Alles drin. Es ist alles drin in diesem neuen Jüdischen Echo. Alles, was man an Sichtweisen und Meinungen zum gewählten Thema „Religion heute. Wozu?- Glauben in einer säkularisierten Welt“ finden kann. Und es geht nicht nur um jüdischen Glauben, sondern ganz allgemein um Relgion…
Rezension von Ramona Ambs
Dabei fallen die Einschätzungen der zahlreichen Autoren weit auseinander. Während beispielsweise Kardinal Dr. Christoph Schönborn das Christentum in unserer heutigen Kultur für bedroht hält: „Könnte nicht schon bald der Zeitpunkt kommen, da die europäische Gesellschaft in ihrer Mehrheit den Christen sagt: Ihr seid ein Fremdkörper unter uns! Eure Werte sind nicht unsere!“, sieht Philipp Blom, die heutige Gesellschaft noch immer stark christlich dominiert, wenn auch das Christentum „seinen Mantel“ gewechselt habe. „Unsere Gesellschaften (…)“ schreibt Blom, „stecken tief in der Furche, die über Jahrhunderte der kirchlichen Herrschaft und der Dominanz der Religion in der Philosophie in unsere Hirne gepflügt wurde.“ Eindrucksvoll belegt er diese These anhand zahlreicher Beispiele. So analysiert er: „Auch der christliche Körperhass ist allgegenwärtig, zum Beispiel in Hollywoodfilmen, in denen man keine nackten, wohl aber gefolterte Körper sehen darf…“ und kommt schließlich zu dem Resümee, dass wir „die Aufklärung weder überwunden noch diskreditiert haben- wir haben mit ihr schlicht noch nicht wirklich angefangen“
Die Frage, ob und wenn ja, wie weit unsere heutigen Gesellschaften säkularisiert sind, stellen sich viele weitere Autoren. Auch und insbesondere im Hinblick auf die verschiedenen Regionen und Länder. Wolfgang Geier beispielsweise gibt einen Überblick über den Umgang mit dem Thema Religion in den USA, Magdalena Marsovszky berichtet über die neueren Entwicklungen in Ungarn rund um das „nationale Glaubensbekenntnis“ und Jérome Segal erläutert die Probleme des neuen „positiven Laizismus“ in Frankreich. Weitere Beiträge befassen sich mit Israel, Polen und dem Balkan. Christian Schüller erzählt besonders anschaulich aus der Türkei und dem „islamischen Kapitalismus Erdogans“ und lässt dabei viele Stimmen zu Wort kommen. Vielstimmig sind auch die zahlreichen persönlichen Schilderungen im Heft. Von der musikalischen Reise durch die Religionen von Otto Brusatti über verschiedene Interviews, u.a. mit den Gründern des Forums „Emanzipatorischer Islam“ in Österreich, bis hin zu der biographischen Erzählung von Ruth Steiner, die sowohl im christlichen als auch im jüdischen Glauben zuhause ist.
Interessanterweise haben nur vier der 38 Autoren des Heftes den 11. September thematisiert: Alan Posener, Rudolf Taschner, Peter L. Berger und Adelheid Wölfl. Das ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil die Terroranschläge auf das WTC weltweit eine öffentliche Debatte über Islamismus und infolge dessen auch wieder vermehrt über das Thema Religion ausgelöst hatten. Wer zuvor das Thema Religion noch ausblenden konnte, wurde nach dem 11. September quasi gezwungen sich mit diesem Aspekt der Moderne auseinander zu setzen. Doch auch hier gilt, was sich wie ein roter Faden durch das gesamte jüdische Echo zieht: alles drin. Während die einen Autoren Religion als Fundament der Gesellschaft betrachten, die anderen nur als kulturelles Beiwerk, lehnen die nächsten jedwede institutionalisierte Form von Religion vollständig ab. Alles drin.
Am Schönsten jedoch sind die vielen kleinen, unerwarteten Schätze, die das Echo, zum jüdischen Echo machen. Seien es die Schilderungen Aviv Livnats über die kupferfarbene jüdische Idendität oder die unorthodoxen Gedanken des orthodoxen Rabbiner Chaim Amsellem oder aber die Ausführungen Anna Mitgutsch zum Thema „Auch Gott war ein Fremder“. „Du sollst wissen, daß deine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Land, das ihnen nicht gehört, und sie werden sie knechten und unterdrücken…–dieser Vers wird an jedem Pessach-Seder gelesen und steht in der Hagada in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem anderen Satz: nicht einer allein ist aufgestanden, um uns zu vernichten, sondern in jeder Generation stehen sie gegen uns auf, uns zu vernichten..“ Und dennoch- oder gerade wegen dieser Erfahrung des Fremdseins, erläutert Mitgutsch die zahlreichen Gebote, wie Juden ihrerseits mit Fremden umgehen sollen und was das konkret bedeutet. Den Fremden schützen und integrieren ist eine der zentralen Aussagen dabei. Und das alles ist nur möglich durch Begegnung. Bei einer Begegnung, bei einer echten Begegnung, ist bekanntlich alles drin. Wie beim Jüdischen Echo.
Jüdisches Echo, vol. 60, 2011/12. Religion heute. Wozu? Glauben in einer säkularisierten Welt
Falter Verlag, Wien, 2011, 192 Seiten, EAN 9783854394617, Euro 14,50, Bestellen?
Weitere Informationen: http://www.juedischesecho.at
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