Richard Chaim Schneider
Dezember 1966. Zum ersten Mal fahre ich nach Israel, mit meinem Vater.
Meine Mutter und meine Schwester waren zu Hause in München geblieben. Jedes
Mal wenn mein Vater und ich allein waren, erlebten wir eine wunderbare,
beschwingte Zeit miteinander. Mein Vater war weniger rigide als meine
Mutter. Und wenn wir alleine waren, wurde mein schweigsamer Vater
gesprächig. Ihm war es wichtig, mir, dem Sohn, sein jüdisches Erbe
mitzugeben. Er stammte aus einer streng orthodoxen chassidischen Familie in
Volovec, einem Stetl in den slowakischen Karpaten. Als die Nazis auch die
Slowakei "judenrein" machten, wurden seine Eltern und seine vier Geschwister
nach Auschwitz deportiert, er selber in ein Arbeitslager bei Budapest. Nur
eine Schwester kam aus Auschwitz zurück. Über die Jahre im Lager sprach mein
Vater wenig, und erzählte umso mehr über die Zeit davor: von dem
Gemischtwarenladen seines Vaters und den Wäldern, die seine Eltern besaßen,
von seinen Brüdern Schimschon Schaje und Leibisch Hersch, von seiner
Schwester Baschi. Von Chajku, der Schwester, die Auschwitz überlebt hatte
und in die USA gegangen war, erzählte er kaum. Sie lebte ja.
Dieses Erbe wollte mir mein Vater mitgeben, zusammen mit dem auch bei uns
in München praktizierten Judentum: kein orthodoxes mehr, aber doch ein
religiöses. Ich erhielt ab meinem dritten Lebensjahr Talmud-Tora-Unterricht,
meine Mutter führte einen koscheren Haushalt, wir machten Kabbalat Schabbat
und hielten die Feiertage.
Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, als mir mein Vater die
kleine Tora-Rolle schenkte. Stolz war ich und überglücklich. Denn für mich
war sie die schönste Kinder-Tora in ganz München. Die Rollen meiner Freunde
waren nicht so groß und lediglich Attrappen - sie enthielten nicht den
gesamten Text der Tora. Und so wusste ich, dass ich ab jetzt bei den Umzügen
an Simchat Tora mit Sicherheit die schönste Tora von allen mit mir
herumtragen würde.
Dass diese Tora allerdings auch zum Zentrum meiner religiösen Erziehung
werden sollte, wurde mir erst im Laufe der Zeit klar. Dann nämlich, als ich
lernen musste, die Abschnitte mit der vorgeschriebenen Melodie vorzutragen -
aus dem Text, der ohne Punkte, also ohne Angabe der Vokale, und ohne
Melodiezeichen in der Tora niedergeschrieben ist. Lange, qualvolle Stunden.
Wieso meine Eltern nach dem Krieg ausgerechnet in Deutschland geblieben
waren, war kein Gesprächschema. Auch meine Mutter, die in mehreren
Konzentrationslagern gewesen war, stellte unser Leben in Deutschland nicht
zur Debatte. Dafür war Israel Thema: als Ort der religiösen Sehnsucht, als
Staat, der immerzu ums nackte Überleben kämpfte. Mit meinem Vater nach
Israel zu fahren war so etwas wie eine Reise in die emotionale Heimat. Orte
und Landschaften, die mir durch den Tora-Unterricht vertrauter waren als das
bayerische Voralpenland, wurden endlich real. Wir fuhren hinauf in den
Galil, besuchten die Gräber jener Rabbiner, deren Gesetzesauslegungen ich
daheim studierte.
Und dann kamen wir nach Jerusalem, nach Zion, wohin alle jüdischen Gebete
sich richteten. Damals war Jerusalem noch eine geteilte Stadt. Mein Vater
fotografierte mich an einer Stelle, von der man den Tempelberg mit dem
Felsendom sehen konnte. Er zeigte in die Richtung und sagte: "dorten ist der
kojssel maruwi, un as der meschiach wird kimmen...", "Dort ist die
Klagemauer, und wenn der Messias endlich kommen wird, dann werden wir dort
stehen und beten können!"
Nur ein halbes Jahr später, im Juli 1967, standen mein Vater und ich am
"Kojssel maruwi". Für meinen Vater muss dieser Augenblick, als er zum ersten
Mal die Tefillin an der Klagemauer legte, ein Moment von überirdischer
Erfüllung gewesen sein. Ich selbst konnte mit den alten Steinen nur wenig
anfangen. Ich begriff natürlich, dass dies die Überreste des Tempels waren,
mehr aber ergriff mich die emotionale Bewegung meines Vaters. Er war ein
sehr zurückhaltender Mensch, und daher erschütterten mich seine Tränen ganz
besonders. Doch ich wusste auch, dass dieser Urlaub bald zu Ende gehen
würde, dass wir zwar an der Klagemauer beteten, ich aber in wenigen Wochen
wieder zurück auf mein Münchner Gymnasium musste, wo mich der deutsche
Alltag, mein Alltag, allzu schnell wieder in seinem Griff haben würde.
Richard Chaim Schneider, geboren 1956 in München, Autor,
Dramaturg und Fernsehjournalist, lebt in München.