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Zionismus und Jugendkultur

Leseprobe aus dem Band 3 der Werkausgabe Siegfried Bernfeld…

Die jüdische Jugendbewegung und ihre Bedeutung für die internationale (1920)

Siegfried Bernfeld

So problematisch die Idee einer Internationale der Jugend1 sein mag, so viel innere Schwierigkeit schon der erste Aufruf zu ihr zu überdecken hat, so unwahrscheinlich ihre belangvolle Verwirklichung in der gegenwärtigen Zeit sein mag, so sicher ist sie doch von aufrüttelnder Schönheit und faszinierender Kraft, so sicher sind ihre Anfänge unterwegs. Es sei darum gestattet, auf eine Jugendbewegung hinzuweisen, die – wie uns scheint – eine große Rolle zu spielen berufen sein wird, wenn in jedem Volke eine Jugend lebendig über ihre engen Schranken sich hinaussehnen wird.

Die jüdische Jugend nennt sich gerne national und wird daher von vornherein falsch bewertet. Nicht geringe Kreise in ihr sind sogar national im üblichen und üblen Sinne des Wortes, und darum wird es dem Außenstehenden umso schwieriger, sich einen richtigen Begriff von dieser Jugend zu bilden. Es muß vorweg zugestanden werden, daß vielleicht das gefährlichste Wagnis, das eine Jugend auf sich nehmen kann, die Erklärung der Solidarität mit den Erwachsenen ihres Volkes bedeutet. Wenn Jugend und Alter von gleichem Taumel und Bewegung erfaßt sind, wenn sie übereinstimmen über Ziel und Weg, muß da nicht die Jugend verblendet und gebrochen sein? Und das ist es letzten Endes, was jede nationale Jugend im Grunde verdächtig macht, daß sie, und wäre es auch nur in einem Punkte, in dem der nationalen Verteidigung des Vaterlandes und in der Bewahrung der nationalen Eigenart, mit der Gegenjugend übereinstimmt.

Eine nationale Jugend ist Widerspruch in sich selbst; denn der Begriff des Nationalen, wie man ihn mit Recht versteht, ist ein statischer, und die Jugend ist dynamisch. Gar nicht davon zu sprechen, daß uns weiters verdächtig ist, wenn die Jugend, die mißtrauisch sein sollte gegen Worte, Begriffe und Werke des eigenen Zeitalters, unbesehen eine jämmerlich verzerrte, eine zur Maske für alle Philistrosität, Bequemlichkeit und Beharrlichkeit gewordene Parole aufgreift und sie zur ihrigen macht, und darum muß man gegen jede nationale Jugendbewegung bedenklich sein und ihr das Prädikat „Jugendbewegung“ in seinen beiden Bestandteilen absprechen.

Man darf aber dabei nicht übersehen, daß all das Gesagte für die jüdische Jugendbewegung nicht oder nicht immer zutrifft. Die jüdisch-nationale Idee und ihr wichtiger konkreter Inhalt, der Zionismus, waren zu Ende des vergangenen Jahrhunderts die Revolte im Judentum. Der Zionismus war von der ersten Stunde seiner Existenz an revolutionär. Er hat angefangen als Jugendbewegung, als die gefährlichste Revolution, die das Judentum im letzten Jahrhundert erlebt hat. Freilich eine eigenartige Revolution, wie sie nur dieses eigenartige Volk in seinen eigenartigen kulturellen und sozialen Verhältnissen erzeugen konnte. Herzls Wort „Wir sind ein Volk“ ist daher nicht die behäbige Konstatierung einer sehr beruhigenden Tatsache mit allerhand beglückenden Aussichten für das wohlgesicherte Behagen des Bürgers, es ist ein erschütternder und furchtbarer Kampfruf des jüdischen Menschen gegen den jüdischen Bürger. Und es hat der Deklaration der englischen Regierung vom 2. November 1917 bedurft [Balfour-Declaration], um die aufgeschreckte Wut des jüdischen Bourgeois einigermaßen zu mäßigen und zu beruhigen.

Jene Bewegung, die um Theodor Herzl entstand, mit dem Schlagwort „Judenstaat in Zion“ weist alle Merkmale echter Jugendbewegung auf, ja sogar die einer Jugendbewegung von höchstem kulturellem Wert; denn es gelang jener Jugend auch, in manchen Erwachsenen längst vergessene Träume, längst entwöhnte Begeisterung wieder aufleben zu machen. Der Gefühlston jener Bewegung kann national genannt werden. Aber nur, um die Menschenwürdigkeit des jüdischen Volkes herbeizuführen, war jene Jugend national und zionistisch, damit das Volk seine Aufgabe in der Menschheit erfüllen könnte, soviel ihm Schicksal und Geschick vergönnen; darum haben sie sich leidenschaftlich zu ihm bekannt, und darum verlangten sie die Schaffung eines kulturellen und nationalen Zentrums in Palästina.

Freilich muß zugestanden werden, daß jene Jugend alt geworden ist und jene Jugendbewegung zu einer politischen Partei, zu einer Interessenvertretung, zu Gegenwartspolitik, zu Realpolitik ergraut ist. Der heutige Zionismus ist noch immer eine achtbare Sache in Anbetracht der unglücklichen Lage des jüdischen Volkes. Er ist noch immer eine wichtige Menschheitssache; aber er ist nicht mehr Jugendbewegung. Doch es erweist sich umso deutlicher, daß die heutige jüdische Jugend, insbesondere soweit sie sich zionistisch und jüdischnational nennt, mit Recht Anspruch auf das Prädikat einer Jugendbewegung erheben kann; denn ihr ganzes Bestreben läuft darauf hinaus, in Opposition gegen das heutige Judentum und insbesonders gegen die zionistische Partei zu treten, um die Idee des Volkes aufrecht zu erhalten, zu retten und das Judentum zu verwirklichen. Das Palästina, um das die jüdische Jugend kämpft, hat wirklich mit jenem Palästina, das die zionistische Partei erstrebt, nur den geographischen Ort gemein. Und der jüdische Typus, den die Jugend in Palästina und in der Diaspora will, ist vielleicht das gerade Gegenbild dessen, das die Offiziellen bejahen würden.

Wenn so vielleicht sichergestellt ist, daß die jüdische Jugendbewegung das Mißtrauen nicht verdient, das mit Recht sonst einer nationalen Jugend entgegengebracht wird, scheint es uns nicht nutzlos zu sein, wenn nun kurz darauf eingegangen wird auf das, was die jüdisch nationale Jugendbewegung zur Vorbereitung einer Internationale der entschiedenen Jugend leisten könnte. Zumindest kann schon das allein nicht unwichtig sein, wenn eine buchstäblich über die ganze Erde verstreute, unter allen Völkern lebende Jugend von einem starken Gefühl zur Gemeinsamkeit verbunden ist und so Raum und innerlich tiefgehende Unterschiede überwindet und geeint ist in dem wirklich mehr als nationalen Streben, im eigenen Volke Menschheit zu verwirklichen. Überall hat das Judentum mehr oder weniger breite Berührungsflächen mit den Umvölkern, und immer findet ein Austausch von Werten, Ideen und Gefühlen zwischen Juden und Nichtjuden statt. Nicht umsonst war das Judentum, in dem sich weniger konservative als destruktive Elemente befinden, so gewertet worden, und was von den einzelnen assimilierten Juden gilt, gilt in reinerer höherer Ebene, in menschlich zulänglicherer Weise, für die entschiedene jüdische Jugend, weil sie in ihrer Konzentration und in ihrem innerlichen Zusammenhange ein Akkumulator für Entwicklungskräfte ist.

Zu prophezeien ist, daß die gegenwärtige Situation des jüdischen Volkes für die nächsten Jahrzehnte eine wahrhaft aufständische Jugend garantiert. Der alte Zionismus hat, wie das so zu sein pflegt, in Fülle, was er in der Jugend gewünscht [hat], und er hat gesiegt, beinahe bis auf das Semikolon im Programm. Er hat Palästina von den Großmächten garantiert als öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte erhalten, man wird Hebräisch sprechen und eine Universität haben. Aber die uralte Sehnsucht des Volkes wird nicht erfüllt sein. Keine soziale Gemeinschaft von Brüdern in gerecht gestalteter Gesellschaft, kein heiliges Volk von Priestern wird es sein; in Jaffa so wenig als in Lodz und Wien; und von Zion wird keine neue Lehre ausgehen, sondern nur die uralte: daß Kapital Zinsen verlangt, und daß die Welt ein Markt ist, auf dem der Mensch sich schlechthin selbst zum Verkauf trägt. Und das alles ist von Gott gewollt, vom jüdischen Gott, trotz seinen Propheten. Das aber wird die jüdische Jugend nicht ertragen. Man weckt nicht ungestraft die Sprache und das Leben, in denen die Begriffe von der Heiligkeit des Geistes und der gerechten Ordnung unter den Menschen zuerst und am tiefsten in der Menschheit gedacht, geformt und gefordert wurden. Man spielt nicht ungestraft mit dem Wort von der Wiedergeburt des Judentums. Man verwurzelt nicht fruchtlos ein Volk im alten Boden, der getränkt ist von dem Blute seiner trotzigen Empörer, seiner halsstarrigen Sektierer, seiner Menschen, die, sie mögen gewesen sein wie immer, letzte Aufopferung für letzte Zwecke gekannt, gelebt und gelitten haben. Ja, wir haben unsere Chauvinisten und unsere Schleichhändler und sogar die Legion der jüdischen Jugend, die ausgezogen ist mit Gas, Bomben und Maschinengewehr, um mit dem Schwerte in der Hand (wie man sagt) die Heimat zu erobern. Aber wir wissen, daß dies nicht Wiedergeburt, sondern instinktloseste Assimilation, daß das nicht Judentum, sondern schlechtweg Unmenschentum ist, und wir wissen, wenn etwas unser ist, dann jene Phantasie vom Tag am Ende der Tage, da die Völker sagen: „Kommt, laßt uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln auf seinen Steigen. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und strafen viel Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen.“ (Jesaja, Kap. 2.)

Nicht auf den Inhalt der Visionen kommt es dabei an, sondern auf deren Ethos. Welches soll sonst das Ethos der Internationale der Jugend sein, wenn nicht jenes, das der jüdischen Jugend Verbündeter und Vorkämpfer sein könnte, wenn sie in ihrem Bereiche lebt, jene Vision des Jesajas zu Wirklichkeit, zu Staat und Gesellschaft zu machen.

Leseprobe aus: Siegfried Bernfeld, Werke. BAND 3: Zionismus und Jugendkultur

Die Zeit von 1914 bis ca. 1924 ist das »zionistische Jahrzehnt« im Leben Siegfried Bernfelds. Seine Schriften von 1916 bis 1920 dokumentieren den Kern seiner Aktivitäten in der zionistischen Jugendkulturbewegung in Wien. Seine Vision bestand in der Errichtung eines sozialistisch geprägten jüdischen Gemeinwesens in Palästina. Organisiert nach dem Vorbild der Freien Schulgemeinden, sollte dies insbesondere durch die jüdische Jugend geleistet werden, was Bernfeld in seiner Schrift »Das jüdische Volk und seine Jugend« detailliert beschrieb. Von Bernfelds utopischem Entwurf sind bemerkenswert viele Elemente in den israelischen Kibbuzim wiederzufi nden. Speziell seine Ideen der Neuen Erziehung wurden aufgegriffen und zu
einem außergewöhnlichen Konzept einer egalitären Gemeinschaftserziehung verdichtet.

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  1. 1907 fand im Rahmen des Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongresses die Gründung der Internationalen Verbindung
    Sozialistischer Jugendorganisationen mit Sitz in Wien statt. []