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Die Station hinter der Friedensbrücke
Micha Brumlik
Ich war gerade fünf Jahre alt, als meine in die Schweiz emigrierten
Eltern 1952 nach Deutschland, nach Frankfurt am Main, zurückkehrten. In der
gebirgigen Kleinstadt Davos nur Autobusse gewohnt, hatte ich nun zu lernen,
wie man Straßenbahn fährt. Ein wiederholter Besuch im Frankfurter Stadtteil
Sachsenhausen, der über eine Brücke mit der Straßenbahn zu erreichen war,
demonstrierte die Allgegenwart deutscher Geschichte.
Micha Brumlik, 1953
Der Name der ersten Station hinter der Brücke war mir unverständlich. Ich
wußte noch nichts von den Vergnügungen der oberen Klassen, und auch das
klassische Griechisch sollte ich erst acht Jahre später erlernen, aber ich
wollte wiederholen, was ich gehört hatte. Als der Schaffner an einem
matschigen, wolkenlosen Wintertag wieder einmal den eigentümlichen
Stationsnamen ausrief, krähte ich durch den ganzen Waggon: "Hitler-thron".
Mutter lief rot an, ihre Brauen hoben sich vor Zorn und Scham, sie legte
ihre Hand auf meinen Mund und wir stiegen sofort aus, um den Rest der
Strecke zu Fuß zu laufen. Heute gibt es diese Haltestelle nicht mehr. Die
erste Station hinter der Friedensbrücke heißt heute Stresemannallee. 1952
hieß sie, nach einem Gebäude, das infolge des Krieges längst nicht mehr
stand, "Hippodrom".
Kiddusch-Becher, gewidmet von der Gruppe Bergen-Belsen
Etama/Davos,
4. November 1947 |
Diesen Becher erhielten meine Eltern zu meiner Geburt von einer Gruppe
junger Männer geschenkt, die das Lager Bergen-Belsen überlebt hatten und
von einer jüdischen Hilfsorganisation, dem "Zionist Committee for
Rehabilitation and Relief", ins Sanatorium "Höhwald" nach Davos Dorf zur
Erholung geschickt worden waren. Mein Vater war Direktor dieses Heims,
er hatte dort meine Mutter, die aus Frankreich in die Schweiz geflohen
war, kennen gelernt. Dieses Flüchtlingsheim wurde nach dem Krieg in ein
Sanatorium für KZ-Überlebende und ehemalige Partisanen umgewandelt. |
Micha Brumlik, geboren 1947 in Davos, lehrt nach
Professuren in Hamburg und Heidelberg seit 2000 an der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main Allgemeine
Erziehungswissenschaften und ist Direktor des Fritz-Bauer-Instituts.
hagalil.com
20-04-03 |
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