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Ab ins "wahre" Leben
Tsafrir Cohen
Als ich meiner Mutter mein erstes Foto nach Israel schickte, war sie
etwas pikiert. Könnte ich nicht woanders wohnen, fragte sie, irgendwo, wo es
herrschaftliche Häuser mit großzügigen Eingängen gibt, breite, von Bäumen
gesäumte Boulevards, Straßencafes, kultivierte Gespräche und Museumsbesuche.
Mich dagegen hat das Foto entzuckt. Das war doch mein neues Ich: im
Hintergrund diese kaputte Landschaft, beglückende Tristesse. Da erwachten
die angemessenen Assoziationen, sprich Punk & New Wave, besetzte Hauser,
romantische, nicht endende Nächte. Endlich kein hartes israelisches Licht,
keine klebrige, einengende Hitze, keine aggressiven Arschlöcher, die einen
auf offener Straße als schwule oder linke Zecke beschimpfen, keine staatlich
verordnete Verantwortung. Endlich raus aus der Dritten Welt und ab ins
"wahre" Leben, in die Jetzt-Zeit, raus aus dem kleinen primitiven Israel und
hopp ins Dreieck London-Amsterdam-Westberlin.
Tsafrir Cohen in Berlin, 1986
In Berlin war ich am Ort meiner Träume. Und bei vielen Menschen bin ich
auch noch phantastisch angekommen. Mein erster Mitbewohner, Daniel
Birkenreich, führte mir sogar ungebeten ein Jahr lang den Haushalt, nicht
einmal abwaschen musste ich und dachte lange Zeit, es läge an meinem
ureigenen Charme. Erst spät fand ich den wirklichen Grund heraus, der mit
unserem ersten Telefonat zusammenhing. Mein zukünftiger Mitbewohner lud mich
zur Wohnungsbesichtigung ein. Ich könne gleich vorbeikommen und solle bei
Birkenreich klingeln, aber da ich kaum Deutsch verstand, musste er seinen
Nachnamen mehrmals wiederholen. Endlich verstand ich: Birke wie Birkenau und
Reich wie 40 Drittes Reich, schrie ich in den Hörer, glücklich, endlich eine
Eselsbrücke gefunden zu haben, ohne mir dabei irgendetwas zu denken.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen, meine Herkunft würde irgendeine
veredelnde Rolle für das nachsichtige Verhalten meiner Umwelt spielen. Doch
Daniel Birkenreich war nur der erste in einer langen Kette solcher
Begegnungen, und langsam begriff ich: Ich war per Geburt fast eine
"celebrity". Ich, der Dritte-Weltler aus dem rauen, intoleranten Nahen Osten
war nicht in dem Ort meiner Träume angekommen, sondern beschenkte meine neue
Umwelt gönnerhaft mit meiner Anwesenheit.
Und in schwachen Momenten habe ich die Spielräume, die mir ungefragt zur
Verfügung gestellt wurden, sprich die Milde, die Kritiklosigkeit und die aus
nichts resultierende Zuneigung, auch gern in Anspruch genommen. Es dauerte
lange, bis ich gelernt habe, dieses zu erkennen und nicht auszunutzen.
Tsafrir Cohen, geboren 1966 in Tel Aviv, aufgewachsen in
Israel und Kanada, zog über London 1986 nach Berlin, wo er heute lebt, das
Berliner Jewish Film Festival gründete und als freier Journalist für
israelische, deutschsprachige und angelsächsische Medien schreibt.
hagalil.com
20-04-03 |
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