Jüdische Stimmen im Diskurs der sechziger Jahre – eine interessante, höchst aktuelle Lektüre…
Von Roland Kaufhold
Ein lesenswerter, informativer Band liegt vor mir. Eingeleitet wird er durch ein Gespräch von Jürgen Habermas mit Rachel Salamander, betitelt mit „Jeder von den Emigranten konnte nach 1945 nur als Jude zurückkommen!“. Ihre disparaten Lebenswelten und Familienbiografien scheinen nicht zueinander zu passen, ein problematisches Gesprächsteam. Rachel Salamander, in einem DP-Lager geboren, hat mit ihrer Münchner jüdischen Buchhandlung maßgebliche und beeindruckende Beiträge zur Wiederbelebung einer jüdischen Kultur in Deutschland geleistet. Ihr erzählender Beitrag ist berührend, zugleich ausgeprägt pessimistisch gehalten. So insistiert Salamander darauf, dass Habermas´ geistiger Vater Adorno sich selbst nie als Jude verstanden habe. Habermas will dies nicht so stehen lassen (S. 16f.).
„Meine Aufgabe war, die Welt zu verändern. Jetzt müssen andere sie interpretieren“. Diese treffende Formulierung betitelt das umfassende Interview (S. 19-40) von Norbert Frei mit Daniel Cohn-Bendit. Cohn Bendit, im April 1945 als jüdisches Flüchtlingskind in Frankreich geboren, hat als libertär-anarchistisch inspirierter „68er“ die deutsche und französische Politik, insbesondere deren Diskussionskultur, maßgeblich beeinflusst. Sein Vater Erich war 1950 als Jurist nach Deutschland – genauer: nach Frankfurt am Main – zurück gekehrt und hatte u.a. die dortige Jüdische Gemeinde juristisch beraten.
Daniel Cohn-Bendit – der im Interview betont, nun wirklich das letzte mal über „68“ zu sprechen – zeichnet seine Auseinandersetzungen insbesondere mit Vertretern Kommunistischer Parteien („Ich glaube, ich war Zeit meines Lebens immer einer der radikalsten Anti-Kommunisten“) (S. 21) sowie die Umstände seines „Rauswurfes“ aus Frankreich nach, 1968. In Paris kam es zu großen Solidaritätsdemonstrationen für den jungen rebellischen, „deutschen“ Juden: „Wir sind alle deutsche Juden“ war das Echo in den Straßen von Paris, 1968: „Das bleibt für mich der emotionalste und einer der stärksten Momente dieser Mai-Revolte. Diese Solidarisierung ohne Wenn und Aber ein Jahr nach dem `67er Krieg, als es harte Auseinandersetzungen in Frankreich gab gegen Israel, von allen möglichen Seiten.“ (S. 22)1
Daniel Cohn-Bendit wurde unmittelbar nach der Landung der Alliierten in Frankreich geboren – „deswegen“, so fügt er lakonisch hinzu, „ist die Dankbarkeit den Amerikanern gegenüber für mich einfach etwas Existentielles. Ich wäre einfach ohne die Landung der Alliierten nicht geboren worden.“ (S. 22f.) Die ersten 15 Jahre galt er als staatenlos. Als Franz Josef Strauß 1956 einen Erlass ausgab, gemäß dem Kinder von Verfolgten des Holocaust nicht zur Bundeswehr müssten, erkannte Cohn-Bendits pragmatisch eingestellter Vater diese Chance. Daniel wurde Deutscher: „Ich glaube, ich bin der einzige Mensch dieser Welt, der Deutscher geworden ist, um nicht ins Militär zu gehen.“ (S. 23)
Er beschreibt, von seinen eigenen Erfahrungen augehend, die Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen Kultur und politischen Situation jener Jahre. Anregend die Betrachtungen zu den verschiedenen Phasen der „Vergangenheitsbewältigung“. Interessant seine – zufällige – Begegnung mit der familiären Freundin Hannah Arendt beim Auschwitzprozess, 1961: „Es gab einen Satz, den wir beide sagten: Es ist entsetzlich. Und sie sagte: Ja, und es ist schwer auszuhalten. Und wenn etwas entsetzlich und schwer auszuhalten ist, dann verdränge ich das.“ (S. 38)
Es folgt im Band eine sehr gelungene Gesprächsrunde mit Michael Brenner, Awi Blumenfeld, Dan Diner und Rachel Salamander (S. 41-60) über jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, in welches sich auch Cohn Bendit einschaltet. Er selbst hat nie direkte Kontakte zur Frankfurter Jüdischen Gemeinde gesucht. Und doch findet sich eine Fortsetzung seiner jüdischen Familienbiografie: Sein Sohn (der nach jüdischem Gesetz) kein Jude ist, ist heute in Frankfurt Trainer bei Maccabi: „Und dann sehe ich plötzlich, dass bei Maccabis B-Jugend die Mannschaft aus fünf Juden, drei Türken, fünf Arabern besteht, und ich sage: Ey, da läuft was Gutes! Das ist die Dimension der Normalisierung, die wir uns gewünscht haben.“ (S. 56).
Das Gespräch dieser vier jüdischen Diskutanten mit recht unterschiedlichen Biografien kreist immer wieder um den problematischen Begriff der Jüdischen Identität – der hier auf haGalil auch jüngst verschiedentlich thematisiert worden ist.
Dan Diner, der heute als einer der produktivsten, schwer zu lesenden Kulturwissenschaftler gilt – er lehrt sowohl in Israel als auch in Deutschland – , gehörte in den 70er und frühen 80er Jahren zu der winzigen Gruppe der linken, jungen Juden der nachwachsenden Generation in Frankfurt/M. Von diesem Engagement hat er sich aus leicht nachvollziehbaren Enttäuschungen weitestgehend zurück gezogen. Er hebt mehrfach den Rahmen der „geschützten Öffentlichkeit“ (S. 43) hervor, der überhaupt erst eine solche Diskussion ermögliche. In der ihm eigenen abstrakten Begrifflichkeit rekonstruiert er die gesellschaftlichen und politischen Diskurse in Deutschland über die Shoah, die tiefe, rasch in das Vernichten-Wollen abstürzende Ambivalenz. Insbesondere „linke“ deutsche Juden erlebten sehr rasch ihre eigene Instrumentalisierung durch „politische“ Deutsche – deren vorgegebene politische Positionierung war hierbei letztlich nicht so bedeutsam: „Je gewichtiger die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart wurde, desto stiller musste es um sie werden, wollten sie nicht die Rolle des partikularen Juden übernehmen, der im Singular für das Plural der Juden spricht.“ (S. 43)
Sehr ansprechend fallen die erinnernden Beiträge Rachel Salamanders aus. Sie wurde zwar in Deutschland – in einem DP-Lager – geboren, hatte jedoch „mit der deutschen Gesellschaft absolut nichts zu tun.“ (S. 44) Ihre Familie sprach jiddisch, Kontakte zu Deutschen existierten letztlich nicht: „Wir sind erzogen worden gegen Deutschland, wir sind groß geworden mit den Gesprächen der Überlebenden.“ (S. 44) 1956/57 zog ihre Familie nach München, d.h. eigentlich wanderte sie nach Deutschland ein; bis zur 2. Klasse in der Grundschule sprach sie kein deutsch: „Ich kam in eine absolut fremde Welt.“ (S. 44) Und: „Mir ist das lebhaft in Erinnerung geblieben. Der große Unterschied bestand und besteht darin, dass die nicht-jüdischen Deutschen immer wussten, wer wir sind, und wir nie wussten, wer unser Gegenüber war.“ (ebd.) In München, in ihrer Nachbarschaft, sprach man rasch vom „Judenhaus“. „Diese Asymmetrie von Wissen und Verschweigen hat sich bis heute erhalten.“ (S. 44f.) Erste Besuche in Israel, als junge Erwachsene, machten ihr ihre Verlorenheit, ihre nicht-Zugehörigkeit, sehr schmerzhaft deutlich: In Israel, in Gesprächen mit israelischen und amerikanischen jungen Juden, wurde sie zuerst als Deutsche wahrgenommen, die – aus nicht nachvollziehbaren Gründen – weiterhin „im Land der Täter“ lebe.
Als Rachel Salamander ab den späten 60er Jahre erste, vorsichtige Versuche unternahm, sich in Deutschland politisch einzumischen, wurde ihr unmissverständlich deutlich gemacht, dass dies ein Fehler ist: „Aber es kam, wie es kommen musste: An Israel schieden sich die Geister. Gab man nicht gleich zu verstehen, dass man gegen die israelische Politik ist, war man sehr schnell wieder isoliert.“ (S. 45) Diese Beobachtungen und Erfahrungen von der „auffällig kritisch eingenommenen Haltung zu Israel“ (S. 46) werden auch von Dan Diner – „ich spreche äußerst ungern in erster Person“ (S. 46) – und Awi Blumenfeld geteilt.
Der an der Bar Ilan Universität in Ramat Gan tätige Historiker Awi Blumenfeld berichtet von der Biografie seiner Eltern, die ihn prägte: Die Erfahrungen des Ghettos – so formulierte sein Vater in privaten Briefen – waren ihr Gymnasium, Auschwitz war ihre Universität. Diese verstörenden Erfahrungen brannten sich in ihr zukünftiges Leben ein. Im DP-Camp in Mittenwald lernten sie sich als Jugendliche kennen, heirateten bald. Über Schweden, Kanada und Israel kamen sie zurück nach Deutschland – „durch Zufall“, wie so viele der heute in Deutschland lebenden Israelis. Blumenfelds Großmutter war besuchsweise nach Deutschland gereist, um die „Wiedergutmachungsgelder“ zu beantragen und wurde hierbei krank. Sie blieb. Seine Eltern besuchten sie, und blieben gleichfalls. Blumenfeld erzählt über das winzige intellektuelle Milieu Münchens, welches ihn als Jugendlichen und Studenten prägte. Von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde es nicht. Vor allem aber wurde er „als Kunde“ durch Rachel Salamanders Münchner jüdische Buchhandlung inspiriert (S. 51).
Abgeschlossen wird der Band durch die Dokumentation und Kommentierung (Michael Brenner) eines Briefes von Fritz Kortner an Eleonore Sterling aus dem Jahr 1962. „Ansonsten macht der klerikale Antisemitismus und Faschismus vor der Prominenz halt. Doch sorgt er insgeheim dafür, dass kein jüdischer Baum in den Himmel wächst“ ist er überschrieben.
Ein gelungenes Themenheft!
Jüdische Stimmen im Diskurs der sechziger Jahre. In: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur, Jg. 6, Heft 1/2012, Hg.: Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 78 S., 7,50 Euro zzgl. Porto, Bestellung: juedische.geschichte(at)lrz.uni-muenchen.de
- Ergänzend sei auf diese Rede Daniel Cohn Bendits in Israel verwiesen, wohl 2012: http://www.youtube.com/watch?v=qrL0nN0Uvp4 [↩]
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