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Siegfried Bernfelds „sozial orientierte Pädagogik“

Der vierte Band der Bernfeld-Werke enthält Arbeiten Bernfelds zur Heim- und Fürsorgeerziehung. Die empirische Grundlage von Bernfelds sozialpädagogischen Schriften bilden seine Erfahrungen im Kinderheim Baumgarten, die er im »Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung« zusammenfasst…

Dieser Praxisbericht enthält eine implizite Theorie der Sozialpädagogik, deren einzelne Bausteine er in den hier abgedruckten Aufsätzen systematisch entfaltet. Die Frage, wie soziale Ordnung in pädagogischen Einrichtungen hergestellt und demokratisiert werden kann, thematisiert Bernfeld unter dem Begriff »Schulgemeinde«. Ebenso zentral ist sein Konzept des »sozialen Orts«, das Verhalten und psychische Entwicklung als Produkt einer sozialstrukturellen Lage interpretiert. Damit erhalten Verhaltensauffälligkeiten und seelische Konflikte eine gesellschaftliche Basis, auf deren Aufklärung und Veränderung sozialpädagogisches Handeln hinzielen soll.

Siegfried Bernfeld, Sozialpädagogik, Werke, Band 4, Herausgegeben von Daniel Barth und Ulrich Herrmann und mit einem Nachwort von Daniel Barth, 541 Seiten, Broschiert, Psychosozial-Verlag 2012, Euro 29,90, Bestellen?

LESEPROBE AUS DEM NACHWORT VON DANIEL BARTH:

1. Siegfried Bernfelds „sozial orientierte Pädagogik“

Der vorliegende Band von Bernfelds Werkausgabe trägt einen Titel – Sozialpädagogik -, der als Begriff von Bernfeld nirgends verwendet wird. Wenn Bernfeld von „sozial orien­tierter Pädagogik“ spricht, muss dies als bewusste Abgren­zung vom Begriff „Sozialpädagogik“ gelesen werden.

Der Begriff „Sozialpädagogik“ wird zum ersten Mal 1844 in einem Text von Karl Mager nachgewiesen (Mager 1844/1989, S. 171; Kronen 1980, S. 41). Mager unterscheidet eine allgemeine und relative Ebene der Pädagogik, wobei sich Sozialpädagogik auf eine konkrete historische Gesell­schaft beziehen soll, also weder anthropologisch noch rein begrifflich, sondern konkret, eben „relativ“, gesellschaftlich, kulturell, historisch bestimmt werden müsse (ebd., S. 42,47). Zu einem Begriff von sich selbst kommt Sozialpädagogik mit der Hoffnung Karl Magers auf die bürgerliche Revolution.1 Deren Scheitern zerstört die Hoffnungen des Begründers des Begriffs (Müller 2010, S. 382f.). „Ohne gesellschaftlich­politische Veränderungskraft scheint es, schon in ihren ers­ten Ursprüngen, keine sinnvolle theoretische Anstrengung mehr zu geben für das, was mit Sozialpädagogik bezeichnet werden soll“ (Graf 2000, S. 21). Magers „Projekt und sein kri­tisches Potential war mit der Revolution eingeschlafen und desavouiert, bereits mit Diesterweg folgt eine Bescheidungund frühe Beschränkung, die Ausrichtung auf institutio­nelle Hilfe vorbereitend, mit Natorp wohl eine geschultere philosophisch abstraktere Repetition“ (ebd.)2 Die neukanti­anische Erfassung von Wirklichkeit bildete ein wesentliches Hindernis für die konkrete gesellschaftliche historische Ana­lyse, die Magers Begriff von Sozialpädagogik inhärent ist. Natorp bringt Mängel am Subjekt direkt und unvermittelt mit Mängeln am Sozialen in Zusammenhang (Natorp 1909, S. 10), ohne die historischen und sozialen Vermittlungen in die Reflexionen einbeziehen zu können.

Bernfelds Konzept des „sozialen Orts“ kann als Verusch interpretiert werden, die Dialektik Natorps um die fehlenden historisch-gesellschaftlichen Vermittlungen zu ergänzen, d.h. marxistisch zu reformulieren. So begreift Bernfeld psychische Phänomene, soziales Verhalten und pädagogische Instituti­onen schicht- und klassenspezifisch und stellt sie in einen Zusammenhang mit den Auswirkungen der primären und sekundären Akkumulation von Kapital. Das Konzept des „sozialen Orts“ ist das theoretische Instrument Bernfelds, die von Mager geforderte soziologische Analyse von Erziehung konkret in Bezug auf Sozialisationsorte zu führen, deren sozialstrukturelle Lagen vor dem Hintergrund des marxis­tischen Gesellschaftsmodells bestimmt werden. Der „soziale Ort“ erlaubt Bernfeld, kollektive Problematisierungen von Verhaltensstörungen und die Durchsetzung von psychosozi­alen Diagnostiken bei bestimmten Gruppen konsequent auf gesellschaftliche Ungleichverteilung und Diskriminierung zu beziehen.

Bernfelds kapitalismuskritische Analyse psychischer und sozialer Phänomene im Feld der Erziehung ist weit davon entfernt, bloß eine Kartierung sogenannter Umweltfaktoren zu sein. Ein solches Unternehmen hätte seines Erachtens

„zur Voraussetzung eine weitgehend homogene Gesamtheit‘, in der Differenzen bloß als leichte ,Milieu’schattierungen der Familienzustände, Wohnverhältnisse, Berufsbedingungen usw. bestehen. Diese Voraussetzung trifft aber zweifellos für die heute bestehende Ordnung nicht zu. Wollen wir psy­choanalytisch in ein Gebiet vordringen, in dem offenkundig soziale Tatbestände eine wichtige, im einzelnen noch unbe­stimmte, Rolle spielen, so müssen wir uns vor allem eine der sozialen Wirklichkeit voll entsprechende Vorstellung von der Gesellschaft bilden. Um die Übernahme von Theorien über die Gesellschaftsstruktur, für deren Beurteilung wir als Psycho­analytiker nicht kompetent sind, zu vermeiden, halten wir uns dabei an die kaum bestreitbare Tatsache, dass die heutige Ge­sellschaft über höchst verschiedenen,sozialen Orten‘ errichtet ist, zwischen denen zum Teil mächtige Spannungen bestehen“ (Bernfeld 1931, S. 313).

Weil Bernfelds soziologische Zeitdiagnose von erheblichen strukturellen Spannungen ausgeht, kann die von Mager ge­forderte gesellschaftliche historische Analyse der Erziehung nicht mehr auf den verloren gegangenen Gesamtzusammen­hang, sondern nur noch auf unterschiedliche „soziale Orte“ bezogen werden. Dass Bernfeld in diesem Moment nicht mehr von „Sozialpädagogik“, sondern von „sozial orientier­ter Pädagogik“ spricht, ist konsequent.3

Die in diesem Band wiederabgedruckten Texte Bernfelds können als sukzessive Entwicklung und Systematisierung seiner „sozial orientierten Pädagogik“ gelesen werden.

Empirische Grundlage dieses Konzepts bilden Bernfelds Erfahrungen mit der Erziehung von verwahrlosten Kindern in Baumgarten. Wenn sein Entwurf letztlich bruchstückhaft bleibt, dann darf nicht vergessen werden, dass Bernfeld nie eine Professur innehatte (eine Berufung nach Braunschweig scheiterte; Dudek 2012), keine universitären Lehraufträge bekam (der Einspruch Sprangers hielt ihn von der Berliner Universität fern; Tenorth 1999) und vom damaligen Main­stream universitärer Pädagogik mit einer Art „Zitatensperre“belegt wurde (Gamm 1972, S. 39). Angesichts dieser ungüns­tigen Bedingungen litt die Kontinuität seines Schaffens, das zudem durch ungewöhnlich vielseitige Erkenntnisinteressen gekennzeichnet war.

Drei Grundlinien lassen sich in Bernfelds Entwurf einer „sozial orientierten Pädagogik“ erkennen (vgl. Tab. 1):

>- Erstens beschäftigt sich Bernfeld mit der Frage der Konstitution sozialer Ordnung in sozialpädagogischen Einrichtungen. Das Konzept „Schulgemeinde“ be­zeichnet bei Bernfeld ein pädagogisches Programm der ethisch-moralischen Normierung durch soziale Alltagserfahrung und Selbstorganisation der Kinder und Jugendlichen. Zur Begründung dieses Programms stellt er einerseits entwicklungspsychologische Überle­gungen an, andererseits untersucht er die Legitimität institutioneller Ordnungen im Erziehungssystem so­ziologisch.

>- Zweitens arbeitet Bernfeld an der Historisierung und kulturellen bzw. sozialstrukturellen Kontextualisie-rung anthropologisierter und naturalisierter Kategorien aus Pädagogik und Psychoanalyse. Es ist der Versuch, „die Psychoanalyse in concreto auf geschichtliche und gesellschaftliche Tatbestände auszudehnen“ (Bernfeld 1932, S. 275; Hervorhebung im Original). Als „gesell­schaftlichen Tatbestand“ (fait social) bestimmte Emile Dürkheim (1895) den Gegenstand der Soziologie, wozu Bernfeld explizit nicht nur die Erziehung (1925, S. 49) zählt, sondern auch psychische Phänomene wie z.B. die Neurose.4 Das Konzept des „sozialen Orts“ ist Bern­felds Modell zur Anwendung der Psychoanalyse auf „gesellschaftliche Tatbestände“ wie „Ödipuskomplex“, „Neurose“, „Erziehung zur Realität“, „Jugend“, „Ju­gendbewegung“, „Verwahrlosung“, „Kriminalität“ und „Schulgemeinde“.

>- Drittens entwickelt Bernfeld psychoanalytische Hand­lungskonzepte für die Erziehung von verwahrlosten

Kindern und Jugendlichen. Vor allem der Baumgarten-Bericht enthält zahlreiche Bausteine einer psychoanalyti­schen Verwahrlostenpädagogik (Barth 2010, Kap. 3.2), die in den kürzeren Texten des vorliegenden Bandes ergänzt und illustriert werden.

pädagog. Progr. d. ethisch-moral. Normierung durch soziale Alltagserfahrung & Selbstorganisation d. Kinder („Schulgemeinde“) gesellschaftstheoret. Refle­xion anthropologisierter & naturalisierter Kategorien aus Pädagogik & Psychoanalyse („sozialer Ort“) Bausteine einer psychoanalyt. Verwahrlostenpädagogik
Kinderheim Baumgarten (1921) X x
Psychische Typen von Anstalts­zöglingen (1926b) X X
Die Unehelichen (1926c) X
Gibt es eine untere Grenze für „Schwererziehbarkeit“? (1926) X
Die psychologischen Grundlagen der Gefährdetenfürsorge (1926) X
Zur Psychologie der „Sittenlosigkeit“ der Jugend (1926) X
Die Formen der Disziplin in Erziehungsanstalten (1927) X
Die männliche Großstadtjugend (1928) X X
Strafen und Schulgemeinde in der Anstaltserziehung (1929) x x
Ernährungsfrage in Erziehungs­anstalten (1929) X X
Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik (1929) x
Verwahrloste Jugend (1929) X
Leonard Bourdons System der Anstaltserziehung (1930) X X
Die Tantalus-Situation (1931) X

Tabelle 1: Entwicklung und Systematisierung von drei Grundli­nien in Bernfelds Konzept einer „sozial orientierten Pädagogik“

Weiter unten wird die erste dieser drei Grundlinien rekonst­ruiert, um die Entwicklungen sichtbar zu machen, an denen

Bernfeld über zehn Jahre hinweg gearbeitet hat.5 Zunächst aber sei der historisch-gesellschaftliche Kontext beschrie­ben, in dem Bernfeld seine „sozial orientierte Pädagogik“ entwickelt. Dass Bernfeld zuerst Pädagoge wurde und sein Schaffen nur sekundär und z.T. erst in späteren Lebenspha­sen klinischen, erkenntnistheoretischen und wissenssoziolo­gischen Fragen widmete, wird verständlich, wenn man sich die historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen vergegen­wärtigt, die den „sozialen Ort“ Bernfelds in Wien Ende des Ersten Weltkriegs prägen (dazu Band 3 dieser Werkausgabe). Es waren konkrete soziale Probleme, die während des Kriegs immer drängender wurden und Bernfelds Aufmerksamkeit von der Jugendbewegung und -forschung (1915,1917) abzo­gen. Vom 15. Oktober 1919 bis zum 15. April 1920 leitete er Kinderheim und Schule in Baumgarten, ein Schulheim für 300 jüdische Kriegswaisen im Alter von drei bis 14 Jahren. Der Bericht über diese praktische Erfahrung trägt den Unter­titel „Ein Versuch mit neuer Erziehung“ und ist oft impliziter Referenzpunkt der in diesem Band abgedruckten Aufsätze.

2. Erziehung zum Klassenkampf als Gebot der historischen Stunde

Der „Versuch mit neuer Erziehung“ reagierte auf eine histo­risch singulare Situation, in der die politische Entwicklung in Österreich absolut offen war. Kriegsende und Kollaps der Habsburger Doppelmonarchie nährten Hoffnungen auf so­zialen Wandel und gesellschaftlichen Umbruch. „Vienna ex-perienced its most dynamic period, catalyzed by the political flux and uncertainty of the postwar months [Oktober und November 1918]. In this highly charged atmosphere all poli­tical and social options, it seemed, were open“ (Rechter 1996, S. 36). Zum einen stellte sich im Anschluss an den Zusam­menbruch der k.u.k. Monarchie und bei der Gründung der Nachfolgestaaten die Frage nationaler Minderheitenrechte, was auch bei der jüdischen Bevölkerung in Österreich Hoff­nungen auf Teilautonomie bzw. auf einen staatsrechtlich ver­ankerten Minderheitsstatus weckte. Zum anderen war die Situation um 1919 auch in Bezug auf die sozialistische Revo­lution realutopisch: In Palästina existierten bereits seit 1910 erste genossenschaftlich-sozialistisch organisierte Kibbuzim; in der neu gegründeten Sowjetunion bildeten sich ab 1917 auf freiwilliger Basis erste Kolchosen; im März 1919 konsti­tuierte sich in Ungarn eine Räterepublik; einen Monat später wurde in München die Bayerische Räterepublik ausgerufen. In diese Zeitspanne, als Österreich „zwischen zwei Räterepu­bliken lag“ (Leichter 1973, S. 52), fällt die Vorbereitungsphase von Kinderheim und Schule in Baumgarten. Am 29. Juli 1919 beschloss die österreichische Nationalversammlung ein Be­triebsrätegesetz und ein Gesetz über gemeinwirtschaftliche Unternehmungen (ebd., S. 55). Bernfeld reagierte sehr schnell und nutzte die Gunst der Stunde, in der demokratische Al­ternativen zum kapitalistischen Staat und Wirtschaftsbetrieb eine konkrete, wenn auch schwache Realität bekamen. Aus der Perspektive jenes historischen Moments war für Bern­feld nichts naheliegender als die Schaffung einer Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Erziehung.6

Bernfelds „Versuch mit neuer Erziehung“ (1921) steht im Zusammenhang mit der realutopischen Situation um 1918/1919. Im ersten Satz seiner Rezeption des Baumgar­ten-Berichts schrieb Paul Oestreich: „Der Krieg und die Nachkriegszeit haben mit den außerordentlichen Notlagenund Anforderungen, die sie mit sich brachten, auch in ei­nem Maße die Verhältnisse aufgelockert und Möglichkeit zu besonderen Maßnahmen geschaffen, wie sie sonst nicht entfernt so bestand“ (in diesem Band, S. 452). Bernfelds „Versuch mit neuer Erziehung“ war eine solche „besondere Maßnahme“, mit der er auf eine „außerordentliche Notlage“ reagierte. Weit wichtiger als der praktische Nutzen dieser Intervention war die dahinterstehende politische Absicht: Bernfeld wollte 1918/19 dem Sozialismus in Wien zum Sieg verhelfen; die Pädagogik war ideologisches Vehikel zur Umsetzung der sozialistischen Utopie. Mit dem „Kampf um eine große Idee“ (1921, S. 1547 ) im zweitletzten Satz des Baumgarten-Berichts ist nämlich nicht „neue Erziehung“ gemeint: Der nachfolgende Satz8 lässt keinen Zweifel daran, dass sich Bernfeld und sein Erzieherinnen-Team im histo­rischen Moment wähnten, wo objektiv die Bedingungen erfüllt waren, um die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden: „Wir, die wir hoffen, an der Schwelle der sozialistischen Gesellschaft zu stehen“ (Geiringer 1920, in diesem Band, S. 426). Mit dieser Erwartung standen Bernfeld und sein pädagogisches Team keineswegs allein. So warnte der inhaftierte Führer der niedergeschlagenen Bayerischen Räterepublik, Ernst Toller, im September 1920 den Herausgeber der Zeitung Kampf:

„Alle deutschen sozialistischen Zeitungen ohne Unterschied der politischen Richtung begehen den Fehler, mit der Weltre­volution als einem Ereignis der nahen Zukunft zu rechnen. Ist von einem Streik in England oder Frankreich die Rede, so wird dieser Streik als Auftakt zur revolutionären Erhebung gedeutet“ (Toller zit. nach Leichter 1973, S. 214).

Analog zu diesen Streiks verstanden Bernfeld und sein Er-zieherlnnen-Team das Baumgarten-Experiment als Teil des Kampfes für eine sozialistische Ordnung9 , für deren Konsti­tuierung es 1919 konkrete Anzeichen gab. Bernfelds Strategie war die „Schaffung kultureller Tatsachen“ (1921, S. 22), um im politisch umstrittenen Feld der Erziehung bürgerliche Macht und Ideologie zurückzudrängen und zu ersetzen durch „sozi­alistische Erziehung“ (S. 21) zur Bildung von „wahrhaft sozia­listischen Menschen“ (S. 57). „Schaffung kultureller Tatsachen“ bedeutete in Tat und Wahrheit also Schaffung „sozialistischer Tatsachen“ (S. 58), zunächst beschränkt auf einen ganz be­stimmten „sozialen Ort“: die jüdische Diaspora in Wien.

Der Zionismus kann seit 1914 als Ideologie des „sozialen Orts“ von Siegfried Bernfeld bezeichnet werden10 , ähnlich wie dies Wynekens Jugendkultur in seiner jugendbewegten Phase vor 1914 war. Zu betonen ist dabei, dass Bernfelds sozialisti­sche Überzeugung gleichsam die universalistische Grundkon­stante blieb11, auch wenn die oben beschriebene realutopische Situation am „sozialen Ort“ Bernfelds, dem Wiener Judentum, durch drei historische Ereignisse eine partikulare12Färbung und teilweise andere Inhalte bekommen hatte:

(1)        seit 1914 durch den jüdischen Flüchtlingsstrom aus den Ostgebieten der Doppelmonarchie nach Westen und besonders nach Wien;

(2)        durch die antisemitische Reaktion auf diesen Zustrom an Ostjuden und die Spaltungen innerhalb des Wiener Judentums, die durch die Flüchtlingswelle manifest und verschärft wurden;

(3)        durch die Zionistische Bewegung, die einerseits durch Herzls „Judenstaat“, andererseits durch die Balfour-Declaration von 1917 viel utopischen Schwung bekam (Bunzl 1992; Texte und Dokumente in Band 3 dieser Werkausgabe).

Bernfelds „Tatprogramm“ (1921, S. 15) zur Bewältigung des Problems jüdischer Kriegswaisen in Wien kann als Kristalli­sationskern seiner Reaktion auf diese drei historischen Ereig­nisse (vgl. 3.1 bis 3.3) verstanden werden.

3. „Kriegswaisenerziehung als nächstliegende Forderung des Augenblicks

3.1 Das Flüchtlingsproblem

In seinem Aufsatz „Die Kriegswaisen“ griff Bernfeld im Jahre 1916 das Flüchtlingsproblem auf und schlug für dessen Lösung den Bau von „Kinderdörfern und Jugendgemein­den“ (1921, S. 14) in Palästina vor, d.h. ein staatlich finan­ziertes Bildungssystem, wie er es in seinem Buch Das jüdische Volk und seine Jugend (1919) für Palästina entworfen hatte. „So sehr es aber tatsächlich um diese durch Not und Ret­tung gleich gefährdeten Kinder ging, handelte es sich doch zugleich um mehr noch: um das jüdische Erziehungswesen überhaupt“ (1921, S. 15). Der „Plan,Freie jüdische Schulsied­lung'“ war die nächste Konkretisierungsstufe von Bernfelds Entwurf einer umfassenden Lösung des Kriegswaisenprob­lems.13 Bernfeld entwickelte diesen Plan gleichsam im Auf­trag des im Februar 1919 neugegründeten Verbands für jü­dische Jugendfürsorge in Deutschösterreich, der seine „erste und wichtigste Aufgabe“ darin sah, eine „,jüdische Schul­siedlung‘ in der Nähe Wiens zur Erziehung von Waisen“ zu gründen (ebd., S. 16). Anhaltende Schwierigkeiten beim Kauf eines geeigneten Landgutes für die Schulsiedlung ver­anlassten Bernfeld, eine Redimensionierung des Projekts in Kauf zu nehmen. Das Kinderheim Baumgarten wurde nicht wie die Schulsiedlung „für einige tausend Kinder, Jugendliche und Erwachsene“ (ebd., S. 19) konzipiert, son­dern lediglich für 200 bis 300 Kinder. Unterkunft boten kein landwirtschaftlicher Betrieb außerhalb Wiens, sondern fünf ehemalige Baracken eines aufgelassenen Kriegsspitals am westlichen Wiener Stadtrand im Stadtteil Baumgarten. Trotz dieser recht unterschiedlichen Ausgangslage blieb die Grün­dung des Kinderheims mit dem Kriegsfolgenproblem direkt verbunden. Auch der Plan einer großen Schulsiedlung, für die das Kinderheim als Kaderschmiede funktionieren sollte (ebd., S. 29, 31f.), und die ursprüngliche Intention, einen Bei­trag für den „Aufbau des jüdischen Erziehungswesens der Diaspora“ (ebd., S. 140) leisten zu können, blieben in Baum­garten aktuell.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bern­feld auf das Kriegswaisenproblem als „nächstliegende Forde­rung des Augenblicks“ (ebd., S. 16) reagierte und zur Lösung bildungspolitische und sozialpädagogische Maßnahmen vorschlug. Damit zeigte er ein feines Gespür für die kom­menden Umwälzungen. Die Massenhaftigkeit des Kriegswai­senproblems14 macht Bernfeld mit aller Wucht bewusst, dass soziale Probleme durch tradierte Fürsorgesysteme (Almosen und Wohltätigkeit) nicht zu bewältigen sind. So unrealistisch aus heutiger Sicht Erziehungseinrichtungen für „einige tau­send“ Kinder und Jugendliche erscheinen mögen15, muss man Bernfeld zugestehen, dass er in Bezug auf die Bewältigung sozialer Probleme modern und fortschrittlich denkt: „Auf­bau“ sozialstaatlich alimentierter Einrichtungen kollektiver Erziehung statt „Schnorrergeld und Nothilfe für einen kurzen Augenblick“ (ebd., S. 25). Bernfelds Leitideen stellen eine ganz frühe Form dessen dar, was im keynesianischen Gesellschaftsmo­dell der Nachkriegsära (1933-1993; dazu Bornschier 1998) zum Grundkonsens wohlfahrtsstaatlicher Regelungen gehört. Obwohl die amerikanisch-jüdische Trägerschaft von Baumgarten auch sah, dass die Massen von Kriegsflüchtlingen die bestehende Fürsorgeinfrastruktur des Wiener Judentums überforderte, setzte sie im Gegensatz zu Bernfeld auf Subventionierung bestehender Institutionen16und auf „individual per capita allowance“ (J.D.C. 1922, S. 49). Das Kinderheim Baumgarten (für 300 Kinder) bildete zusammen mit dem Lehrlingsheim in der Rossauerkaserne (für 30 Jugendliche) zwei Ausnahmen in dieser Flüchtlingshilfe-Politik, weil das Joint Distribution Committee als Trägerschaft auftrat und eigene sozialpäda­gogische Institutionen gründete.17

Siegfried Bernfeld, Sozialpädagogik, Werke, Band 4, Herausgegeben von Daniel Barth und Ulrich Herrmann und mit einem Nachwort von Daniel Barth, 541 Seiten, Broschiert, Psychosozial-Verlag 2012, Euro 29,90, Bestellen?

  1. „Nicht Teil der Pädagogik, sondern Kritik und Revolution der Pädagogik war das explizite Programm der theoretischen Be­gründer der sozialpädagogischen Theorie – Erziehung zur Solidargemeinschaft (und bürgerlicher Partizipation am Staat) statt Revolution der Besitzverhältnisse“ (Graf 2000, S. 22). []
  2. Bernfeld kritisiert an Natorp die Zurücknahme der revolutionären Perspektive explizit: „Aber glaubt man eine geschichtliche Wende ohne Kampf heraufführen zu können?“ (Bernfeld 1914, S. 127). []
  3. Explizit nimmt Bernfeld keinen Bezug auf Mager. Dass Teile sei­ner Systematik bei Bernfeld wiederzufinden sind, fiel bereits dem Herausgeber seiner Schriften auf: „Hier darf noch kurz angezeigt werden, dass Magers terminologischer Vorschlag [Scholastik] nicht rezipiert worden ist, ebensowenig wie Siegfried Bernfelds Terminus ,Instituetik'“ (Kronen 1989, S. 3f.). []
  4. Zwar lasse die Psychoanalyse „die Neurose als Resultat spezifi­scher psychischer Prozesse erkennen […], wenngleich auch hier soziale Tatbestände mitwirken“ (Bernfeld 1931, S. 307). []
  5. Übersichten und Analysen zu Bernfelds sozialpädagogischen Arbeiten geben auch Liebel (1970,1971,1974), Müller (1995) und Dudek (1996,2012). []
  6. Das Zeitfenster, in dem Hoffnungen auf gesellschaftliche Alter­nativen zum kapitalistischen System aufkommen, ist sehr kurz. Bereits 1922 schrieb der sozialistische deutsche Schulreformer Paul Oestreich: „Was die regierenden sozialistischen Bildungspro­grammatiker jetzt, mit Wut gegen Utopisten, vertreten, ist weiter nichts als Vollendung, Lückenlosmachung des kapitalistisch­bürgerlichen Bildungssystems, letzte und festeste Verankerung desselben, vielleicht generationenlange Vermauerung der Wege zu menschlicher Würde“ (zit. nach Heydorn 1970/1995, S. 270). Diese Aussage bezieht sich auf deutsche Verhältnisse. Was die austromarxistische Schulreform betrifft, kommt Bernfeld in sei­ner soziologischen Analyse der Schulgemeinde (1928) zu einem identischen Urteil (Adam 1983, S. 288ff.). []
  7. Jahres- und Seitenzahl bedeuten im Folgenden immer Verweis auf den Baumgarten-Bericht mit den Seitenzahlen in diesem Band. []
  8. „Und wir – wir wissen, daß unsere Aufgabe und unser Los ist, immer wieder unversehens vom Objektiven ergriffen zu werden, das jede Rücksicht auf unser Ichs Wünsche und Leiden auslöscht“ (1921, S. 154). Bernfeld verwandelt hier – dialektisch, könnte man sagen – die Schuld, die Baumgarten-Kmder verlassen zu haben, in eine objektive, historische Schuld. Dieser ist er teilhaftig, aber sie gehört ihm nicht allein. []
  9. Wie ausdauernd und ernst dieser Kampf geführt wurde, zeigt sich auch an Bernfelds erster Frau, Anne Salomon, die im Kinder­heim Baumgarten als Ärztin tätig war. Nachdem sie sich Mitte der 1920er Jahre von Bernfeld getrennt hatte, ging sie mit ihrem zweiten Ehemann nach Moskau, wo sie im Marx-Engels-Institut Arbeit fand und im Rahmen der kritischen Marx-Gesamtausgabe die Manuskripte Karl Marx‘ entzifferte (Fallend/Reichmayr 1992, S. 70ff., Dudek 2012, S. 278f£). []
  10. Bernfeld beschloss im Juni 1914, all sein „Tun und Denken in den Rahmen des jüdischen Volkes einzustellen“ (1921, S. 11). []
  11. Bernfeld bezeichnet sich selbst als „jüdischen sozialistischen Erzieher“ (1921, S. 24). []
  12. Ernst Bloch bezeichnet Jugendbewegung, Frauenbewegung und Zionismus als „bürgerliche Gruppenutopien“ und grenzt diese gegenüber sozialistischen (Pariser Kommune) und „bürgerlichen Gesamtutopien“ (Französische Revolution) ab: „Es ist nicht Revo­lution, sondern Sezession im Programm dieser Gruppen. Auszug aus mannigfachem Ghetto. Erstrebt und erträumt wird zwar ein Einfluß auf die Gesellschaft, gewissermaßen eine aus Jugend, Weiblichkeit, nationalem Judentum sich ergießende neue Tugend. [… ] Doch fehlt der Wille zum Umbau der gesamten Gesellschaft, wie dies in den großen Sozialutopien üblich war“ (1977, S. 681). []
  13. Vgl. dazu die Dokumente in Abt. I des Dokumentenanhangs in diesem Band. []
  14. Meyer Gillis und Max Pine, zwei Repräsentanten der ameri­kanisch-jüdischen Trägerschaft des Kinderheims Baumgarten, sprechen in ihrem Bericht von 60.000 bis 70.000 jüdischen Kriegs­flüchtlingen, die sich 1919 in Wien aufhalten, wovon die Hälfte direkt von Kriegsnothilfe abhängig sei (J.D.c. 1922, S. 14f.). []
  15. Edith Kramer, die ihren Onkel Siegfried Bernfeld als interessanten Diskussionspartner verehrt, sagt hierzu: „In Bezug auf Baumgarten hat er [Bernfeld] sich zum Beispiel vorgestellt, man könnte und sollte ungeheuer große Heime schaffen, für tausende Kinder; keine zwerghaft kleinen Heime. Er hat nicht vorausgesehen, daß das nicht geht. Daß, sowie eine Sache zu groß wird, sie der Bürokratie verfällt und nicht mehr das Individuelle bewahren kann. Daß es Dimensionen gibt, über die man nicht hinaus kann. Das hat er nicht vorausgesehen. – Man kann hundert Kinder sich noch merken, aber tausend nicht“ (Heller 1993, S. 96f.). []
  16. „However, it was soon [1919] found necessary to Subvention vari-ous local agencies, which found themselves greatly impoverished by the war. What made this course imperative was the urgent necessity of providing immediate relief for the thousands of aban-doned, orphaned, backward or defective children […]. Such relief became doubly imperative from the fact that the special peace-time institutions created for the purpose absolutely could not care for the many thousands of war-sufferers“ (J-D.C. 1922, S. 22). []
  17. Bernfeld schreibt, dass im Zuge der „Reorganisationsversuche der Vienna Branch“ das Joint Distribution Committee beabsichtige, dass „neue, produktivere Wege eingeschlagen werden [und] in großzügiger Weise Hilfsorganisationen geschaffen werden, freilich als Hilfe und nicht als Aufbau“ (1921, S. 25). Dass in Tat und Wahr­heit dann nur zwei Eigengründungen aus diesen Plänen resultieren, sagt Bernfeld zwischen den Zeilen: „Nach einem Jahr Tätigkeit des reorganisierten Joint müssen Präsidialmitglieder gestehen: wir haben keine Projekte, wir ‚wurschteln nur weiter’“ (ebd., S. 26). []

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