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Jüdischer Almanach Identitäten

Der neueste von Gisela Dachs im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp herausgegebene Jüdische Almanach widmet sich Identitäten und „präsentiert eine Fülle ganz unterschiedlicher Standortbestimmungen: persönliche, kollektive, säkulare und religiöse.“ Jüdisch zu sein war noch nie einfach, so die Herausgeberin in ihrem Vorwort, „doch es gab wohl noch nie so vielfache Arten und Weisen, jüdisch zu sein, wie in diesen Zeiten“…

Von Andrea Livnat

Die Beiträge umfassen wie in jedem Almanach das gesamte geographische Spektrum jüdischen Lebens. „Identitäten werden überschätzt“, lautet ausgerechnet der erste Satz im ersten Beitrag des Wiener Schriftstellers Robert Schindel zur „Leidensgeschichte jüdischer Identität“. Vom Erfolg des jüdisch-amerikanischen Magazins Heeb berichtet der New Yorker Herausgeber Joshua Neuman. Ein besonders eindrucksvoller Beitrag stammt aus der Feder von Meir Javedanfar über seine Kindheit in jenem Land, das derzeit Israel mit Vernichtung droht. Javedanfar, ein in Tel Aviv ansässiger Nahostexperte, empfindet es heute „als Glück, in Teheran aufgewachsen zu sein.“ Inmitten der tagtäglichen Diskussionen um die Politik Irans klingen seine Sätze wohltuend: „Ich bin fest von einer Wiederannäherung der beiden Länder überzeugt, die Geschichte hat gezeigt, daß ihre beiden Völker befreundet sein können.“

Unter dem Titel „Jüdische Hotline in Polen“ berichtet Konstanty Gebert von der Situation im Polen der 70er und 80er Jahre, als jüdisch sein nicht nur nicht einfach, sondern durchaus gefährlich war. Gemeinsam mit Kommilitonen hatte Gebert eine Gruppe formiert, die gemeinsam ihre jüdische Identität entwickelte: „Wir durchliefen einen kollektiven Lernprozeß, in dem wir Erfahrungen teilten, Einsichten gemeinsam entwickelten und Wissen weitergaben.“ Vollkommen Fremde wandten sich bald telefonisch an Gebert und die übrigen Gruppenmitglieder, um sich anzuschließen, auszutauschen oder einfach nur auszusprechen. Ein dialektischer Prozess, den Gelbert positiv zusammenfasst: „Was immer mein eigener Einfluß auf die Identität anderer Juden sein mag – es wird mir dann bewußt, daß meine eigene Identität durch diese anderen immer weiter geformt wird. Daß die Fragen, die in den anonymen Telefonstimmen mitschwangen, jene sind, die ich selbst immer wieder stellen werde.“

Den Weg einer russisch-jüdischen Familie zeichnet Sergey Lagodinsky nach, dessen Familie 1993 nach Deutschland kam und Integrationshürden und Sprachbarrieren hinter sich lassen konnte. Von „Russen in Israel“ berichtet Elena Gomel. Etwa 1,2 Millionen russische Einwanderer leben derzeit in Israel. Gomel fasst das durchaus komplizierte Verhältnis zwischen russischer Minderheit und Mehrheitsgesellschaft zusammen.

Einem Klischee und der damit verbundenen Identität widmet sich Maoz Azaryahu. Tel Aviv, Israels „kleiner Apfel“, und die „Tel Aviviut“, lässt er in zahlreichen Zitaten lebendig werden, die vom Mythos der Stadt und seinem Stellenwert für das israelische Selbstwertgefühl zeugen. Der Schriftsteller A.B. Jehoschua hinterfragt die israelisch-jüdische Identität und plädiert für die Einbeziehung nichtjüdischer Bewohner als Fortsetzung der zionistischen Revolution. Yehuda Shenhav, Professor für Soziologie in Tel Aviv, der zahlreiche Publikationen zu den sog. Misrachim vorgelegt hat, stellt die Situation der arabischen Juden in Israel in einem sehr persönlichen Beitrag vor und schließt mit der Frage: „Warum ist der Diskurs über die arabischen Juden in Israel derart komplex, emotionalisiert und anscheinend für alle Beteiligten ein solch gefährliches Terrain?“

Der Tel Aviver Rechtsanwalt Dan Assan schreibt über „Die deutschen Israelis“ und meint die mehr als 100.000 Israelis, die als Nachkommen deutscher Juden die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben. Lutz Fiedler zeichnet einen aktuellen akademischen Sprachenstreit nach, der die Kontinuität des biblischen Hebräisch im heutigen israelischen Hebräisch zum Gegenstand hat.

Zwei Beiträge widmen sich dem ultraorthodoxen Judentum, beide jedoch auf Umwegen. Liliane Targownik stellt die 1989 gegründete religiöse Filmschule Ma’ale in Jerusalem vor und konstatiert: „Bei der Gründung stand die Filmschule stellvertretend für den noch zaghaften Aufbau einer neuen jüdischen Religiosität. Heute, nach zwanzig Jahren, steht sie für deren Ankunft in der Mitte der Gesellschaft.“ Varda Lifshitz von der Organisation Hillel berichtet von der Kehrseite dieser Lebenswelt. In einem Interview berichtet sie von Jugendlichen, die die ultraothodoxe Welt verlassen, ein dramatischer Schritt, bei dem Hillel unterstützend zur Seite steht, in praktischen Fragen, um die Einsamkeit aufzufangen und schließlich den Neuanfang im säkularen Leben zu ermöglichen.

Von der Komplexität des Jüdischseins jenseits der Halacha und Fragen der Konversion schreibt schließlich Daan van Kampenhout in sehr persönlicher Weise. Der Beitrag spiegelt gerade durch seine offenen Worte besonders deutlich das Dilemma jener Menschen wieder, die sich jüdisch fühlen, es aber aufgrund des jüdischen Religionsgesetzes nicht sind. Enttäuschend im Band ist lediglich der letzte Beitrag des Kulturmanagers Avi Feldman, der über das Verhältnis der Israelis zu Deutschland und Berlin schreibt. Auch dieser Beitrag ist sehr persönlich, bleibt dabei jedoch oberflächlich und nichtssagend.

Im Ganzen ist der Almanach „Identitäten“ jedoch eine spannende, vielseitige und intelligente Lesereise quer durch das Mosaik jüdischer Lebenswelten.

1 comment to Jüdischer Almanach Identitäten

  • Robert Schlickewitz

    Vielen Dank, liebe Andrea, für diesen informativen Überblick.
    Unseren deutschen Lesern, die sich für die Israelis und ihr Leben interessieren, möchte ich ganz besonders den von Dir erwähnten Schriftsteller Alef Bet
    („Der Schriftsteller A.B. Jehoschua hinterfragt die israelisch-jüdische Identität und plädiert für die Einbeziehung nichtjüdischer Bewohner als Fortsetzung der zionistischen Revolution.“)
    nahelegen. Vielleicht sollte man, wenn man bei ihm ‚einsteigt‘, mit dem von purer Menschlichkeit geradezu strotzenden Roman „Späte Scheidung“ beginnen. Das wäre auch für unsere Israel-Basher eine Gelegenheit eine besinnlich-lehrreiche ‚Pause‘ einzulegen, vor allem, weil sie nach der Lektüre gar nicht anders können werden, als zu dem Schluss zu gelangen, wie ähnlich wir Menschen uns doch im Grund alle sind.