rezept, dass der jugendliche Präzeptor aller Revolutionäre, Étienne de La Boétie [10], im 16. Jahrhundert gegen die Tyrannis verschrieben hat: Das Volk half den kleinen Schmarotzern nicht mehr gegen sich selbst; das Volk setzte seine Regierung ein und ignorierte die Anwesenheit der Privatpersonen, die sich für die Herrschenden hielten. Da des Volkes allzu große Gnade nicht mehr bei ihnen war, hörte Gottes Gnade von selber auf. Was anderes soll denn diese humoristisch einfache Lösung eines Problems, das den Staatsgelehrten und Politikern das schwerste Rätsel war, mit dem sie in jahrzehntelangem Kopfzerbrechen nicht fertig geworden wären, zustande gebracht haben, ihr Klugen, Witzlosen, Gebildeten und Professoren, als der Geist?

Die Revolution ist der sieghafte Geist, der endlich, endlich sich verwirklicht hat; und die Nachzügler, die so ungeduldig jetzt dabei sein möchten, wie sie vorher vom Schuss geblieben sind, die jetzt so eifrig nach der Nationalversammlung rufen, wie sie beflissen sind, ihren Parteien neue Firmenschilder aufzukleben, sollten bedenken, dass der Geist keine Lokalität ist, wo es am Platze ist, sich vorzudrängen, dass er eher magisch erfüllte Zeit ist: Stille, Demut, Besinnung, Warten auf sich selbst wird denen gut tun, die zurückgeblieben und also von der Revolution im wahren Sinne überrascht, überholt worden sind.

Das alte Reich ist tot, seine Dynastien sind nichts mehr, seine Regierungen sind zusammengestürzt, auch seine Parteien sind in Wahrheit tot. Als der Ruf erschütternd an die Gewissen ging, als es galt, Schuld zu bekennen und Reue zu üben, da haben sie sich tot gestellt; jetzt, wo die Revolution gekommen ist, die ihnen niemals wie das alte System des Gewaltstaates Trog sein wird, möchten sie sich, um die Revolution zu erdrosseln und die Republik in schein-demokratische Herrschaft der Geriebenheit zu verwandeln, lebendig stellen. Sie appellieren an die Wählerei, an die Mehrheit derer, die noch nicht von der Revolution erfasst sind, an das, was sie ihre Nationalversammlung nennen! Der Geist der Revolution aber vertritt immer die Gesamtheit: Die Wirkungsmächtigen, die jetzt die Revolution durchgeführt haben und sie weiterführen sollen, vertreten genau das nämliche, was vorher die Propheten als ganz Vereinsamte vertreten haben; nicht eine zweckmäßige, zufällige Mehrheit der stets noch gegenwärtig scheinenden Vergangenheit, sondern das Kommende, das Werdende, das, was die Welt vorwärts bringt und beglückt, eine geschichtliche Gesamtheit und Gemeinschaft, die kommende Menschheit.

25. November 1918.

Nachschrift vom 6. Dezember: Inzwischen hat der Schlendrian des Parteiwesens schnödeste Siege über die Revolution errungen, die sich auf ihren Lorbeeren verschnaufte; so wird also die weitergehende Revolution längeren und schwereren Weg haben! [11]

Anmerkungen:
[1] Samuel Freiherr von Pufendorf (1632-1694), Jurist u. Philosoph, übte in der Schrift „De statu imperii Germanici“ (1667) Kritik an der Reichsverfassung. Sein Hauptwerk „De jure naturae et gentium libri octo“ (1672) prägte die deutsche Naturrechtslehre bis Kant.
[2] Zur Person siehe oben.
[3] Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich vom 16.04.1871, unterzeichnet von Kaiser Wilhelm I.
[4] In der sog. Paulskirchenverfassung (1849) der Frankfurter Nationalversammlung war eine konstitutionelle Erbmonarchie vorgesehen.
[5] Prinz Max von Baden (1867-1929), im Oktober 1918 zum Reichskanzler ernannt, verkündete die Abdankung Kaiser Wilhelm II. und übertrug Friedrich Ebert das Reichskanzleramt. Wilhelm II. (1859-1941), letzter deutscher Kaiser von 1888-1918.
[6] Siehe oben.
[7] Siehe oben.
[8] Erich Ludendorff (1865-1937), General, zusammen mit Generalstabschef Hindenburg verantwortlich für die militärische Kriegsführung im 1. Weltkrieg, sympathisierte mit Hitler, Teilnahme am Putsch vom 09.11.1923 in München.
[9] Bei den Germanen Volks- und Gerichtsversammlung.
[10] Étienne de La Boétie (1530-1563), frz. Schriftsteller, Humanist. Sein Essay „Discours de la servitude volontaire“ (Von der freiwilligen Knechtschaft) aus dem 16. Jahrhundert hat Gustav Landauer übersetzt und im „Sozialist“ 1910/11 wieder veröffentlicht (zuletzt: Frankfurt am Main 2009). Auch in seiner geschichtsphilosophischen Monographie „Die Revolution“ (1907; zuletzt: Münster 2003. Hrsg. von Siegbert Wolf) findet sich eine eingehende Rezeption von La Boéties Klassiker und der darin enthaltenen Aussage von der „freiwilligen Knechtschaft“.
[11] Die Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Deutschland entsandten Abgeordnete nach Berlin, die am 16. Dezember im Zirkus Busch zum „Ersten Allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte“ zusammentreten sollten. Um dies zu verhindern, planten SPD-Chef Friedrich Ebert (1871-1925), Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, und General Wilhelm Groener (1867-1939), damals faktisch Chef der Obersten Heeresleitung, mit Hilfe von nach Berlin beorderten Fronttruppen, am 15. Dezember die Kontrolle über die Hauptstadt zurückzugewinnen. Eines der dafür vorgesehenen Regimenter schlug am 6. Dezember zu früh los. Bei dem Versuch, den Vollzugsrat zu verhaften, feuerte die Truppe in einen Demonstrationszug von unbewaffneten, den Spartakisten nahe stehenden Soldatenräten, und tötete 16 Menschen. Der Durchsetzung der von der Sozialdemokratie angestrebten parlamentarischen Demokratie standen damit kaum noch Hindernisse im Weg, zumal die SPD auf dem Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember 1918 über deutliche Mehrheitsverhältnisse verfügte. Die Delegierten traten mit überwältigender Mehrheit für die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ein. Der Wunsch zahlreicher Delegierten, am Rätesystem als Grundlage der neuen Verfassung festzuhalten, fand auf dem Kongress kein Gehör. 

Leseprobe aus: Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften. Band 4: Nation, Krieg und Revolution. Hrsg., kommentiert, mit einer Einleitung und einem Namenregister versehen von Siegbert Wolf. Lich/Hessen 2011: Verlag Edition AV. [Bestellen?]

Gustav Landauers Verständnis von Nation entwickelte sich in Abgrenzung zu Nationalstaatlichkeit, Nationalismus und Ethnizität. Homogenität und Gleichmacherei im Rahmen bestehender Nationalstaaten stellte er seine libertäre Konzeption von gegenseitiger Hilfe, Gleichberechtigung und solidarischer Nachbarschaft entgegen. Staat, der für ihn nicht anderes vorstellte als Zwangsstruktur, und Nation blieben für ihn unverwechselbare Gegensätze, auf deren definitive Trennung er abzielte. Sein föderalistisches Verständnis einer nichtnationalistischen Nation sollte den abstammungszentrierten deutschen Ethnizismus ebenso ablösen wie das Konzept des westlichen Nationalstaates.

Frühzeitig warnte Landauer vor dem heraufziehenden Weltkrieg. Sein konsequenter Antimilitarismus und seine unerschütterliche Kriegsgegnerschaft zielten auf die dauerhafte Abschaffung aller Armeen sowie im Kriegsfall auf Boykott, Gehorsamsverweigerung, Desertation und Massenstreik bis hin zum Generalstreik.

Die Novemberrevolution 1918 bot Gustav Landauer von München aus die Chance, seinen freiheitlichen Sozialismus in einem föderalistischen und dezentralistischen Rätesystem zu verwirklichen – ein Bund autonomer, föderalistischer Republiken, basierend auf dezentralen Rätestrukturen. Im Rahmen der ersten bayerischen Räterepublik Anfang April 1919 übernahm Landauer das Amt eines Kultusministers und konnte hierbei auf ein detailliertes Konzept einer libertären Restrukturierung der Gesellschaft zurückgreifen. Schwerpunkte von Landauers Tätigkeit in der kurzlebigen Räterepublik betrafen das Schul- und Hochschulwesen sowie das Theater. Sein Engagement während der deutschen Revolution 1918/19 musste er mit seiner brutalen Ermordung seitens gegenrevolutionärer Soldaten Anfang Mai 1919 bezahlen. 

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