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„In den Städten sammelte sich eine kleine Schar überlebender Juden…“

Über den Neuanfang im Land der Mörder…

„Die Existenz einer organisierten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nach 1945 war alles andere als selbstverständlich,“ schreibt Andrea Sinn in ihrer soeben erschienenen Publikation „Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik“. Obwohl einige Veröffentlichungen über den jüdischen Neubeginn nach 1945 vorliegen, betritt die an der University of California (Berkeley) lehrende deutsche Historikerin mit ihrer Arbeit Neuland, da sie nicht nur deskriptiv vorgeht, sondern erstmals die Biografien der entscheidenden Akteure in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt sowie deren Handlungen und Wirkungsorte im politischen Kontext der jungen deutschen Republik analysiert.

Die Dissertation der erst 33-jährigen Professorin ist übersichtlich und klar gegliedert: Nach der Darstellung des schwierigen Neubeginns im Land der Täter, der so manche Konflikte mit den mehrheitlich osteuropäischen Displaced Persons mit sich brachte, stellt die Autorin die zwei wichtigsten und einflussreichsten Vertreter des deutschen Judentums der Nachkriegszeit vor: Karl Marx und Hendrik van Dam. Beide waren in Deutschland geboren, verbrachten die NS-Zeit im britischen Exil und kehrten kurz nach der  Niederschlagung des NS-Regimes in ihre Heimat zurück. Obwohl Marx ursprünglich für eine Emigration der überlebenden Juden – hauptsächlich nach Erez Israel – eintrat, ließ er sich von den deutschen Nachkriegspolitikern wie Heuss und Adenauer überzeugen, einen jüdischen Neubeginn in Deutschland zu wagen. Auch für seinen Kollegen van Dam, ein Mitarbeiter der britisch-jüdischen Hilfsorganisation Jewish Relief Unit (JRU), stand die soziale und medizinische Versorgung der auf die Auswanderung wartenden Überlebenden im Mittelpunkt seiner Arbeit. Zudem bemühte er sich, die Restitution von geraubtem jüdischen Eigentum auf den Weg zu bringen. Als 1950 seine Tätigkeit für die JRU zu Ende ging, entschloss sich van Dam jedoch in Deutschland zu bleiben. Er nahm den Posten des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Deutschland an.

Karl Marx und Hendrik van Dam (1955)
Karl Marx und Hendrik van Dam kurz vor dem Abflug nach Israel (1955)
Foto: aus dem besprochenen Band (Archiv Jüdische Allgemeine)

Nachdem Andrea Sinn den Werdegang von Marx und van Dam sowie deren bemerkenswertes Engagement für die jüdischen Interessen nachgezeichnet hat, dokumentiert sie nun die Wirkungsstätten der beiden Protagonisten: den Zentralrat und die Jüdische Allgemeine. Ausführlich und kenntnisreich wird die Gründung und Struktur des Zentralrats sowie die Vorgeschichte der überregionalen jüdischen Zeitung dargestellt. Dabei beschreibt sie auch das Zusammenspiel von Personen und Ämtern: Karl Marx wirkte als Herausgeber der Zeitung und Hendrik van Dam als ZR-Generalsekretär.

Jüdische Politik und Presse in der frühen BundesrepublikIm nächsten Kapitel, dem umfangreichsten Textteil, befasst sich Sinn mit der innerjüdischen Entwicklung und den großen Herausforderungen, mit denen die rund 15.000 Mitglieder zählende jüdische Nachkriegsgemeinschaft während der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts konfrontiert wurde. Gleichzeitig beleuchtet sie die an die Gesellschaft gerichtete Interessenpolitik des Zentralrats in der jungen Bundesrepublik.

Neben den persönlichen Aufzeichnungen der beiden Hauptakteure Marx und van Dam, Korrespondenz, Sitzungsprotokollen des Zentralrats sowie Zeitzeugengesprächen stützt sich die Autorin auf die Auswertung zahlreicher Artikel aus der Jüdischen Allgemeinen, die schon 1946 als Jüdisches Gemeindeblatt in der britischen Besatzungszone gegründet worden war. Bei ihren jahrelangen Recherchen führte sie ihr Weg in deutsche, niederländische, israelische, US-amerikanische und britische Archive.

Andrea Sinn hat sich, wie sie selbst schreibt, ein hohes Ziel gesetzt: Sie wollte nicht weniger als „eine fundierte Geschichte der institutionellen Etablierung jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 unter Einbeziehung der Biografien der Hauptträger der politischen Arbeit“ vorlegen. Das hat sie zweifelsohne mit ihrer quellengesättigten, akribisch recherchierten und lebendig geschriebenen Publikation in hervorragender Weise umgesetzt. Chapeau! – (jgt)

Andrea Sinn, Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2014, 400 Seiten, 59,99 €, Bestellen?

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