- Bücher – nicht nur zum Judentum - http://buecher.hagalil.com -

Mut zum Anderssein

Eine erste Biographie über die frühe Antisemitismusforscherin Eleonore Sterling…

Von Siegbert Wolf

Eleonore Sterling verstand ihr Judentum als „Mut zum Anderssein und die zur Kritik am Bestehenden zwingende Liebe zur Gerechtigkeit“ (S. 149); den Judenhass hat sie lebenslang bekämpft: „Wo immer auch Ungerechtigkeit und Gemeinheiten geschehen, sind Komponenten des Antisemitismus am Werk. Wo wir sie auch finden, auch in uns selber, müssen wir alles tun, sie zu überwinden“ (S. 158).

45 Jahre nach ihrem Tod liegt die erste Biographie über die fast vergessene jüdische Antisemitismus-Forscherin und erste deutsche Professorin für Politische Wissenschaft vor, verfasst von der Sozialwissenschaftlerin Birgit Seemann und gefördert durch die „maecenia Frankfurter Stiftung für Frauen in Wissenschaft und Kunst“. Der Buchtitel stammt von Eleonore Sterling (geb. Oppenheimer, 1925 Heidelberg – 1968 Ebersteinburg/Baden-Baden) selbst, die sich als einen „feather weight champion Cassius Clay“ beschrieb. 1938 flüchtete die 13jährige Schülerin nach New York; ihre Eltern Saly und Flora Oppenheimer wurden in südfranzösischen NS-Lagern ermordet. Kraft im Exil gaben der antisemitisch vertriebenen Jugendlichen Ismar Elbogens geistiges Widerstandsdokument „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ (1935), noch mehr aber das Vermächtnis ihres Vaters: „Ich will nicht, dass mein Kind ein gebeugter Ghettojude wird“ (S. 16). Sie studierte am Sarah Lawrence College und an der Columbia University, das sie an der Edenwald School als Sozialarbeiterin für benachteiligte jüdische Kinder finanzierte.

Die Antisemitismusforschung, zu der sie Exildozenten wie Franz L. Neumann anregten, ließ die kinderlose junge Politikwissenschaftlerin nach einer gescheiterten Ehe zu Beginn der 1950er Jahre in das „hochindustrielle post-Auschwitz-Deutschland“ (S. 158) zurückkehren. Dort kämpfte sie fast zwei Jahrzehnte lang mit den Behörden um Entschädigung für ihr verlorenes ‚arisiertes‘ Erbe und die unterbrochene Ausbildung. An ihrem Wohn- und Studienort Frankfurt am Main promovierte sie bei Max Horkheimer über den Frühantisemitismus in Deutschland. Die von Seemann gesichtete Korrespondenz im Horkheimer-Nachlass (Frankfurter Universitätsbibliothek) offenbart eine langjährige wissenschaftliche ‚Vater-Tochter-Beziehung‘, die erst mit Sterlings frühem Tod endete. An der Universität Frankfurt am Main forschte und lehrte sie insgesamt 15 Jahre lang, u.a. als wissenschaftliche Assistentin des SPD-Politikers und Politikprofessors Carlo Schmid und als Oberstudienrätin im Hochschuldienst (Politische Bildung) im Team von Thomas Ellwein, Mitbegründer der westdeutschen Verwaltungswissenschaft.

Parallel engagierte sie sich weiterhin in der universitär noch nicht verankerten Antisemitismusforschung sowie für die didaktische Vermittlung jüdischer Geschichte an Schulen. In den 1950er Jahren gestaltete sie als Mitredakteurin und Autorin die Anfänge des „Frankfurter Jüdischen Gemeindeblatts“ mit und schrieb in der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ die Artikelserie „Lebendige Vergangenheit“. 1959 wurde sie als erste Frau mit dem Leo-Baeck-Preis ausgezeichnet. Zu Beginn der 1960er Jahre startete sie als Mitbegründerin der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ zusammen mit Helmut Gollwitzer, Eva G. Reichmann, Robert Raphael Geis, Ernst Ludwig Ehrlich und Dietrich Goldschmidt den christlich-jüdischen Dialog nach der Schoa.

1968 errang Eleonore Sterling an der Pädagogischen Hochschule (heute Universität) Osnabrück als erste Frau in Deutschland eine Professur für Politische Wissenschaft, erlag aber bald darauf ihrem Krebsleiden. Ihr Werk blieb unvollendet, doch hinterließ sie wegweisende Studien wie die mit Dietrich Andernacht (Stadtarchiv Frankfurt) im Auftrag der „Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden“ edierten „Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933–1945“ (1963). Mit „Der unvollkommene Staat. Studien über Diktatur und Demokratie“ (1965) steht sie in der Tradition jüdischer Staatsforscherinnen wie Hannah Arendt, Hedwig Hintze und Selma Stern-Täubler. Ihre Neubearbeitung (1966) von Ismar Elbogens Standardwerk „Die Geschichte der Juden in Deutschland“ wurde mehrfach aufgelegt. Mit Helmut Gollwitzer gab sie den Tagungsband mit dem bezeichnenden Titel „Das gespaltene Gottesvolk“ (1966) heraus. Posthum erschien ihre Einführung „Kulturelle Entwicklung im Judentum von der Aufklärung bis zur Gegenwart“ (1969). Einen wichtigen Forschungspfad legt Seemann mit ihren Hinweisen auf Sterlings publizistische Tätigkeit für amerikanisch-jüdische Editionen und Zeitschriften. Eleonore Sterlings Hauptwerk bleibt jedoch eine der ersten Antisemitismus-Studien in der Bundesrepublik: ihre Doktorarbeit „Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (1815–1850)“, 1956 erstmals erschienen und 1969 neu aufgelegt unter dem Titel: „Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815–1850)“. Ihr gesamtes Werk enthält, so Seemann, „Analysen und Warnungen hinsichtlich der Kontinuität eines Judenhasses, der nicht vergeht, sondern mit der Transformation, Modernisierung und Globalisierung von Herrschaftssystemen lediglich das Gewand wechselt“ (S. 133). Ähnlich wie Jean Améry sah Eleonore Sterling, wie sie Max Horkheimer nach dem Sechstagekrieg 1967 mitteilte, einen ‚internationalen Antisemitismus‘ heraufziehen.

Birgit Seemann: Ein „feather weight champion Cassius Clay“. Eleonore Sterling (1925–1968). Deutsch-jüdische Kämpferin gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Verlag Edition AV, Lich 2013, 257 Seiten, 18 Euro, Bestellen?