Der vierte Band der Bernfeld-Werke enthält Arbeiten Bernfelds zur Heim- und Fürsorgeerziehung. Die empirische Grundlage von Bernfelds sozialpädagogischen Schriften bilden seine Erfahrungen im Kinderheim Baumgarten, die er im »Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung« zusammenfasst…
Dieser Praxisbericht enthält eine implizite Theorie der Sozialpädagogik, deren einzelne Bausteine er in den hier abgedruckten Aufsätzen systematisch entfaltet. Die Frage, wie soziale Ordnung in pädagogischen Einrichtungen hergestellt und demokratisiert werden kann, thematisiert Bernfeld unter dem Begriff »Schulgemeinde«. Ebenso zentral ist sein Konzept des »sozialen Orts«, das Verhalten und psychische Entwicklung als Produkt einer sozialstrukturellen Lage interpretiert. Damit erhalten Verhaltensauffälligkeiten und seelische Konflikte eine gesellschaftliche Basis, auf deren Aufklärung und Veränderung sozialpädagogisches Handeln hinzielen soll.
Siegfried Bernfeld, Sozialpädagogik, Werke, Band 4, Herausgegeben von Daniel Barth und Ulrich Herrmann und mit einem Nachwort von Daniel Barth, 541 Seiten, Broschiert, Psychosozial-Verlag 2012, Euro 29,90, Bestellen?
LESEPROBE AUS DEM NACHWORT VON DANIEL BARTH:
1. Siegfried Bernfelds „sozial orientierte Pädagogik“
Der vorliegende Band von Bernfelds Werkausgabe trägt einen Titel – Sozialpädagogik -, der als Begriff von Bernfeld nirgends verwendet wird. Wenn Bernfeld von „sozial orientierter Pädagogik“ spricht, muss dies als bewusste Abgrenzung vom Begriff „Sozialpädagogik“ gelesen werden.
Der Begriff „Sozialpädagogik“ wird zum ersten Mal 1844 in einem Text von Karl Mager nachgewiesen (Mager 1844/1989, S. 171; Kronen 1980, S. 41). Mager unterscheidet eine allgemeine und relative Ebene der Pädagogik, wobei sich Sozialpädagogik auf eine konkrete historische Gesellschaft beziehen soll, also weder anthropologisch noch rein begrifflich, sondern konkret, eben „relativ“, gesellschaftlich, kulturell, historisch bestimmt werden müsse (ebd., S. 42,47). Zu einem Begriff von sich selbst kommt Sozialpädagogik mit der Hoffnung Karl Magers auf die bürgerliche Revolution. ((„Nicht Teil der Pädagogik, sondern Kritik und Revolution der Pädagogik war das explizite Programm der theoretischen Begründer der sozialpädagogischen Theorie – Erziehung zur Solidargemeinschaft (und bürgerlicher Partizipation am Staat) statt Revolution der Besitzverhältnisse“ (Graf 2000, S. 22).)) Deren Scheitern zerstört die Hoffnungen des Begründers des Begriffs (Müller 2010, S. 382f.). „Ohne gesellschaftlichpolitische Veränderungskraft scheint es, schon in ihren ersten Ursprüngen, keine sinnvolle theoretische Anstrengung mehr zu geben für das, was mit Sozialpädagogik bezeichnet werden soll“ (Graf 2000, S. 21). Magers „Projekt und sein kritisches Potential war mit der Revolution eingeschlafen und desavouiert, bereits mit Diesterweg folgt eine Bescheidungund frühe Beschränkung, die Ausrichtung auf institutionelle Hilfe vorbereitend, mit Natorp wohl eine geschultere philosophisch abstraktere Repetition“ (ebd.) ((Bernfeld kritisiert an Natorp die Zurücknahme der revolutionären Perspektive explizit: „Aber glaubt man eine geschichtliche Wende ohne Kampf heraufführen zu können?“ (Bernfeld 1914, S. 127).)) Die neukantianische Erfassung von Wirklichkeit bildete ein wesentliches Hindernis für die konkrete gesellschaftliche historische Analyse, die Magers Begriff von Sozialpädagogik inhärent ist. Natorp bringt Mängel am Subjekt direkt und unvermittelt mit Mängeln am Sozialen in Zusammenhang (Natorp 1909, S. 10), ohne die historischen und sozialen Vermittlungen in die Reflexionen einbeziehen zu können.
Bernfelds Konzept des „sozialen Orts“ kann als Verusch interpretiert werden, die Dialektik Natorps um die fehlenden historisch-gesellschaftlichen Vermittlungen zu ergänzen, d.h. marxistisch zu reformulieren. So begreift Bernfeld psychische Phänomene, soziales Verhalten und pädagogische Institutionen schicht- und klassenspezifisch und stellt sie in einen Zusammenhang mit den Auswirkungen der primären und sekundären Akkumulation von Kapital. Das Konzept des „sozialen Orts“ ist das theoretische Instrument Bernfelds, die von Mager geforderte soziologische Analyse von Erziehung konkret in Bezug auf Sozialisationsorte zu führen, deren sozialstrukturelle Lagen vor dem Hintergrund des marxistischen Gesellschaftsmodells bestimmt werden. Der „soziale Ort“ erlaubt Bernfeld, kollektive Problematisierungen von Verhaltensstörungen und die Durchsetzung von psychosozialen Diagnostiken bei bestimmten Gruppen konsequent auf gesellschaftliche Ungleichverteilung und Diskriminierung zu beziehen.
Bernfelds kapitalismuskritische Analyse psychischer und sozialer Phänomene im Feld der Erziehung ist weit davon entfernt, bloß eine Kartierung sogenannter Umweltfaktoren zu sein. Ein solches Unternehmen hätte seines Erachtens
„zur Voraussetzung eine weitgehend homogene Gesamtheit‘, in der Differenzen bloß als leichte ,Milieu’schattierungen der Familienzustände, Wohnverhältnisse, Berufsbedingungen usw. bestehen. Diese Voraussetzung trifft aber zweifellos für die heute bestehende Ordnung nicht zu. Wollen wir psychoanalytisch in ein Gebiet vordringen, in dem offenkundig soziale Tatbestände eine wichtige, im einzelnen noch unbestimmte, Rolle spielen, so müssen wir uns vor allem eine der sozialen Wirklichkeit voll entsprechende Vorstellung von der Gesellschaft bilden. Um die Übernahme von Theorien über die Gesellschaftsstruktur, für deren Beurteilung wir als Psychoanalytiker nicht kompetent sind, zu vermeiden, halten wir uns dabei an die kaum bestreitbare Tatsache, dass die heutige Gesellschaft über höchst verschiedenen,sozialen Orten‘ errichtet ist, zwischen denen zum Teil mächtige Spannungen bestehen“ (Bernfeld 1931, S. 313).
Weil Bernfelds soziologische Zeitdiagnose von erheblichen strukturellen Spannungen ausgeht, kann die von Mager geforderte gesellschaftliche historische Analyse der Erziehung nicht mehr auf den verloren gegangenen Gesamtzusammenhang, sondern nur noch auf unterschiedliche „soziale Orte“ bezogen werden. Dass Bernfeld in diesem Moment nicht mehr von „Sozialpädagogik“, sondern von „sozial orientierter Pädagogik“ spricht, ist konsequent. ((Explizit nimmt Bernfeld keinen Bezug auf Mager. Dass Teile seiner Systematik bei Bernfeld wiederzufinden sind, fiel bereits dem Herausgeber seiner Schriften auf: „Hier darf noch kurz angezeigt werden, dass Magers terminologischer Vorschlag [Scholastik] nicht rezipiert worden ist, ebensowenig wie Siegfried Bernfelds Terminus ,Instituetik'“ (Kronen 1989, S. 3f.).))
Die in diesem Band wiederabgedruckten Texte Bernfelds können als sukzessive Entwicklung und Systematisierung seiner „sozial orientierten Pädagogik“ gelesen werden.
Empirische Grundlage dieses Konzepts bilden Bernfelds Erfahrungen mit der Erziehung von verwahrlosten Kindern in Baumgarten. Wenn sein Entwurf letztlich bruchstückhaft bleibt, dann darf nicht vergessen werden, dass Bernfeld nie eine Professur innehatte (eine Berufung nach Braunschweig scheiterte; Dudek 2012), keine universitären Lehraufträge bekam (der Einspruch Sprangers hielt ihn von der Berliner Universität fern; Tenorth 1999) und vom damaligen Mainstream universitärer Pädagogik mit einer Art „Zitatensperre“belegt wurde (Gamm 1972, S. 39). Angesichts dieser ungünstigen Bedingungen litt die Kontinuität seines Schaffens, das zudem durch ungewöhnlich vielseitige Erkenntnisinteressen gekennzeichnet war.
Drei Grundlinien lassen sich in Bernfelds Entwurf einer „sozial orientierten Pädagogik“ erkennen (vgl. Tab. 1):
>- Erstens beschäftigt sich Bernfeld mit der Frage der Konstitution sozialer Ordnung in sozialpädagogischen Einrichtungen. Das Konzept „Schulgemeinde“ bezeichnet bei Bernfeld ein pädagogisches Programm der ethisch-moralischen Normierung durch soziale Alltagserfahrung und Selbstorganisation der Kinder und Jugendlichen. Zur Begründung dieses Programms stellt er einerseits entwicklungspsychologische Überlegungen an, andererseits untersucht er die Legitimität institutioneller Ordnungen im Erziehungssystem soziologisch.
>- Zweitens arbeitet Bernfeld an der Historisierung und kulturellen bzw. sozialstrukturellen Kontextualisie-rung anthropologisierter und naturalisierter Kategorien aus Pädagogik und Psychoanalyse. Es ist der Versuch, „die Psychoanalyse in concreto auf geschichtliche und gesellschaftliche Tatbestände auszudehnen“ (Bernfeld 1932, S. 275; Hervorhebung im Original). Als „gesellschaftlichen Tatbestand“ (fait social) bestimmte Emile Dürkheim (1895) den Gegenstand der Soziologie, wozu Bernfeld explizit nicht nur die Erziehung (1925, S. 49) zählt, sondern auch psychische Phänomene wie z.B. die Neurose. ((Zwar lasse die Psychoanalyse „die Neurose als Resultat spezifischer psychischer Prozesse erkennen […], wenngleich auch hier soziale Tatbestände mitwirken“ (Bernfeld 1931, S. 307).)) Das Konzept des „sozialen Orts“ ist Bernfelds Modell zur Anwendung der Psychoanalyse auf „gesellschaftliche Tatbestände“ wie „Ödipuskomplex“, „Neurose“, „Erziehung zur Realität“, „Jugend“, „Jugendbewegung“, „Verwahrlosung“, „Kriminalität“ und „Schulgemeinde“.
>- Drittens entwickelt Bernfeld psychoanalytische Handlungskonzepte für die Erziehung von verwahrlosten
Kindern und Jugendlichen. Vor allem der Baumgarten-Bericht enthält zahlreiche Bausteine einer psychoanalytischen Verwahrlostenpädagogik (Barth 2010, Kap. 3.2), die in den kürzeren Texten des vorliegenden Bandes ergänzt und illustriert werden.
pädagog. Progr. d. ethisch-moral. Normierung durch soziale Alltagserfahrung & Selbstorganisation d. Kinder („Schulgemeinde“) | gesellschaftstheoret. Reflexion anthropologisierter & naturalisierter Kategorien aus Pädagogik & Psychoanalyse („sozialer Ort“) | Bausteine einer psychoanalyt. Verwahrlostenpädagogik | |
Kinderheim Baumgarten (1921) | X | x | |
Psychische Typen von Anstaltszöglingen (1926b) | X | X | |
Die Unehelichen (1926c) | X | ||
Gibt es eine untere Grenze für „Schwererziehbarkeit“? (1926) | X | ||
Die psychologischen Grundlagen der Gefährdetenfürsorge (1926) | X | ||
Zur Psychologie der „Sittenlosigkeit“ der Jugend (1926) | X | ||
Die Formen der Disziplin in Erziehungsanstalten (1927) | X | ||
Die männliche Großstadtjugend (1928) | X | X | |
Strafen und Schulgemeinde in der Anstaltserziehung (1929) | x | x | |
Ernährungsfrage in Erziehungsanstalten (1929) | X | X | |
Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik (1929) | x | ||
Verwahrloste Jugend (1929) | X | ||
Leonard Bourdons System der Anstaltserziehung (1930) | X | X | |
Die Tantalus-Situation (1931) | X |
Tabelle 1: Entwicklung und Systematisierung von drei Grundlinien in Bernfelds Konzept einer „sozial orientierten Pädagogik“
Weiter unten wird die erste dieser drei Grundlinien rekonstruiert, um die Entwicklungen sichtbar zu machen, an denen
Bernfeld über zehn Jahre hinweg gearbeitet hat. ((Übersichten und Analysen zu Bernfelds sozialpädagogischen Arbeiten geben auch Liebel (1970,1971,1974), Müller (1995) und Dudek (1996,2012).)) Zunächst aber sei der historisch-gesellschaftliche Kontext beschrieben, in dem Bernfeld seine „sozial orientierte Pädagogik“ entwickelt. Dass Bernfeld zuerst Pädagoge wurde und sein Schaffen nur sekundär und z.T. erst in späteren Lebensphasen klinischen, erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Fragen widmete, wird verständlich, wenn man sich die historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen vergegenwärtigt, die den „sozialen Ort“ Bernfelds in Wien Ende des Ersten Weltkriegs prägen (dazu Band 3 dieser Werkausgabe). Es waren konkrete soziale Probleme, die während des Kriegs immer drängender wurden und Bernfelds Aufmerksamkeit von der Jugendbewegung und -forschung (1915,1917) abzogen. Vom 15. Oktober 1919 bis zum 15. April 1920 leitete er Kinderheim und Schule in Baumgarten, ein Schulheim für 300 jüdische Kriegswaisen im Alter von drei bis 14 Jahren. Der Bericht über diese praktische Erfahrung trägt den Untertitel „Ein Versuch mit neuer Erziehung“ und ist oft impliziter Referenzpunkt der in diesem Band abgedruckten Aufsätze.
2. Erziehung zum Klassenkampf als Gebot der historischen Stunde
Der „Versuch mit neuer Erziehung“ reagierte auf eine historisch singulare Situation, in der die politische Entwicklung in Österreich absolut offen war. Kriegsende und Kollaps der Habsburger Doppelmonarchie nährten Hoffnungen auf sozialen Wandel und gesellschaftlichen Umbruch. „Vienna ex-perienced its most dynamic period, catalyzed by the political flux and uncertainty of the postwar months [Oktober und November 1918]. In this highly charged atmosphere all political and social options, it seemed, were open“ (Rechter 1996, S. 36). Zum einen stellte sich im Anschluss an den Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie und bei der Gründung der Nachfolgestaaten die Frage nationaler Minderheitenrechte, was auch bei der jüdischen Bevölkerung in Österreich Hoffnungen auf Teilautonomie bzw. auf einen staatsrechtlich verankerten Minderheitsstatus weckte. Zum anderen war die Situation um 1919 auch in Bezug auf die sozialistische Revolution realutopisch: In Palästina existierten bereits seit 1910 erste genossenschaftlich-sozialistisch organisierte Kibbuzim; in der neu gegründeten Sowjetunion bildeten sich ab 1917 auf freiwilliger Basis erste Kolchosen; im März 1919 konstituierte sich in Ungarn eine Räterepublik; einen Monat später wurde in München die Bayerische Räterepublik ausgerufen. In diese Zeitspanne, als Österreich „zwischen zwei Räterepubliken lag“ (Leichter 1973, S. 52), fällt die Vorbereitungsphase von Kinderheim und Schule in Baumgarten. Am 29. Juli 1919 beschloss die österreichische Nationalversammlung ein Betriebsrätegesetz und ein Gesetz über gemeinwirtschaftliche Unternehmungen (ebd., S. 55). Bernfeld reagierte sehr schnell und nutzte die Gunst der Stunde, in der demokratische Alternativen zum kapitalistischen Staat und Wirtschaftsbetrieb eine konkrete, wenn auch schwache Realität bekamen. Aus der Perspektive jenes historischen Moments war für Bernfeld nichts naheliegender als die Schaffung einer Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Erziehung. ((Das Zeitfenster, in dem Hoffnungen auf gesellschaftliche Alternativen zum kapitalistischen System aufkommen, ist sehr kurz. Bereits 1922 schrieb der sozialistische deutsche Schulreformer Paul Oestreich: „Was die regierenden sozialistischen Bildungsprogrammatiker jetzt, mit Wut gegen Utopisten, vertreten, ist weiter nichts als Vollendung, Lückenlosmachung des kapitalistischbürgerlichen Bildungssystems, letzte und festeste Verankerung desselben, vielleicht generationenlange Vermauerung der Wege zu menschlicher Würde“ (zit. nach Heydorn 1970/1995, S. 270). Diese Aussage bezieht sich auf deutsche Verhältnisse. Was die austromarxistische Schulreform betrifft, kommt Bernfeld in seiner soziologischen Analyse der Schulgemeinde (1928) zu einem identischen Urteil (Adam 1983, S. 288ff.).))
Bernfelds „Versuch mit neuer Erziehung“ (1921) steht im Zusammenhang mit der realutopischen Situation um 1918/1919. Im ersten Satz seiner Rezeption des Baumgarten-Berichts schrieb Paul Oestreich: „Der Krieg und die Nachkriegszeit haben mit den außerordentlichen Notlagenund Anforderungen, die sie mit sich brachten, auch in einem Maße die Verhältnisse aufgelockert und Möglichkeit zu besonderen Maßnahmen geschaffen, wie sie sonst nicht entfernt so bestand“ (in diesem Band, S. 452). Bernfelds „Versuch mit neuer Erziehung“ war eine solche „besondere Maßnahme“, mit der er auf eine „außerordentliche Notlage“ reagierte. Weit wichtiger als der praktische Nutzen dieser Intervention war die dahinterstehende politische Absicht: Bernfeld wollte 1918/19 dem Sozialismus in Wien zum Sieg verhelfen; die Pädagogik war ideologisches Vehikel zur Umsetzung der sozialistischen Utopie. Mit dem „Kampf um eine große Idee“ (1921, S. 154 ((Jahres- und Seitenzahl bedeuten im Folgenden immer Verweis auf den Baumgarten-Bericht mit den Seitenzahlen in diesem Band.)) ) im zweitletzten Satz des Baumgarten-Berichts ist nämlich nicht „neue Erziehung“ gemeint: Der nachfolgende Satz ((„Und wir – wir wissen, daß unsere Aufgabe und unser Los ist, immer wieder unversehens vom Objektiven ergriffen zu werden, das jede Rücksicht auf unser Ichs Wünsche und Leiden auslöscht“ (1921, S. 154). Bernfeld verwandelt hier – dialektisch, könnte man sagen – die Schuld, die Baumgarten-Kmder verlassen zu haben, in eine objektive, historische Schuld. Dieser ist er teilhaftig, aber sie gehört ihm nicht allein.)) lässt keinen Zweifel daran, dass sich Bernfeld und sein Erzieherinnen-Team im historischen Moment wähnten, wo objektiv die Bedingungen erfüllt waren, um die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden: „Wir, die wir hoffen, an der Schwelle der sozialistischen Gesellschaft zu stehen“ (Geiringer 1920, in diesem Band, S. 426). Mit dieser Erwartung standen Bernfeld und sein pädagogisches Team keineswegs allein. So warnte der inhaftierte Führer der niedergeschlagenen Bayerischen Räterepublik, Ernst Toller, im September 1920 den Herausgeber der Zeitung Kampf:
„Alle deutschen sozialistischen Zeitungen ohne Unterschied der politischen Richtung begehen den Fehler, mit der Weltrevolution als einem Ereignis der nahen Zukunft zu rechnen. Ist von einem Streik in England oder Frankreich die Rede, so wird dieser Streik als Auftakt zur revolutionären Erhebung gedeutet“ (Toller zit. nach Leichter 1973, S. 214).
Analog zu diesen Streiks verstanden Bernfeld und sein Er-zieherlnnen-Team das Baumgarten-Experiment als Teil des Kampfes für eine sozialistische Ordnung ((Wie ausdauernd und ernst dieser Kampf geführt wurde, zeigt sich auch an Bernfelds erster Frau, Anne Salomon, die im Kinderheim Baumgarten als Ärztin tätig war. Nachdem sie sich Mitte der 1920er Jahre von Bernfeld getrennt hatte, ging sie mit ihrem zweiten Ehemann nach Moskau, wo sie im Marx-Engels-Institut Arbeit fand und im Rahmen der kritischen Marx-Gesamtausgabe die Manuskripte Karl Marx‘ entzifferte (Fallend/Reichmayr 1992, S. 70ff., Dudek 2012, S. 278f£).)) , für deren Konstituierung es 1919 konkrete Anzeichen gab. Bernfelds Strategie war die „Schaffung kultureller Tatsachen“ (1921, S. 22), um im politisch umstrittenen Feld der Erziehung bürgerliche Macht und Ideologie zurückzudrängen und zu ersetzen durch „sozialistische Erziehung“ (S. 21) zur Bildung von „wahrhaft sozialistischen Menschen“ (S. 57). „Schaffung kultureller Tatsachen“ bedeutete in Tat und Wahrheit also Schaffung „sozialistischer Tatsachen“ (S. 58), zunächst beschränkt auf einen ganz bestimmten „sozialen Ort“: die jüdische Diaspora in Wien.
Der Zionismus kann seit 1914 als Ideologie des „sozialen Orts“ von Siegfried Bernfeld bezeichnet werden ((Bernfeld beschloss im Juni 1914, all sein „Tun und Denken in den Rahmen des jüdischen Volkes einzustellen“ (1921, S. 11).)) , ähnlich wie dies Wynekens Jugendkultur in seiner jugendbewegten Phase vor 1914 war. Zu betonen ist dabei, dass Bernfelds sozialistische Überzeugung gleichsam die universalistische Grundkonstante blieb ((Bernfeld bezeichnet sich selbst als „jüdischen sozialistischen Erzieher“ (1921, S. 24).)), auch wenn die oben beschriebene realutopische Situation am „sozialen Ort“ Bernfelds, dem Wiener Judentum, durch drei historische Ereignisse eine partikulare ((Ernst Bloch bezeichnet Jugendbewegung, Frauenbewegung und Zionismus als „bürgerliche Gruppenutopien“ und grenzt diese gegenüber sozialistischen (Pariser Kommune) und „bürgerlichen Gesamtutopien“ (Französische Revolution) ab: „Es ist nicht Revolution, sondern Sezession im Programm dieser Gruppen. Auszug aus mannigfachem Ghetto. Erstrebt und erträumt wird zwar ein Einfluß auf die Gesellschaft, gewissermaßen eine aus Jugend, Weiblichkeit, nationalem Judentum sich ergießende neue Tugend. [… ] Doch fehlt der Wille zum Umbau der gesamten Gesellschaft, wie dies in den großen Sozialutopien üblich war“ (1977, S. 681).))Färbung und teilweise andere Inhalte bekommen hatte:
(1) seit 1914 durch den jüdischen Flüchtlingsstrom aus den Ostgebieten der Doppelmonarchie nach Westen und besonders nach Wien;
(2) durch die antisemitische Reaktion auf diesen Zustrom an Ostjuden und die Spaltungen innerhalb des Wiener Judentums, die durch die Flüchtlingswelle manifest und verschärft wurden;
(3) durch die Zionistische Bewegung, die einerseits durch Herzls „Judenstaat“, andererseits durch die Balfour-Declaration von 1917 viel utopischen Schwung bekam (Bunzl 1992; Texte und Dokumente in Band 3 dieser Werkausgabe).
Bernfelds „Tatprogramm“ (1921, S. 15) zur Bewältigung des Problems jüdischer Kriegswaisen in Wien kann als Kristallisationskern seiner Reaktion auf diese drei historischen Ereignisse (vgl. 3.1 bis 3.3) verstanden werden.
3. „Kriegswaisenerziehung als nächstliegende Forderung des Augenblicks
3.1 Das Flüchtlingsproblem
In seinem Aufsatz „Die Kriegswaisen“ griff Bernfeld im Jahre 1916 das Flüchtlingsproblem auf und schlug für dessen Lösung den Bau von „Kinderdörfern und Jugendgemeinden“ (1921, S. 14) in Palästina vor, d.h. ein staatlich finanziertes Bildungssystem, wie er es in seinem Buch Das jüdische Volk und seine Jugend (1919) für Palästina entworfen hatte. „So sehr es aber tatsächlich um diese durch Not und Rettung gleich gefährdeten Kinder ging, handelte es sich doch zugleich um mehr noch: um das jüdische Erziehungswesen überhaupt“ (1921, S. 15). Der „Plan,Freie jüdische Schulsiedlung'“ war die nächste Konkretisierungsstufe von Bernfelds Entwurf einer umfassenden Lösung des Kriegswaisenproblems. ((Vgl. dazu die Dokumente in Abt. I des Dokumentenanhangs in diesem Band.)) Bernfeld entwickelte diesen Plan gleichsam im Auftrag des im Februar 1919 neugegründeten Verbands für jüdische Jugendfürsorge in Deutschösterreich, der seine „erste und wichtigste Aufgabe“ darin sah, eine „,jüdische Schulsiedlung‘ in der Nähe Wiens zur Erziehung von Waisen“ zu gründen (ebd., S. 16). Anhaltende Schwierigkeiten beim Kauf eines geeigneten Landgutes für die Schulsiedlung veranlassten Bernfeld, eine Redimensionierung des Projekts in Kauf zu nehmen. Das Kinderheim Baumgarten wurde nicht wie die Schulsiedlung „für einige tausend Kinder, Jugendliche und Erwachsene“ (ebd., S. 19) konzipiert, sondern lediglich für 200 bis 300 Kinder. Unterkunft boten kein landwirtschaftlicher Betrieb außerhalb Wiens, sondern fünf ehemalige Baracken eines aufgelassenen Kriegsspitals am westlichen Wiener Stadtrand im Stadtteil Baumgarten. Trotz dieser recht unterschiedlichen Ausgangslage blieb die Gründung des Kinderheims mit dem Kriegsfolgenproblem direkt verbunden. Auch der Plan einer großen Schulsiedlung, für die das Kinderheim als Kaderschmiede funktionieren sollte (ebd., S. 29, 31f.), und die ursprüngliche Intention, einen Beitrag für den „Aufbau des jüdischen Erziehungswesens der Diaspora“ (ebd., S. 140) leisten zu können, blieben in Baumgarten aktuell.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bernfeld auf das Kriegswaisenproblem als „nächstliegende Forderung des Augenblicks“ (ebd., S. 16) reagierte und zur Lösung bildungspolitische und sozialpädagogische Maßnahmen vorschlug. Damit zeigte er ein feines Gespür für die kommenden Umwälzungen. Die Massenhaftigkeit des Kriegswaisenproblems ((Meyer Gillis und Max Pine, zwei Repräsentanten der amerikanisch-jüdischen Trägerschaft des Kinderheims Baumgarten, sprechen in ihrem Bericht von 60.000 bis 70.000 jüdischen Kriegsflüchtlingen, die sich 1919 in Wien aufhalten, wovon die Hälfte direkt von Kriegsnothilfe abhängig sei (J.D.c. 1922, S. 14f.).)) macht Bernfeld mit aller Wucht bewusst, dass soziale Probleme durch tradierte Fürsorgesysteme (Almosen und Wohltätigkeit) nicht zu bewältigen sind. So unrealistisch aus heutiger Sicht Erziehungseinrichtungen für „einige tausend“ Kinder und Jugendliche erscheinen mögen ((Edith Kramer, die ihren Onkel Siegfried Bernfeld als interessanten Diskussionspartner verehrt, sagt hierzu: „In Bezug auf Baumgarten hat er [Bernfeld] sich zum Beispiel vorgestellt, man könnte und sollte ungeheuer große Heime schaffen, für tausende Kinder; keine zwerghaft kleinen Heime. Er hat nicht vorausgesehen, daß das nicht geht. Daß, sowie eine Sache zu groß wird, sie der Bürokratie verfällt und nicht mehr das Individuelle bewahren kann. Daß es Dimensionen gibt, über die man nicht hinaus kann. Das hat er nicht vorausgesehen. – Man kann hundert Kinder sich noch merken, aber tausend nicht“ (Heller 1993, S. 96f.).)), muss man Bernfeld zugestehen, dass er in Bezug auf die Bewältigung sozialer Probleme modern und fortschrittlich denkt: „Aufbau“ sozialstaatlich alimentierter Einrichtungen kollektiver Erziehung statt „Schnorrergeld und Nothilfe für einen kurzen Augenblick“ (ebd., S. 25). Bernfelds Leitideen stellen eine ganz frühe Form dessen dar, was im keynesianischen Gesellschaftsmodell der Nachkriegsära (1933-1993; dazu Bornschier 1998) zum Grundkonsens wohlfahrtsstaatlicher Regelungen gehört. Obwohl die amerikanisch-jüdische Trägerschaft von Baumgarten auch sah, dass die Massen von Kriegsflüchtlingen die bestehende Fürsorgeinfrastruktur des Wiener Judentums überforderte, setzte sie im Gegensatz zu Bernfeld auf Subventionierung bestehender Institutionen ((„However, it was soon [1919] found necessary to Subvention vari-ous local agencies, which found themselves greatly impoverished by the war. What made this course imperative was the urgent necessity of providing immediate relief for the thousands of aban-doned, orphaned, backward or defective children […]. Such relief became doubly imperative from the fact that the special peace-time institutions created for the purpose absolutely could not care for the many thousands of war-sufferers“ (J-D.C. 1922, S. 22).))und auf „individual per capita allowance“ (J.D.C. 1922, S. 49). Das Kinderheim Baumgarten (für 300 Kinder) bildete zusammen mit dem Lehrlingsheim in der Rossauerkaserne (für 30 Jugendliche) zwei Ausnahmen in dieser Flüchtlingshilfe-Politik, weil das Joint Distribution Committee als Trägerschaft auftrat und eigene sozialpädagogische Institutionen gründete. ((Bernfeld schreibt, dass im Zuge der „Reorganisationsversuche der Vienna Branch“ das Joint Distribution Committee beabsichtige, dass „neue, produktivere Wege eingeschlagen werden [und] in großzügiger Weise Hilfsorganisationen geschaffen werden, freilich als Hilfe und nicht als Aufbau“ (1921, S. 25). Dass in Tat und Wahrheit dann nur zwei Eigengründungen aus diesen Plänen resultieren, sagt Bernfeld zwischen den Zeilen: „Nach einem Jahr Tätigkeit des reorganisierten Joint müssen Präsidialmitglieder gestehen: wir haben keine Projekte, wir ‚wurschteln nur weiter’“ (ebd., S. 26).))
Siegfried Bernfeld, Sozialpädagogik, Werke, Band 4, Herausgegeben von Daniel Barth und Ulrich Herrmann und mit einem Nachwort von Daniel Barth, 541 Seiten, Broschiert, Psychosozial-Verlag 2012, Euro 29,90, Bestellen?
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