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Schweigen tut weh

Eine sehr deutsche Familiengeschichte…

Von Roland Kaufhold

Gelegentlich liegen Bücher länger bei mir herum. Gründe hierfür gibt es vielerlei: Ich habe zu viel Arbeit, das Buch ist zu umfangreich, mir fehlt die seelische Ruhe, mich – neben der Berufsarbeit – wirklich auf es einzulassen.

Ich „kenne“ Alexandra Senfft als Autorin schon lange. Sie ist eine der führenden deutschen Publizistinnen zum „Nahostkonflikt“, sechs Jahre lang war sie Vorstandsmitglied des Deutsch-israelischen Arbeitskreises für Frieden in Nahost (diAK). Als Autorin und Rezensentin schreibt Alexandra Senfft gleichermaßen professionell wie engagiert; ihr Buch Fremder Feind so nah (2009)  beispielsweise ist vorzüglich. Von ihrer Familiengeschichte – ihr Großvater Hanns Ludin war ein hochrangiger Nationalsozialist in der Slowakei und wurde nach dem Krieg wegen Kriegsverbrechen hingerichtet – hatte ich gehört. Die näheren Umstände und Details waren mir unbekannt.

Nun habe ich Alexandra Senffts Familiengeschichte Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte endlich in Ruhe gelesen: ein berührendes, ansprechendes, bzgl. der familiären Bezüge gelegentlich etwas verwirrendes Werk. Es ist ein wirklicher Beitrag zum Verständnis der destruktiven Folgen des nationalsozialistischen Erbes auch in der 3. und 4. Generation. Senfft spricht in deutlicher Weise über die Verbrechen ihres Großvaters, ohne hierbei zugleich die Loyalität zu ihrer Familie zu zerstören.

„Die Nacht, in der meine Mutter starb, erscheint mir bis heute wie ein übler Traum. Er haftet an meiner Seele und gibt mir Rätsel auf“ (S. 9). Mit diesen Worten eröffnet die Autorin ihre Familiengeschichte. Sie erzählt in sehr persönlicher Weise über das tragische Schicksal ihrer 1933 geborenen Mutter Erika. Diese genoss in Hamburg in intellektuellen, liberalen Kreisen auch wegen ihrer großen Feste eine gewisse Berühmtheit; „und doch“ zerstörte sie sich durch schweren Alkoholmissbrauch systematisch. Verheiratet war sie mit dem renommierten Juristen und Publizisten Heinrich Senfft, Anwalt u.a. des Stern und der Zeit. Ihm dankt Alexandra Senfft am Ende ihres Nachwortes: „Ohne meinen Vater aber wäre meine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart mitunter nur schwer auszuhalten gewesen“ (S. 348).  Er habe dieses „auch für ihn nicht leichte Buch“ (ebd.) von Anfang an unterstützt.

1998 starb Senffts Mutter Erika mit 64 Jahren. Sie hatte sich über 20 Jahre lang systematisch zerstört. Alexandra war 14, als ihre Mutter zusammen brach und ihre Mutterrolle zunehmend nicht mehr zu erfüllen vermochte. In ihren letzten Jahren hatte sie Alexandra und einen Teil ihrer Familie in diesen zerstörerischen Kampf einzubinden versucht. Alexandra hatte Distanz gesucht, suchen müssen, die permanenten Rückfälle, Enttäuschungen waren zu verstörend. Erikas Mutter Erla hingegen, die Ehefrau des überzeugten Nationalsozialisten Hanns Ludin, hatte den Kontakt zu ihrer Tochter auch im hohen Alter aufrecht erhalten, trotz aller auch krankheitsbedingten Beleidigungen und Entwertungen.

Die familiäre Tragik ihrer Mutter Erika war Alexandra Senfft zwar bekannt, dennoch blieb sie weitgehend ein Familiengeheimnis. Erika war das älteste von sechs Kindern der Ludins, vier Mädchen und zwei Jungen. Bei der Hinrichtung ihres Vaters am Galgen war sie 14 Jahre alt – ihre Tochter Alexandra wurde im gleichen Lebensalter mit dem zerstörerischen Alkoholismus und den schweren Depressionen ihrer Mutter – Hanns Ludins Tochter – konfrontiert. Die Autorin fügt hinzu: „Als Erstgeborene war sie sein Lieblingskind, eine Vatertochter. Die Möglichkeit zu trauern hatte sie damals und auch später nicht. Da nahm das Elend seinen Lauf, erst heimlich, schleichend, später dann brüllend und immer rasender“ (S. 11).

Alexandra wusste, dass ihr 1905 in Breisgau geborener Großvater Hanns Ludin 1947 in der Slowakei durch den Strang hingerichtet worden war. Er trug, als Hitlers Gesandter, als Repräsentant des Deutschen Reiches in der Slowakei, die politische Verantwortung für die Ermordung von 65.000 Juden.

Im familiären Familienroman  blieb Hanns Ludin zwar ein Nationalsozialist, aber vor allem doch ein aufrechter Deutscher, ein „guter Nazi“ (S. 13) und guter Familienvater. Diese Spaltung wurde an die nächste Generation weiterregeben, „unverarbeitet“. Alexandra Senfft hebt hervor: „Ein guter Mensch kann keine Verbrechen begehen. Alles, was in das makellose Bild nicht passte, durfte nicht sein, wurde verschwiegen, wegdiskutiert, schöngeredet. Die Täter, das waren die vulgären Nazis, nicht wir, das können wir gar nicht sein, denn wir sind gebildet und kultiviert“ (S. 14).

Der Tod der Mutter war das Ende einer langen, in den letzten Jahren qualvollen Geschichte. Und doch zugleich ein Neuanfang: Erika – genannt Eri – hinterließ kistenweise Briefe und Fotos. Alexandra brauchte sieben Jahre, um diese Kisten anzuschauen – die Ängste vor diesem „nationalsozialistischen“ Erbe waren zu groß – “… erst jetzt, sieben Jahre nach ihrem Tod, habe ich begonnen, mich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Ich musste eine innere Hürde überwinden. (…) Erst allmählich komme ich aber dazu, die einzelnen Stränge unseres familiären Beziehungsgeflechts zu entwirren“ (S. 13).

Voran gegangen war dieser verstörenden Spurensuche der Kinofilm „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ ihres 1942 geborenen Onkels Malte Ludin. In diesem erstmals 2005 öffentlich präsentierten Film wird in dichter, bedrückender, emotional teils schwer aushaltbarer Weise der familiäre Verdrängungs- und Verleugnungsmythos einer nationalsozialistischen Täterfamilie dargeboten, gespiegelt in den Aussagen von Hanns Ludins Ehefrau und ihrer Kinder: Die Ludins sind eine gebildete, liberale Familie, Ludins Witwe Erla (1905 – 1997) nahm auch noch im hohen Alter an Friedensdemonstrationen teil. Die Dialektik zwischen Verschweigen, Verleugnen und Aufdecken wird filmisch dokumentiert, in einer wohl niemanden unbeteiligt lassenden Weise. Auch einige Enkelkinder Hans Ludins kommen hier zu Wort, darunter Alexandra Senfft mit einigen wenigen Aussagen. Der generationelle Abstand zwischen der Kinder- und der Enkelgeneration, also zwischen der 2. und der 3. Generation, wird hierbei sehr deutlich: Erst die Enkel vermochten mit Distanz, nüchtern über die Verbrechen ihres nationalsozialistischen Großvaters zu sprechen.

Der Film Malte Ludins war für Senfft der letzte Auslöser, um sich selbst mit der Familiengeschichte zu befassen – persönlich und literarisch. Nun vermochte sie die Kiste vom Dachboden wirklich zu öffnen und den Inhalt anzuschauen, die vielen Briefe von 1946-1998 zu lesen und darin Dinge über ihre Mutter zu erfahren, die diese ihr nie erzählt hatte, weil sie zu schmerzhaft für sie waren. Ihr Prolog zu ihrem Buch schließt mit der Bemerkung: „Allmählich fällt eine große Last von meinen Schultern“ (S. 21).

In dem Kapitel „Hanns und Hunger“ erzählt Alexandra Senfft von der schwierigen Zeit ihrer Mutter in der Internatsschule Schloss Salem. Erika fühlte sich als Erstgeborene für ihre alleinstehende Mutter Erla verantwortlich, die Nachkriegszeit war von Mangel und Hunger geprägt. Nahezu täglich schreibt Erla ihrer Mutter; nur vereinzelt erhält sie Briefe ihres in Haft sitzenden Vaters. Kurz vor seiner Hinrichtung schreibt dieser seiner Frau mit pathetischem Tonfall, frei von Einsicht in die eigene Verantwortung für die Zehntausenden von ermordeten, wehrlosen Juden: „Dass ich kein Verbrecher bin, weißt du. (…) Du kennst mein Herz durch und durch. Es ist weder eines unmenschlichen Gefühls, noch einer unmenschlichen Handlung fähig. Meine tragische Schuld liegt wohl darin, dass ich die ganze Hintergründigkeit des Systems, dem ich diente, nicht durchschaute“ (S. 44).

In „Kameradschaft und Männerbünde“ schreibt Senfft über die frühe Welt ihrer Großeltern, über die Seitensprünge ihres Großvaters. Auch Senffts Mutter soll während ihrer Ehe Liebschaften gehabt haben – immer auf der Suche nach ihrem Vater. Die Autorin schreibt über das „Milieu von Vaterlandstreue, Romantik und Religion“ (S. 49), über Melancholie, aber vor allem über den Wunsch ihres Großvaters, „seinem Vaterlandland (zu) dienen“ (S. 49).

Ihre Großmutter Erla opfert sich auf, hofft auf eine Rückkehr ihres in Bratislava inhaftierten Mannes, den sie idealisiert. „Von Vati haben wir immer noch nichts gehört´“ (S. 102), schreibt sie ihrer Tochter Erika kurz nach dessen Verhaftung. Nach seiner Hinrichtung ist sie von der Erziehung ihrer sechs Kinder, das jüngste gerade erst vier Jahre alt, überfordert: Ein Trauerprozess und eine Anerkennung der Verbrechen ihres Mannes ist ihr nicht möglich. Für Alexandra Senfft bildet dies die Grundlage für die Tradierung der Schuld, der emotionalen Last an ihre Mutter Erika. Diese spürt etwas von den Verbrechen ihres Vaters, findet jedoch keinerlei Bereitschaft zu dessen Anerkennung innerhalb ihrer Familie; und sie fühlt sich von ihrem Vater, dem hingerichteten Mörder, in Stich gelassen – für Alexandra Senfft die Quelle eines unerträglichen Schuldgefühls.

30 Jahre nach Hanns Ludins Hinrichtung kommt Alexandra Senfft 15-jährig in ein englisches Internat, „einer kleinen Partnerschule von Salem“ (S. 105). „Ich versuche mich daran zu erinnern, wie sich das alles anfühlte, es fällt mir gar nicht leicht, denn die Leiden meiner Mutter haben meine eigenen Sorgen stets überlagert“ (S. 108). Ihr Vater Heinrich Senfft ist von seiner kranken Ehefrau zunehmend überfordert, beruflich ist er als renommierter Rechtsanwalt sehr eingespannt. Je mehr er sich historisch und politisch engagiert, „umso mehr irritiert ihn die unaufgearbeitete Familiengeschichte seiner Frau“ (S. 260), so Senfft.

Als sie viele Jahre zuvor erstmals von der Hinrichtung ihres Großvaters gelesen hatte hatte sie dies „merkwürdig unberührt gelassen“ (S. 117). Sie fügt hinzu: „Heute jedoch gibt es Tage, an denen mich diese Hinrichtung sehr aufwühlt, und Nächte, in denen ich vom Tod und von unbestimmt bedrohlichen Situationen träume“ (ebd.). Ihre anfängliche Idealisierung ihrer Familie nimmt rapide ab, einen Bruch mit ihrer Familie lässt sie jedoch nicht zu. In den letzten Lebensjahren ihrer Mutter Erika – Alexandra war bereits selbst zweifache Mutter – musste sie sich von ihrer Mutter immer mehr abgrenzen; zu ihrer Großmutter Erla jedoch hatte sie von jeher einen stabilen, liebevollen Kontakt. Senfft fiel es deshalb besonders schwer, die Liebe zu ihrer Großmutter mit deren nationalsozialistischer Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Diese starb im Alter von 91 Jahren, 1997 – ein Jahr vor dem Tod ihrer Tochter Erika.

Auf den familiären Festen des in Hamburg berühmten Ehepaares verkehrten die Schauspieler Otto Sander, Peter Ustinov und Bruno Ganz, die Publizisten Augstein, Raddatz und Günter Gaus, Walser; aber auch Willi Brandt und seine norwegische Ehefrau Rut gehörten zum Freundeskreis ihrer Familie. Mit Romy Schneider verband ihre Mutter Erika eine enge Freundschaft, gemeinsames Band bildete der in ihren letzten Lebensjahren auch Alkohol, mit dem sie ihre Verzweiflung gemeinsam zu verdrängen, zu ertränken versuchten.

Alexandra Senfft schreibt auch über die „dunklen 50er Jahre“, die Gründerjahre der Bundesrepublik, in denen die nationalsozialistischen Täter noch „ungehemmt“ Einfluss hatten, den seinerzeitigen öffentlichen Diskurs bestimmten. An die Stelle des Antisemitismus war der Antikommunismus getreten, eine Beschäftigung mit der eigenen mörderischen Vergangenheit erschien als obsolet. In ‚Unkraut vergeht nicht‘ schreibt Senfft “ über die nationalsozialistischen Seilschaften, die nach dem Krieg weiter herrschten, über die mit ihrer eigenen Familie freundschaftlich verbundenen Gmelins und Todenhöfers – deren Nachkommen (Herta Däubler-Gmelin, Jürgen Todenhöfer) wiederum ab den 1970er Jahren als Bundestagsabgeordnete in ihrem Handeln von diesen Erfahrungen geprägt waren. Die Autorin konstatiert in dem Kapitel „Das wahre Leben“ nüchtern über den verleugnenden familiären Diskurs: „Kein Wort über die Rolle des Auswärtigen Amtes während des Dritten Reiches, nicht auch nur eine Andeutung davon, dass ihr Gastgeber auch Nationalsozialist gewesen ist. Natürlich fällt auch kein Wort über die Opfer. Aber wie sollte es auch anders sein: Die meisten dieser Herren, die damals im auswärtigen Dienst tätig waren und die Vernichtung der Juden auf dem Gewissen haben, sind im Nachkriegsdeutschland schon längst rehabilitiert. Hanns Ludin starb wegen seiner Vergehen in der Slowakei am Galgen, Männer wie Ernst von Weizsäcker, verantwortlich für Deportationsanweisungen in ganz Europa, stehen heutzutage fast als Widerstandskämpfer da“ (S. 218).[1]

Hierzulande wird seit 30 Jahren, mit unterschiedlichen Akzenten, über die gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit, aber auch über den deutschen Terrorismus der 1970er und 80er Jahre gesprochen.

Die Autorin beschreibt die bekannten politischen Spaltungen in Folge der 68er Bewegung, interpretiert diese auch auf psychoanalytischer Grundlage – sie zitiert etwa Dierk Juelichs[2]: In Folge der 68er – Bewegung wurden von deren Protagonisten Personen bekämpft, die für „Träger der nationalsozialistischen Ideologie gehalten wurden oder es tatsächlich waren, aber die eigene Betroffenheit, der Niederschlag in der eigenen Geschichte blieb ausgespart“ (S. 233). Und sie fügt, zutreffend interpretierend, hinzu: „War es diese Spaltung, die letztendlich im Terror der RAF mündete?“ (ebd.).

Das abschließende Kapitel „Am Abgrund“ führt die Themen ihrer Familiengeschichte politisch zusammen, Alexandra Senfft vermag ihrer verstorbenen Mutter erkennbar seelisch näher kommen, sie verstehen, ihr „verzeihen“.

Der Prozess ihrer eigenen „Aufarbeitung“ – so dieser Begriff überhaupt noch einen Sinn hat – führte sie zu einem konsequenten Engagement in Israel und in Nahost, beim diAk – www.diak.org – vor allem jedoch, bis zu dessen Tod im Jahr 2008, zu einer engen Zusammenarbeit mit dem israelischen Psychotherapeuten Dan Bar-On http://www.juedische-allgemeine.de/article/print/id/2152.

Alexandra Senfft kommentiert abschließend hinzu: „Meine intensive Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte hat mir geholfen, um meine arme Mutter und um ihren Verlust wirklich trauern zu können. Vor allem aber habe ich einen emotionalen Zugang zu den eigentlichen Opfern gefunden: Ich kann in bestimmten Momenten über die Toten des Holocaust endlich weinen und den Schmerz ihrer Nachkommen spüren. Diese Trauer zulassen zu können, ist für mich bislang das größte Geschenk gewesen“ (S. 343).

Alexandra Senfft hat ein wirklich wertvolles Buch geschrieben. Ihre Familiengeschichte wurde 2008 mit dem Deutschen Biographiepreis ausgezeichnet.

Alexandra Senfft: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte, List TB (Berlin) 2008, Euro 9.95, Bestellen?
Weitere Informationen: http://www.alexandra-senfft.de/

 


[1] Siehe hierzu ergänzend den 2008 im „Freitag“ (25.4.2008) publizierten erinnernden Beitrag von Heinrich Senfft „Einer, dem man glaubt. Über Richard von Weizsäckers Erinnerung an Vater und Zeitgeschichte“; eine Abhandlung „über die Erinnerungskultur des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker“ http://www.freitag.de/2008/17/08171001.php

[2] Die von Hans-Jürgen Wirth verfassten bzw. herausgegebenen Studien „Narzissmus und Macht“ sowie „Hitlers Enkel – oder die Kinder der Demokratie?“ enthalten, dies sei ergänzend hinzugefügt, vergleichbare fundierte Analysen.

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