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LESEPROBE (I): Kathe - Deportiert aus Norwegen

Leseprobe aus: Espen Søbye: Kathe. Deportiert aus Norwegen. Assoziation A, Hamburg 2008. Euro 18,00
Kapitel 13: Die Leichen der Blücher, S. 65-70…

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Von Espen Søbye

Als ich eines Tages im Stadtarchiv sass und herausfinden wollte, wann genau Kathe Lasnik auf der Majorstua-Schule eingeschult worden war, machte ich eine überraschende Entdeckung. Gleich unter ihrem Namen auf dem Anmeldungsbogen fand ich acht weitere jüdische oder deutsche Namen: Fritz Schreier, Edith Griser, Olga Feldtmann, Willy Flechner, Robert Korn, Sigmund Korn, Alfred Fink und Josef Fenster. Sie waren alle unter derselben Adresse gemeldet: Jüdisches Kinderheim, Industrigaten 34. Den Unterlagen zufolge waren sie von Wien aus nach Oslo gekommen.(255) Das jüngste Kind ging in die erste Klasse, das älteste in die vierte. Warum hatte mir niemand aus Kathe Lasniks Klasse von ihnen erzählt? Ich hatte mit fast allen ihren Mitschülern mehrere Male gesprochen, doch niemand hatte diese Schüler erwähnt. Als die jüdischen Kinder in die einzelnen Klassen kamen, muss doch wohl darüber geredet worden sein, warum sie nach Norwegen gekommen waren? Sie begannen ja kurz nach dem Umzug von Kathe Lasnik auf dieselbe Schule zu gehen wie sie selbst.

Ein eigens für diesen Zweck gegründetes Komitee hatte 20 unbemittelte jüdische Kinder aus Wien eingeladen, ihre Sommerferien 1938 in Norwegen zu verbringen. Die Kinder kamen am 15. Juni 1938 in Oslo an und sollten eigentlich im September wieder zurückreisen, doch im Einverständnis mit den Eltern wurde beschlossen, dass sie bis auf weiteres in Norwegen bleiben sollten.

Die Schulaufsicht sorgte dafür, dass die Kinder vor Beginn der Volksschule Norwegischunterricht erhielten.(256) Josef Fenster, der in die Klasse 2 D kam, hatte am 12. März 1938 den "Anschluss" in Österreich erlebt, in den Strassen Rufe wie "Sieg Heil" und "Heil Hitler" gehört und mitansehen müssen, wie die Juden dazu gezwungen wurden, mit ihren Zahnbürsten die Gehsteige zu schrubben. Fusstritte und höhnische Bemerkungen kamen hinzu.(257) Er erzählte mir, dass es auf der Majorstua-Schule keinerlei Probleme gegeben hatte. Durch den Einsatz von Nic Waal, einer bekannten Kinderpsychologin, und Gerda Tranberg gelangten die Kinder aus Wien in der Nacht auf den 26. November 1942 nach Schweden, wo sie überlebten.(258)

Den Sommer 1939 verbrachte Kathe Lasnik mit Inger Becker und ihrem Bruder auf einem Bauernhof, einer Art privaten Ferienkolonie. Die Mädhen kannten sich von der Synagoge am Bergstien und vom gemeinsamen Religionsunterricht. Die Familie von Inger Becker wohnte in Østre Aker, ihr Vater betrieb einen Einzelhandel für Oberbekleidung in der Tøyengata, im Osten Oslos.(259) Zum Bauernhof gelangten sie mit dem Zug. Elise Lasnik begleitete ihre kleine Schwester und besuchte sie an einigen Sonntagen. Der Bauer holte die Kinder mit seinem Pferdewagen vom Bahnhof ab.

Der Hof lag auf einer Anhöhe in der Nähe von Lunner, zwischen Hadeland und Jevnaker. Ein steiler Pfad ging von den Häusern hinunter zu einem kleinen See, wo Kathe Lasnik und Inger Becker jeden Tag badeten. Die Mädchen durften dabei sein, wenn der Bauer Heu einfuhr. Die Mahlzeiten nahmen sie im Wohnhaus ein, abends in der Regel auf einer grossen Terrasse; ihr Zimmer, das sie mit zwei anderen Mädchen teilten, befand sich jedoch in einem separaten Haus. Bevor sie einschliefen, sprachen sie über den Bauernhof, das Essen und darüber, wie es wohl ihren Familien in der Stadt gehen mochte.

Kathe Lasnik und Inger Becker schrieben oft Briefe nach Hause. Um sie aufgeben zu können, mussten sie zu einem Geschäft in der Nähe des Bahnhofs laufen, das mehrere Kilometer vom Hof entfernt lag. Auf dem Feldweg, der sich durch die hügelige Landschaft wand, unterhielten sie sich darüber, was sie sich im Geschäft kaufen wollten, was sie in der Stadt zu unternehmen gedachten, wenn sie erst wieder dort sein würden, ob sie am nächsten Sonntag wohl Besuch bekämen und welches Essen sie am Abend am liebsten hätten.

Kurz bevor sie sich dem Bahnhof näherten, führte der Weg an einem kleinen Wäldchen entlang, das gegenüber den Gleisen und einem Feldstück lag. Dort hielten sie eines Tages plötzlich inne, irgendetwas hatte sie sehr beschäftigt, sie blieben eine ganze Weile stehen und waren sehr still. Inger Becker konnte sich nicht mehr daran erinnern, worüber sie gesprochen hatten, sie wusste auch nicht mehr, wie der Hof oder der Bauer hiess, irgendetwas mit "Ner", "NergÃ¥rd" oder "Nerbø", vielleicht etwas in der Art. Aber an die Stimmung an jenem Tag konnte sie sich noch sehr gut erinnern, sie hätten gleichzeitig angehalten, und es sei sehr still geworden.(260)

Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte Kathe Lasnik gerade mit der sechsten Klasse begonnen. Kohle und Koks waren bereits rationiert, privater Autoverkehr wurde rasch verboten.(261) Schwer atmende Pferde in grossen Gespannen verliessen mit Brotladungen die Fabrik am Norabakken oder, mit Bierfässern als Last, die Brauerei in der Pilestredet. Der Sommer neigte sich allmählich dem Ende entgegen, doch die Mädchen radelten an warmen Nachmittagen immer noch nach Bygdøy, um dort schwimmen zu gehen.(262)

Elise Lasnik verlobte sich an ihrem Geburtstag, am Silvestertag 1939, mit Julius Bassist. Er war in Stockholm aufgewachsen, fand in Schweden jedoch keine Arbeit und versuchte deshalb sein Glück in Oslo, wo er Verwandte hatte. Elias und Dora Lasnik waren über die Verlobung nicht gerade glücklich, denn ihrer Meinung nach wäre zunächst Anna, die zweitälteste Tochter, an der Reihe gewesen.(263) Im Februar 1940 wurde Elias Lasnik in das Krankenhaus der Diakonissen eingewiesen, er klagte jetzt schon beim Treppensteigen oder bei leichten Anstiegen über Atemnot. Im Krankenhaus stellten die Ärzte fest, dass er an einem Lungenemphysem litt und sich zusätzlich eine Bronchitis zugezogen hatte. Er musste mehrere Wochen das Bett hüten und sollte am 5. Mai zur Kontrolle erscheinen.(264)

In der Nacht auf den 9. April wurde um 0.15 Uhr Fliegeralarm ausgelöst. Die Menschen suchten überall die Luftschutzräume auf, bis um 1.35 Uhr Entwarnung gegeben wurde. In der Hertzbergs gate 7 gab es einen entsprechenden Raum im Keller; die Familie Lasnik brauchte also nicht weit zu gehen. Um 4.20 Uhr war erneut Fliegeralarm zu hören, diesmal ertönte das Entwarnungs-Signal erst um 6.20 Uhr. Das dritte Mal musste die Osloer Bevölkerung die Schutzräume um 7.30 Uhr aufsuchen. Deutsche Flugzeuge kreisten den Rest des Tages über der Stadt, Entwarnung wurde nicht gegeben.(265) Aus diesem Grund fiel am 9. April die Schule aus.(266)

Die Regierung Nygaardsvold, Abgeordnete des Parlaments und der König gelangten frühmorgens nach Hamar. Unterdessen beorderte der Osloer Polizeipräsident Kristian Welhaven den Leiter der Verkehrspolizei mit 40 Mann nach Skøyen, mit der Anweisung, deutsche Soldaten, die auf dem Flughafen in Fornebu gelandet waren, zur Festung Akershus zu eskortieren. Norweger, die an den Strassen standen, riefen den Polizisten höhnische Worte zu.(267)

Am Abend verlas Major Vidkun Quisling seine vielen Norwegern bis heute bekannte Proklamation im Radio, zunächst um 19.30 Uhr, dann noch einmal um 22 Uhr: "Nachdem England die Neutralität Norwegens durch das Auslegen von Seeminen in norwegischen Hoheitsgewässern verletzt hat, ohne auf anderen Widerstand zu stossen als die üblichen, nichtssagenden Proteste der Regierung Nygaardsvold, hat Deutschland der norwegischen Regierung bewaffnete Hilfe angeboten." Quisling behauptete, dass das Kabinett Nygaardsvold "zurückgetreten" wäre und teilte mit, dass eine nationale Regierung, mit ihm an der Spitze, die "Regierungsmacht übernommen hatte". Die Zeitung Lofotposten veröffentlichte die Rundfunkrede Quislings am nächsten Tag unter der treffenden Überschrift: "Deutsche Diktatur in Norwegen eingeführt."(268)

Das Kabinett Nygaardsvold hatte keineswegs abgedankt, sondern war um bürgerliche Politiker aus den Reihen der Konservativen, der Sozialliberalen und der Bauernpartei erweitert worden. Auf ihrer letzten Sitzung in Elverum erhielt die Regierung die Vollmacht, fortan im Namen des Parlaments handeln zu dürfen, das sich am selben Ort auflöste. Die Abgeordneten konnten selbst entscheiden, ob sie in die inzwischen von Hitler-Deutschland besetzten Gebiete zurückkehren oder die Regierung in Richtung Norden begleiten wollten.

Auch am 10. April war der Schutzraum in der Hertzbergs gate 7 gut gefüllt. Nicht nur die Bewohner des Blocks suchten ihn auf, sondern auch einige Nachbarn, zum Beispiel Edith Gjeruldsen, eine Freundin von Kathe Lasnik, und ihre Eltern. Das Mietshaus gegenüber, in dem sie wohnten, hatte keinen Keller, der sich als Schutzraum geeignet hätte. Am Vormittag wurden die Bewohner plötzlich aufgefordert, sich auf der Strasse einzufinden, wo einige Lastwagen auf sie warteten. Im allgemeinen Getümmel verlor Kathe Lasnik ihre Familie aus den Augen; sie fand sich schliesslich im selben Fahrzeug wieder wie Edith Gjeruldsen und deren Eltern.

Der LKW hatte Eier und Milch geladen und sich eigentlich auf dem Weg zu Molkereigeschäften in Majorstua befunden. Dann war er jedoch beschlagnahmt worden. Um Platz für so viele Personen wie möglich zu schaffen, wurden die Eier und die Milch in den Graben geschüttet. Die Zeit drängte; Gerüchten zufolge sollte die Stadt um 12 Uhr bombardiert werden.

Edith Gjeruldsen und Kathe Lasnik beschäftigte ein anderes, genauso unheimliches Gerücht: Die Deutschen würden, so hiess es, die Leichen von mehreren hundert Soldaten nach Oslo transportieren lassen, die auf dem Kreuzer Blücher bei Drøbak ihr Leben gelassen hatten. Niemand dürfe die toten Soldaten sehen, deshalb werde die Bevölkerung aus der Stadt gejagt. Der LKW fuhr zum Sognsvann am Rand der Nordmarka, einem grossen Waldgebiet nördlich der Stadt. Von dort aus stapften die Passagiere bergan durch Matsch und Schnee, bis sie nach fünf Kilometern den UllevÃ¥lseter erreichten. Immer neue Gruppen fanden sich im Laufe des Tages an der beliebten Ausflugshütte ein. Die Erwachsenen sassen eng beieinander und unterhielten sich. Gegen Abend legten sich Kathe Lasnik und Edith Gjeruldsen unter einen Tisch und versuchten zu schlafen. Am nächsten Vormittag wanderte der ganze Tross weiter Richtung Westen, zunächst zum Tryvann und schliesslich hinunter in das Sørkedal. Mit Bussen gelangten sie in die Stadt zurück.(269)

Anna und Elise Lasnik waren in der Østmark gelandet, ihre Eltern dagegen hatten keinen Platz ergattern können und waren an diesem Tag, der als "Paniktag" in die Geschichte eingehen sollte, in der Hertzbergs gate geblieben.(270) Leopold und Jenny Bermann, Eltern eines kleinen Jungen, wollten kein weiteres Risiko eingehen und entschlossen sich, das Land zu verlassen. Am 26. April 1940 trafen sie im ostnorwegischen Røros ein, wo ein Polizeibeamter ihre Ausweispapiere stempelte. Anschliessend überquerten sie bei Malmagen die Grenze nach Schweden.(271) In Stockholm suchten sie die norwegische Botschaft auf, um die Gültigkeit ihrer Pässe verlängern zu lassen. Jenny Bermann(272) und ihr Sohn kamen in einem Flüchtlingsheim in Södertälje ausserhalb von Stockholm unter, während Leopold Bermann zunächst im Norska Hemmet wohnte, dem Norwegischen Haus in der Linneagatan 20. Von dort aus wollte er herausfinden, ob ihm eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erteilt werden würde.(273)

Die Lehrerkonferenz der Majorstua-Schule hielt im Protokoll fest, dass "aufgrund des deutschen Einfalls am 9/4 und der darauf folgenden Okkupation des Landes die Schule bis zum 26/4—40 geschlossen blieb".(274) Die Besatzungsmacht beschlagnahmte das Schulgebäude am 15. April und benutzte es als Quartier für ihre Soldaten. Die Schüler wurden zunächst angewiesen, auf die Bolteløkka-Schule auszuweichen, die jedoch auch bald als Kaserne diente. Der Unterricht fand nun privat in den Wohnungen des Lehrpersonals oder einzelner Eltern, in Kirchen, Versammlungsräumen oder Kinosälen statt. Die Klasse 6 C fand eine neue Heimstatt in der Wohnung ihrer Lehrerin Rønnaug Heyerdahl Larsen in der Industrigaten 11.(275)

Turid Ekestrand, die in der Schultz gate 6 wohnte, folgte Kathe Lasnik jeden Tag von der Wohnung der Lehrerin im Stadtteil Frogner nach Hause. Da ihr Vater gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte, war sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Ringerike gezogen, wo die Familie ein Haus besass. Bei einem Brand wurde das Haus total zerstört. Aus diesem Grund hatte Turid Ekestrand, als sie Anfang Mai in die Stadt zurückkehrte, keine eigenen Schulbücher mehr. Sie sass oft zusammen mit Kathe Lasnik in deren Mädchenzimmer und benutzte dabei auch deren Bücher. Dora Lasnik überraschte die fleissigen Schülerinnen mehrmals mit Kuchen, ja sogar mit Torte.(276)

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Anmerkungen:

255   Anmeldebogen 0001, 1926—1939, Majorstua-Schule, Stadtarchiv Oslo.
256   Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 Ã¥r, Bd. 1: 1660—1940, Oslo 1987, S. 650 f.
257   Interview Josef Fenster.
258   Oskar Mendelsohn, Jødenes historie i Norge gjennom 300 Ã¥r, Bd. 2: 1940—1985, Oslo 1987, S. 238.
259   Interview Inger Becker.
260   Ebd.
261   Odd Hølaas, Norge under Haakon VII, Oslo 1945, S. 408.
262   Interview Inger Holtung.
263   Interview Dorrit Libermann.
264   Krankenbericht Elias Lasnik. Med. Abt. Lovisenberg GB-023. Diakonissehusets sykehus, Abt. V. Stadtarchiv Oslo.
265   Aftenposten, Abendausgabe, 9. April 1940.
266   Ã…rsmelding om Oslo folkeskole, internatskole og fortsettelsesskole for skoleÃ¥ret 1. juli 1939—30. juni 1940, S. 39.
267   Nils Johan Ringdal, Mellom barken og veden. Politiet under okkupasjonen, Oslo 1987, S. 16.
268   Lofotposten, Svolvær, 10. April 1940.
269   Interview Edith Lunder.
270   Interview Elise Bassist.
271    Mappe 11. Legg 413. Eske 8. Jødeaksjonene. Statspolitiets arkiv. Politidepartementet 1940—45, Reichsarchiv.
272   Ansökan UppehÃ¥llstillstÃ¥nd, 25. juni 1940. Statens utlänningskommission, kanslibyrÃ¥n, m. vol. FIABA:351 centraldossier för Jenny Bermann, Reichsarchiv Schweden.
273   Ansökan UppehÃ¥llstillstÃ¥nd, 25. juni 1940. Statens utlänningskommission, kanslibyrÃ¥n, m. vol. FI ABA:351 centraldossier för Leopold Bermann, Reichsarchiv Schweden.
274   Majorstua skole. Forhandlingsprotokoll for lærerrÃ¥d 1908—59, Stadtarchiv Oslo.
275   Ã…rsmelding om Oslo folkeskole, internatskole og fortsettelsesskole for skoleÃ¥ret 1. juli 1939—30. juni 1940, S. 39 f.
276   Interview Turid Vizcarra.

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