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Esther Bejaranos Erinnerungen

»Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück.« Dies sagt eine Frau von sich, deren Eltern und Schwester von den Nationalsozialisten umgebracht wurden; die selbst die unfassliche Grausamkeit des Vernichtungslagers Auschwitz er- und überlebt hat: Esther Bejarano…

Esther Bejarano: ErinnerungenIn ihren Erinnerungen, die hier erstmals in deutscher Fassung vollständig vorliegen, erzählt sie in ihrer einfachen Sprache, die das Ungeheuerliche umso eindringlicher hervorruft, von der Shoah, von großem Leid und Verlust. Doch enden die Aufzeichnungen hier nicht: Sichtbar wird auch Esther Bejaranos Kraft, die es ihr ermöglichte, nach diesen Erfahrungen weiterzuleben.

Seit mehr als dreißig Jahren ist sie eine Kämpferin gegen das Vergessen, die ihre Geschichte an Schulen erzählt und mit den Mitteln der Musik leidenschaftlich gegen jede Art von Intoleranz angeht.

Die Aufzeichnungen werden ergänzt durch ein Gespräch Esther Bejaranos mit der italienischen Journalistin Antonella Romeo. Mit einem Grußwort der Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler und einem Nachwort des italienischen Historikers Bruno Maida sowie einer sehr persönlichen Einlassung der Journalistin und Schauspielerin Peggy Parnass.

Die beigefügte DVD zeigt ein Interview mit Esther Bejarano und Ausschnitte eines gemeinsamen Konzerts mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia (Regie: Elena Valsania).

Esther Bejarano: Erinnerungen, Laika Verlag 2013, 208 S., Hardcover mit Schutzumschlag + DVD (Konzertmitschnitt und Interviews), Euro 21,00, Bestellen?

Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Laika Verlags:

Ravensbrück

Von Esther Bejarano

Von den siebzig Frauen kannte ich vorher niemanden. Bald waren wir eine Gruppe, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl verspürte. In Ravensbrück kamen wir erst für vier Wochen in Quarantäne. Wir brauchten nicht zu arbeiten. Das Essen war viel besser als in Auschwitz. Meine Avitaminose verschwand allmählich. Nur hinterließen die Furunkel richtige Narben oder dunkle Flecken, von denen aber später nichts mehr zu sehen war. Nach der Quarantäne wurden wir in einen anderen Block verlegt. Auf diesem Block befanden sich alle möglichen Häftlinge: politische Gefangene, »Asoziale«, Schwerverbrecher. Nun mussten wir wieder arbeiten. Zuerst arbeitete ich bei den Kohlen. Wir mussten die Kohlenloren aufladen, sie an eine bestimme Stelle schieben und sie dann wieder abladen. Die Arbeit war schwer und dreckig, ich konnte das nicht lange schaffen. Ich arbeitete einen Monat dort und bewarb mich dann, um bei der Firma Siemens[1] angenommen zu werden. Man musste dafür einen Test machen, der sehr leicht war, und so wurde ich bei Siemens angenommen und fing sofort dort an zu arbeiten.

Die Filiale der Siemens-Werke war ziemlich groß. Ich arbeitete in Halle 4, wo Montagearbeiten durchgeführt wurden. Wir bauten Schalter für Unterseeboote. Als Vorarbeiter hatten wir Zivilisten, die jeden Morgen aus Berlin angereist kamen. Zwei von diesen Vorarbeitern waren besonders nett zu uns. Ich hatte das Glück, Frau Hintze, eine von den netten, als Vorarbeiterin zu haben. Sie brachte uns oft etwas zu essen mit oder kümmerte sich um unsere Post, indem sie sie mit nach Berlin nahm und sie dort in den Kasten steckte. Das war eine besonders große Hilfe für uns. Ich hatte noch eine Tante in Berlin. Sie war die Schwester meines Vaters, sie war Halbjüdin und heiratete einen »Arier« und konnte deshalb den ganzen Krieg über in Berlin bleiben. Ich schrieb ihr einige Briefe, die Frau Hintze für mich beförderte. Da gab es noch den Herrn Nietzsche, der auch unheimlich nett zu uns war. Die Vorarbeiter hatten große Angst vor den SS-Aufseherinnen, die bei Siemens ausnahmslos besonders brutal waren. In unserer Abteilung arbeiteten viele Ukrainerinnen. Ich wohnte mit ihnen im selben Block. Sie konnten ganz gut Deutsch mit uns reden. Aber bei der Arbeit sagten sie immer nur das eine Wort in Russisch: Ne panemaju, ich verstehe nicht. Frau Hintze machte mir eines Tages den Vorschlag, ich sollte Russisch lernen, dann könnte ich Vorarbeiterin am Russentisch werden.

Nun, Vorarbeiterin wollte ich schon gar nicht werden, weil ich erstens nicht über meinen russischen Kameradinnen stehen wollte, und zweitens, weil ich Angst hatte, für irgendwelche Fehler verantwortlich gemacht zu werden. Ich besprach das erst mal mit den Ukrainerinnen, die ganz begeistert waren, dass ich ihnen die Anweisungen geben sollte und nicht diese Deutsche. Also lernte ich die wichtigsten Worte in Russisch und meldete Frau Hintze, dass ich Vorarbeiterin sein würde. Sie hatte großes Vertrauen zu mir, was mir sehr half. Frau Hintze machte immer die Muster. Nach diesen Mustern bauten dann die Montiererinnen die Schalter. Die Schalter bestanden aus einzelnen kleinen Federn, die alle verschieden waren. Die Reihenfolge musste beim Bauen genau stimmen, sonst funktionierten die Schalter nicht. Eine einzige falsch eingesetzte Feder machte den Schalter unbrauchbar. Das Muster wurde nach einer Zeichnung zusammengesetzt. Frau Hintze gab mir sehr oft die Zeichnung, und ich stellte danach die Muster her, welche im Allgemeinen von Frau Hintze kontrolliert und mit ihrem Namen oder einem H abgezeichnet wurden. Das brachte mich auf die Idee, einige Muster falsch zusammenzusetzen, sie von Frau Hintze abzeichnen zu lassen und in Arbeit zu geben. Ich hatte zuvor schon etliche Male gehört, dass Schalter zurückkamen, die falsch zusammengebaut worden waren. Die Vorarbeiter, die dafür verantwortlich waren, wurden nicht zur Verantwortung gezogen, also hatten sie nichts zu befürchten. Die Häftlinge hatten auch nichts zu befürchten, weil sie ja die Muster von den Vorarbeitern erhielten. Frau Hintze zeichnete die von mir hergestellten Muster meistens ab, ohne sie zu kontrollieren. So konnte ich die Sabotage wagen. In der Folge kamen einige tausend Kisten mit Schaltern wieder zurück und mussten noch einmal hergestellt werden, was eine gewaltige Verzögerung bedeutete. Wir freuten uns, dass uns die Sabotage geglückt war. Am Abend sangen wir und tanzten vor Freude, dass wir das geschafft hatten. Die Ukrainerinnen waren mit mir sehr zufrieden. Sie brachten mir einige russische Lieder und Volkstänze bei. Schade, dass ich sämtliche Namen meiner Freundinnen in Ravensbrück vergessen habe.

Auch in Ravensbrück gab es die Möglichkeit, sich Pullis, Schuhe und Mäntel mit der Brotration zu kaufen. Ich erinnere mich, dass ich einen grünen Mantel kaufte. Wenn wir Zivilkleidung tragen wollten, mussten wir sie auf dem Rücken mit einem großen weißen Kreuz kennzeichnen. Ich ging schon mindestens drei Monate mit meinem grünen Mantel zur Arbeit. Eines Tages fühlte ich an der Schulter des Mantels etwas Hartes. Sofort durchsuchte ich auch noch die Säume und andere Stellen des Mantels und fand auf der linken Seite des Mantels noch einen harten Gegenstand. Da ich keine Schere besaß, bat ich Frau Hintze, mir doch ihre Schere zu leihen. Ich meldete mich zum Austreten. Die Toiletten waren außerhalb der Hallen. Ich zog meinen Mantel an und verschwand auf die Toilette. Dort trennte ich an den besagten Stellen die Nähte auf. Zwei herrliche Ringe kamen zum Vorschein. Ich bekam eine schreckliche Angst, dass man mich mit den Ringen erwischen würde. Das konnte mich den Kopf kosten. Wir mussten doch alle Schmuckstücke schon in Auschwitz abgeben. Außerdem hatten wir schon lange keinen Schmuck mehr, jedenfalls keinen wertvollen Schmuck, da Juden ja in Deutschland schon alles bei der Silber- und Goldabgabe an den Staat abgeben mussten. Was sollte ich mit den Ringen machen? Einer war mit einem Smaragd und ringsum mit kleinen Brillanten geschmückt. Der andere war ein ziemlich großer Brillantring. Ich dachte mir, nichts wie weg mit dem Zeug. Plötzlich kam mir die Idee, dass ich ja Frau Hintze die Ringe schenken könnte, die es wirklich verdient hatte. Sie würde mich bestimmt nicht verraten. Ich ging zurück in die Halle und legte die Ringe in die Schublade von Frau Hintzes Arbeitstisch. Ich hatte immer die Erlaubnis, an ihre Schublade zu gehen, weil ich Staubtücher und Werkzeuge von dort rausholen musste. Jeder Häftling hatte an seinem Tisch auch eine Schublade, die mindestens viermal wöchentlich von der SS-Aufseherin durchsucht wurde. Also konnte ich die Ringe keinesfalls in meine eigene legen. Die SS-Aufseherinnen kannten Frau Hintzes Platz und wagten nicht, ihre Schublade zu kontrollieren. Nachdem ich die Ringe in Frau Hintzes Schublade unter einem Staubtuch verstaut hatte, ging ich zu ihr und sagte, sie solle die Ringe dort raus nehmen, ich würde sie ihr zum Geschenk machen. Frau Hintze ging unauffällig zu ihrer Schublade, holte die Ringe und plötzlich färbte sich ihr Gesicht dunkelrot. Nach zehn Minuten kam die Aufseherin und machte eine Kontrolle aller Schubladen. Ich zitterte am ganzen Leib, obwohl die Ringe schon bei Frau Hintze waren. Als die Durchsuchung beendet war, kam Frau Hintze zu meinem Platz und bedankte sich. Sie konnte sich wirklichfreuen, denn die Ringe waren sehr wertvoll. Mein Leben war mir tausendmal wertvoller. Ich war froh, dass das alles ein gutes Ende nahm.

Die Oberaufseherin von Ravensbrück hieß Bintz. Sie war eine ganz brutale Frau. Wenn man sie so sah, konnte man sich das gar nicht vorstellen. Sie sah sehr zierlich aus, aber sie war durch und durch eine Bestie. Sie freute sich, wenn wir stundenlang Appell stehen mussten. Hatte ein Häftling einen Fluchtversuch gemacht, so musste das ganze Lager im schlimmsten Winterwetter bis zu zwölf Stunden draußen stehen. Wegen unserer dürftigen Bekleidung bekamen die Meisten Erkältungskrankheiten, erfrorene Hände und Füße. Ich handelte mir einmal nach so einem Appell eine Nierenentzündung ein. Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich in das Krankenrevier eingeliefert wurde und Medikamente erhielt. Als ich wieder aus dem Revier rauskam und noch ziemlich wacklig auf den Beinen war, ereignete sich am nächsten Morgen Folgendes: Nach dem Appell mussten alle Häftlinge ganz schnell in ihre Baracken laufen. Der Appellplatz musste sofort geräumt werden. Ich konnte vor Schwäche nicht so schnell laufen wie die anderen. Plötzlich spürte ich einen schrecklichen Schlag auf meinem Kopf. Ich sackte zusammen. Erst im Schlafblock wachte ich wieder auf. Meine Kameradinnen erzählten mir, dass die Bintz mir das schwere Appellbuch auf den Kopf geknallt und geschrien hatte, ob ich noch nicht in den Block laufen wollte. Ich fiel in Ohnmacht, die Freundinnen schleppten mich zu meiner Schlafstelle. Wochenlang hatte ich schreckliche Kopfschmerzen. Natürlich musste ich arbeiten, hatte aber großes Glück, dass meine Arbeit nicht so anstrengend war, sonst hätte ich mit solchen Kopfschmerzen nicht arbeiten können. Wer weiß, was dann passiert wäre.

Da das Lager überfüllt war, mussten wir zu zweit in einem neunzig Zentimeter breiten Bett schlafen. Eine 19-jährige Blondine sollte mit mir das Bett teilen. Sie war ganz sympathisch. Vor allem war sie sauber. Eine Halbjüdin mit schwarzgelbem Stern. Ihr bayerischer Dialekt verriet, dass sie aus München stammte. Die ersten Nächte waren problemlos. Aber so langsam fing die Blondine an, meinen Körper zu erforschen. Ich wusste gar nicht, was sie von mir wollte. Sie streichelte mich und fing an, mich zu küssen. Das war mir sehr unangenehm. Als sie versuchte, mich förmlich zu vergewaltigen, schmierte ich ihr eine und sagte ihr, dass sie mit mir so etwas nicht machen könnte. Am nächsten Tag ging ich zur Blockältesten und bat sie um Verlegung in ein anderes Bett. Die Blockälteste konnte mich gut leiden, sie wies mir ein Bett mit einem anderen Mädchen an, und ich hatte meine Ruhe. Es gab viele junge Frauen, die von Lesbierinnen »angelernt« wurden. Es bildeten sich Pärchen. Einige zogen sich Hosen an, um zu zeigen, dass sie die Männerrolle übernahmen. Wurden die Pärchen mal von den Aufseherinnen überrascht, so wurden sie schwer bestraft. Für schwere Strafen gab es in Ravensbrück Bunker, in die viele Häftlinge eingesperrt wurden. Nur eine geringe Anzahl von Häftlingen konnte den Bunker überleben.

Fast zwei Jahre arbeitete ich bei Siemens. Im Januar 1945 wurde uns siebzig »Mischlingen« gesagt, wir sollten in die Schreibstube kommen, um uns die roten Winkel abzuholen. Die Judensterne mussten wir abgeben. Ab sofort wurden wir zu »Ariern« erklärt. Es wurde sogar von einer eventuellen Entlassung gesprochen. Ab sofort durften wir Briefe und Pakete erhalten. Natürlich fühlte zumindest ich mich weiter als Jüdin. Der rote Winkel konnte mir doch meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nicht absprechen. Das Ganze war sowieso ein Schwachsinn, wie viele »Mischlinge« hatte man ermordet, weil sie jüdischer Abstammung waren, und nun sollte ich mich auch als »Arierin« fühlen? In meinem Herz blieb ich selbstverständlich weiter die Jüdin, nutzte jedoch die Vorteile meines neu erworbenen »Ariertums« voll aus, indem ich Pakete erhielt und Briefe schreiben konnte.

Tatsächlich schickte meine Tante aus Berlin mir warme Unterwäsche und ein paar Pullis und auch was zum Futtern, was natürlich half, die letzten Monate in Ravensbrück etwas erträglicher zu machen. Frau Hintze, mir wegen der Ringe besonders zugetan, erzählte mir, wie schlecht die politische Lage sei. Die Sowjets waren im Anmarsch auf Berlin. Der Krieg war für Deutschland schon fast verloren. An den vielen Fliegeralarmen merkten wir, dass die Nazis bald ausgespielt haben würden. Ich freute mich über jeden Fliegeralarm, hoffte nur, dass eine Bombe in die Siemenswerke fiele, natürlich nachts, wenn die Häftlinge nicht bei der Arbeit wären.

Ende April 1945 ging folgende Nachricht von Block zu Block: »Frauen, zieht euch Zivilkleider unter eure Häftlingskleidung. Wir werden in ein paar Stunden evakuiert, denn die Sowjets sind schon in der Nähe.« Unsere kommunistischen Gefangenen, die in die Zimmerdecke eines Blocks ein Radio eingebaut hatten, waren genau über die politische Lage orientiert. Sie gaben uns die Informationen durch.

Sieben Mädchen erleben die Freiheit

Nun war es soweit. Alle Häftlinge, die noch einigermaßen gesund waren und laufen konnten, mussten aus dem Lager raus. Wir gingen tagelang in einer Kolonne durch Städte, Wälder, über Felder.
An der Seite gingen die SS-Schergen mit ihren geladenen Gewehren.
Wer hinfiel, wer nicht mehr laufen konnte, wurde gnadenlos
von den Verbrechern erschossen, obwohl sie wussten, dass der Krieg schon
fast zu Ende war. So gab es Häftlinge, die Folterungen, Krankheiten, Hunger
und Kälte in einer langen Leidenszeit überstanden hatten, aber fünf Minuten vor
zwölf von der Faschistenbande ermordet wurden.

Wir marschierten innerhalb Mecklenburgs und kamen zu dem Konzentrationslager Malchow. Die Frauen aus diesem KZ reihten sich bei uns ein. Dabei trafen wir einige Freundinnen, die mit uns zusammen in Auschwitz gewesen waren. Ich fand meine beste Freundin Mirjam Edel wieder. Wir gingen zu siebt in einer Reihe. Irmgard, Mirjam, Schoschanna, Anni, Sylvia, Karla und ich. Diese Mädchen waren alle mit mir zusammen nach Auschwitz gekommen. Sie waren aus der Neuendorfer Gruppe. Welche Freude, dass wir uns hier wieder trafen und der Freiheit gemeinsam entgegengehen konnten. Als Proviant hatten wir schon in Ravensbrück und in Malchow jeder ein Paket[2] erhalten. Das waren Pakete, die von ausländischen Institutionen in die KZs geschickt wurden. Ein Paket musste für den ganzen Weg reichen. In diesen Paketen waren allerhand Konserven, Ölsardinen, Corned-beef, Crackers usw. Das war sehr gefährlich, solche schwer zu verdauenden Lebensmittel plötzlich zu essen. Viele von uns konnten diese Nahrung gar nicht vertragen. Zwei Jahre und mehr hatten wir solche nahrhaften Lebensmittel entbehrt. Nun musste sich der Magen erst mal wieder an die Freiheit gewöhnen. Keiner wusste, wohin wir gingen. Nachts blieben wir meistens auf großen Plätzen in einer Kleinstadt sitzen oder liegen. Die Nächte im April waren noch ganz schön kalt. Wir froren, weil wir ja kaum warm genug angezogen waren. Der Boden war kalt. Trotzdem legten wir uns auf die kalten Pflastersteine, denn wir waren von dem langen Laufen sehr erschöpft und freuten uns auf eine Rast.

Nach etwa fünf Tagen Marsch hörten wir, wie ein SS-Mann zu einem anderen sagte, es dürfe nicht mehr geschossen werden. Wir beschlossen, die Kolonne zu verlassen und zu siebt alleine weiter zu gehen. Eine nach der anderen versteckten wir uns hinter Bäumen und Sträuchern, als wir gerade durch einen Wald marschierten. Die Kolonne zog ohne uns weiter. Wir warteten eine Weile, bis die Gefahr vorbei war. Kein SS-Mann war zu sehen. Dann irrten wir durch den Wald, zogen unsere Häftlingskleidung aus und warfen sie weg. Als wir auf eine Landstraße kamen, mischten wir uns unter die vielen Flüchtlinge, die mit kleinen Leiterwagen, vollbepackt mit Koffern und Bündeln, auf der Landstraße umherirrten. Viele wussten noch gar nicht, wohin sie gingen. Die Leute waren alle aus Berlin und Umgebung. Sie flüchteten vor den Russen. Wir gingen mit ihnen, bis wir in ein kleines Dorf kamen. In einem Bauernhaus baten wir um Unterkunft. Der Bauer erlaubte uns, in einer Scheune zu übernachten. Noch erzählten wir niemandem, dass wir aus dem KZ kamen. Wir hatten große Angst, irgendein Nazi könnte uns wieder zu der Kolonne zurückbringen. Außerdem war ja der Krieg noch nicht beendet. Die SS kämpfte noch in den Wäldern.

Ein schrecklicher Hunger quälte uns. Eines der Mädchen bat den Bauer um etwas zu essen. Der brachte uns einen Eimer gekochter Kartoffeln in die Scheune, und wir fielen wie die Löwen darüber her. Kartoffeln hatten wir schon  ewig nicht gegessen. Dann schliefen wir im Heu, und am nächsten Morgen wurden wir von dem Bauer geweckt. Er sagte zu uns: »Wenn ihr links runter geht, kommt ihr zu den Amerikanern. Geht ihr nach rechts, da sind die Russen.« Wir brauchten gar nicht lange zu überlegen, wohin wir gehen sollten, denn links von uns kamen zwei amerikanische Panzer die Straße runtergefahren. Wir nahmen unsere paar Sachen und liefen ihnen entgegen. Die amerikanischen Soldaten halfen uns auf die Panzer und begrüßten uns sehr herzlich. Als wir ihnen unsere Nummern auf dem linken Arm zeigten, umarmten und küssten sie uns vor Freude, dass sie uns helfen konnten. Wir Mädchen sahen nicht gerade gut aus. Die meisten von uns waren sehr abgemagert, einige fühlten sich wirklich schwach. Die Soldaten wendeten und fuhren zurück in das mecklenburgische Städtchen Lübsch. Die Amis halfen uns vom Panzer runter und luden uns in ein Restaurant ein. Nun mussten wir ihnen vom KZ erzählen. Irmgard und ich konnten Englisch sprechen, und so beschrieben wir ihnen, was wir alles durchgemacht hatten. Ich erzählte ihnen auch, dass ich in Auschwitz im Orchester Akkordeon gespielt hatte. Es verging vielleicht eine halbe Stunde, da stand plötzlich ein Soldat mit einem Akkordeon vor mir. Er sagte: »Ich schenke dir das Akkordeon, komm lass uns singen, und du musst spielen.« Erst tranken wir Kaffee und aßen Kuchen, Schokolade, Kekse, die wir von den Amerikanern spendiert bekamen. Dann sangen wir alle zusammen. Wir waren sozusagen »allein« in der Kneipe. Die Deutschen hatten sich verdrückt.

Inzwischen hatten die Amerikaner für uns ein paar Zimmer organisiert. Am Nachmittag trafen wir uns wieder mit ihnen in der Kneipe, sie waren anscheinend sehr froh, uns getroffen zu haben. Während wir so gemütlich zusammen saßen, hörten wir auf der Straße plötzlich großen Jubel. Wir liefen alle auf die Straße und sahen, wie die Rote Armee einmarschierte. Die amerikanischen und

russischen Soldaten begrüßten, umarmten und küssten sich. Alle waren glücklich, dass der Krieg endlich beendet war. Ein russischer Soldat brachte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Ein anderer russischer Soldat rief: »Musik, wer macht Musik?« Ich nahm mein Akkordeon und ging auf den Marktplatz. Alle stellten sich rings um das Bild. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es an. Adolf Hitlers Bild brannte lichterloh, die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum, und ich spielte Akkordeon. Auch dieses Bild werde ich nie vergessen.

1 Die Firma Siemens & Halske ließ neben dem KZ Ravensbrück zwanzig Werkhallen errichten, in denen die männlichen und weiblichen Lagerhäftlinge ab Spätsommer 1942 zur Zwangsarbeit herangezogen wurden.

2 Eine andere Zeitzeugin, die Italienerin Lidia Beccaria Rolfi (1925–1996) – Partisanin mit dem Kampfnamen Maestrina Rossana, die im März 1944 verhaftet und im Juni desselben Jahres nach Ravensbrück deportiert wurde – nimmt in einem ihrer Erlebnisberichte explizit Bezug auf das ihr und den Freundinnen vor Verlassen des KZs übergebene Paket: »Diese Schufte lassen uns ohne ein Stück Brot evakuieren. Als einzige Verpflegung geben sie uns ein Paket vom Roten Kreuz mit, ein Paket von ihren Feinden. Jetzt sind wir schwer beladen, das Paket behindert uns.« Lidia Beccaria Rolfi, Zurückkehren als Fremde. Von Ravensbrück nach Italien: 1945–1948, Metropol Verlag, Berlin 2007, S. 10.

(c) Esther Bejarano/Laika Verlag

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