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„Die H. ist Jüdin!“ – Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933

Im Sommer 1942 sucht eine 79jährige Jüdin aus dem Bremer Vorort Fähr/Lobbendorf den Freitod in der Weser — nur wenige Tage vor ihrer bevor stehenden Deportation ins Ghetto Theresienstadt. 41 Jahre später liest der Pastor der evangelischlutherischen Christophorusgemeinde Aumund / Fähr ihren Name in einer Liste des Bremer Staatsarchivs: Marie Huntemann. Schon bald findet er heraus, dass sie nur wenige Schritte entfernt in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Kirche gewohnt hat. Vor allem aber ergibt sich aus alten Unterlagen auf dem Dachboden: Sie war Mitglied der evangelischen Kirche und damit seiner Gemeinde…

Er beginnt Fragen zu stellen, hält fest, was er über das Schicksal von Aumunder Juden in der Zeit des Dritten Reiches erfährt, bringt ihre Lebenswege in Zusammenhang mit dem Judenhass und der Judenverfolgung in Deutschland. Und er ist traurig und entsetzt darüber, wie seine Kirche nicht nur die jüdischen Mitbürger, sondern sogar die eigenen Mitglieder jüdischer Herkunft bitter allein gelassen hat.

Das Buch beschreibt ein Stück Regionalgeschichte, aber eben nicht nur. Es handelt von einer alten "Geschichte", die immer neu ist: Was geschieht, wenn die ethischen Forderungen des Evangeliums missachtet werden? Wenn Christen nach einer falsch verstandenen Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers glauben, der Staat dürfe nach anderen Wertmassstäben handeln als nach denen, die für das private Leben eines Christenmenschen gelten?

Das Ergebnis ist ebenso durchschlagend wie logisch. Die meisten Christen haben das Menschenverachtende und Verbrecherische der Nazi-Herrschaft nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Selbst die mehr oder minder oppositionelle Bekennende Kirche hat sich bis auf wenige Ausnahmen nur dort gewehrt, wo die eigenen Belange und Privilegien in Gefahr waren. Zahllos sind die Beispiele dafür, in welch erschreckendem Ausmass Pastoren, Gemeinden und Kirchenvertreter Juden und andere Verfolgte im Stich gelassen oder gar ans Messer geliefert und
sich — als alles vorbei war — wie Heinrich Albertz einmal treffend bemerkte, "in die Büsche geschlagen" haben. Manch einer hört das heute nicht mehr gern. Um so verdienstvoller ist Ingbert Lindemanns Buch, der uns an "seiner" Gemeinde und dem kleinen Ort Fähr-Lobbendorf exemplarisch vor Augen führt, was sich anderenorts zehntausendfach und mehr abgespielt hat.

Am Leben von Marie Huntemann, dem Schicksal ihrer Familie sowie anderer jüdischer Mitbürger nach 1933 wird das ganze Ausmass an Diskriminierung, Ausgegrenztheit und Unterdrückung
offenbar. Auch die eigene Kirchengemeinde und der Pastor schweigen und schauen weg. Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft will niemand darüber sprechen. Die Täter, wenn überhaupt verurteilt, kommen bald wieder frei, von der Presse später in Nachrufen als verdiente Persönlichkeiten gewürdigt. Gegen solche Geschichtsklitterung thematisiert das Buch, "was lange verschwiegen und verdrängt war, und bringt", so Hans Koschnick, "auch manches ans Licht, was der eine oder andere gerne im Unklaren gelassen hätte " Ein eindrücklicher Appell für ein "Nie wieder!""

Ingbert Lindemann: „Die H. ist Jüdin!“ Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933
Mit einem Vorwort von Hans Koschnick
116 Seiten, 86 Abbildungen, Hardcover, Euro 12,80
Donat Verlag 2009, ISBN-Nr. 978-3-938275-58-0

LESEPROBE

Kirchen als Handlanger der Judenverfolgung

Entgegen den Darstellungen in vielen Geschichtsbüchern und den Verlautbarungen zahlreicher deutscher Historiker nach 1945 werden die Juden nicht erst seit der Reichspogromnacht, sondern von 1933 an fortlaufend schikaniert, ausgegrenzt und terrorisiert. Das belegen die Archive der Gestapo, des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Exil-SPD in Prag. In Ostfriesland und Oldenburg beispielsweise verlassen viele alteingesessene jüdische Bürger ihre Dörfer und Städte, weil sie den täglichen Terror nicht mehr aushalten und selbst die Polizei ihnen keinen Schutz mehr gewähren kann oder will.

So berichtet der Hamburger Journalist und Autor Ralph Giordano z.B. in seinen Erinnerungen, wie ihm sein bester Schulfreund im Sommer 1935 plötzlich erklärt: „Mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!“ Als der Zwölfjährige beim Sportfest seiner Schule den zweiten Platz belegt, lässt man ihn bei der Siegerehrung unerwähnt; man hat ihn wegen seiner jüdischen Herkunft einfach von der Liste gestrichen, aber niemand protestiert. Und bei einem Ausflug an die Elbe erkennt ein älterer Herr die Familie als Juden und droht: „Ich gebe euch zehn Minuten Zeit, hier zu verschwinden!“ Von hier nach Auschwitz ist es nur noch ein Schritt. Insofern bringen die Nazis in ihren Verordnungen und Gesetzen gegen die Juden nur zum Ausdruck, was schon lange die Herzen und Hirne nicht weniger Deutschen umtreibt. Nun tritt es hervor und entfaltet seine unmenschlichen und — wenige Jahre später — mörderischen Folgen.

Auch die Kirchen erweisen sich als Handlanger der Judenverfolgung. Viele Deutsche wissen überhaupt nicht, dass sie jüdische Vorfahren haben. Sie fühlen sich als Deutsche, als Christen, jedenfalls nicht als Juden. Nun müssen sie plötzlich ihre „arische“ Herkunft nachweisen, wenn sie bestimmte Berufe ausüben oder wenn sie heiraten wollen. Die „Rassegesetze“ sehen einen Ariernachweis bis zu den Gross- und Urgrosseltern vor. Standesämter gibt es aber in Preussen erst seit 1874, im Deutschen Reich seit 1876. Die meisten Menschen können daher ihren „Ariernachweis“ nur durch Einsicht in die Kirchenbücher erbringen.

Ab 1936 häufen sich auch bei Pastor Grussendorf im Bremer Pfarrbezirk Aumund/Fähr die Anfragen. Das geht aus einem der wenigen erhalten gebliebenen Post-Eingangs- und Porto-Bücher hervor, die ich auf dem Dachboden fand. Pastoren und Kirchenbehörden werden so zu Komplizen der „Nürnberger Rassegesetze“ und ermöglichen letztendlich damit die Verfolgung jüdischer Menschen.

Führende Kirchenmänner, darunter auch der für Aumund zuständige hannoversche Landesbischof Marahrens, hielten 1939 ohne Bedenken eine „verantwortungsbewusste Rassenpolitik zur Reinerhaltung unseres Volkes (für) erforderlich“. Was wäre eigentlich gewesen, wenn sich die Kirchen standhaft und flächendeckend geweigert hätten, Ariernachweise auszustellen?

(…)

Schikanen

Nach der Reichspogromnacht wächst der Druck auf die Juden von Woche zu Woche. Das nationalsozialistische Regime denkt sich immer neue Verordnungen aus, um den Juden das Leben schwer zu machen und sie von den anderen Deutschen zu isolieren. In einer bereits am 10. Juni 1938 vor über 300 Polizeioffizieren gehaltenen Rede lässt Reichspropagandaminister Joseph Goebbels keinen Zweifel über die Marschrichtung: „Nicht Gesetz ist Parole, sondern Schikane!“

Nachdem jüdische Beamte schon 1933 den Staatsdienst verlassen mussten, dürfen Juden bald auch nicht mehr als Steuerberater, Apotheker, Lehrer, Viehhändler, Rechtsanwälte, Sachverständige, Krankenpfleger, Tierärzte u.a.m. tätig sein. Jüdische Pensionen und Renten werden halbiert.

Jüdische Geschäfte und Betriebe unterliegen der zwangsweisen Arisierung. „Betten-Wolf“ in Bremen Aumund in der Alten Hafenstrasse, dort wo sich jetzt „Möbel Heinemann“ befindet, wird geplündert und versteigert. Alle Juden müssen ihre Pässe abgeben, wer einen zurück bekommt, erhält ihn mit einem grossen Aufdruck „J“. Alle männlichen Juden heissen fortan „Israel“, alle weiblichen „Sarah“. Unser im hohen Alter verstorbenes Gemeindeglied Sarah D. erzählte uns im Seniorenkreis einmal, dass man sie mehrfach wegen ihres Vornamens überprüft und einmal sogar verhaftet hat. Man brachte sie in die Gestapowache. Fortan wäre sie von der Angst geplagt gewesen, man könne sie für eine Jüdin halten und ins KZ stecken.

Juden ist der Besuch von Theatern, Kinos und Konzerten verboten, ihre Kinder dürfen die öffentlichen Schulen nicht mehr betreten. Es wird ihnen das Halten von Brieftauben untersagt, sie müssen ihre Führerscheine abgeben, haben bestimmte Strassen und Viertel zu meiden, und das Einkaufen ist ihnen nur noch in wenigen Geschäften und zu eingeschränkten Zeiten erlaubt. Man händigt Juden im Krieg nur einen Bruchteil der Lebensmittelmarken aus, die „normale" Deutsche bekommen. Die Rundfunkgeräte sind abzuliefern, ausserdem alle elektrischen Geräte, auch Fahrräder, Autos, Telefone, Schreibmaschinen. Juden ist es nicht mehr erlaubt, Zigaretten oder Milch zu kaufen, und sie dürfen sich nicht mehr in Parks, Bahnhöfen oder Restaurants aufhalten. Seit Mai 1942 ist es ihnen schliesslich verwehrt, weiter mit Haustieren wie Vögeln, Hunden und Katzen zusammen zu leben, sie dürfen auch nicht abgegeben, sondern müssen getötet werden.

Es mag einigen Lesern merkwürdig vorkommen, aber letzteres hat mich besonders berührt. Einerseits, weil ich ein grosser Tierfreund und Katzenliebhaber bin, andererseits, weil ich die Tagebücher von Viktor Klemperer gelesen habe. Klemperer, nach den Nürnberger Gesetzen „Volljude“, beschreibt über viele Jahre hinweg, wie er und seine Frau ihre minimalen Fleischmarken opfern, um ihre elf Jahre alte und heiss geliebte Katze „Muschel“ zu retten. „Wir haben uns oft gesagt: der erhobene Katzenschwanz ist unsere Flagge, wir streichen sie nicht. Wir halten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch, und zum Siegesfest bekommt Muschel ein grosses Kalbsschnitzel. Es macht mich beinahe abergläubisch, dass diese Flagge nun niedergeht.“

Kurz vor Ablauf der behördlichen Frist lässt Eva Klemperer das Tier bei einem befreundeten Tierarzt einschläfern. Ihr Mann notiert: „Das Ende des Katers ist ein besonders schlimmer Schock unter der Menge der täglich wachsenden Bedrängnisse.“

In Breslau hält der jüdische Lehrer Willy Cohn in seinem Tagebuch den alltäglichen Terror fest. Besonders für seine drei und zehn Jahre alten Töchter Tamara und Susanne zerreisst es ihm oft das Herz, wenn Klassenkameraden oder andere Kinder sie als „Judenrotz“ und „Judensau“ beschimpfen oder sie von ihnen gehänselt und gestossen werden. Mühsam muss er ihnen erklären, warum sie bei Spaziergängen im Park oder in der Stadt auf den für Ariern vorbehaltenen Bänken nicht sitzen dürfen. Im Sommer 1940 sind ausnahmslos alle Bänke in Breslau für Juden verboten. Während die Kleine noch nichts begreift, wächst sich für die Ältere die tagtägliche Diskriminierung bald zu einem Trauma aus: Sie hat grosse Angst vor männlichen Besuchern, könnten sie doch von der Gestapo sein. Und sie weist den Vater ständig übereifrig darauf hin, welche Verbote er beachten müsse, um nicht verhaftet zu werden. Jeder sommerliche Spaziergang kurz vor der für Juden vorgeschriebenen Sperrstunde gerät zur Zitterpartie.

Bitter kommt es ihn auch an, dass er als Jude für seine Kinder keine Süssigkeiten mehr kaufen darf. Heimlich schleicht er im Schutz der Dunkelheit zu einem Automaten, um ein Stück Schokolade zu ergattern. Tatsächlich zeigen ihn aufmerksame „Volksgenossen“ mehrfach an, weil mitleidige Ladenbesitzer ihm „verbotene“ Waren verkauft oder zugesteckt haben.

(…)

Deportationen nach Minsk

Ende 1941 beginnen die grossen Deportationen gen Osten. Auf der Grundlage einer Volkszählung aus dem Jahre 1939 verschleppen die Nazis am 18. November 1941 rund 440 Juden aus Bremen, insgesamt Fünfzigtausend aus ganz Deutschland nach Minsk, wo man sie nach und nach erschiesst, vergast oder sie an Hunger und Seuchen zugrunde gehen. Unter ihnen sind etwa vierzig Juden aus Bremen-Nord.

Am 28. Juli 1942 richtet man im Rahmen der „Aktion Reinhard“ als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich unter den bis dahin überlebenden Lagerinsassen ein Massaker an. Wilhelm Kube, Generalkommissar in Weissrussland, schreibt am 31. Juli 1942 in einem Bericht an den Reichsführer SS Heinrich Himmler: „In Minsk-Stadt sind am 28. und 29 Juli 1942 rund 10.000 Juden liquidiert worden, davon 6.500 russische Juden — überwiegend Alte, Frauen und Kinder. Der Rest bestand aus nicht einsatzfähigen Juden, die überwiegend aus Wien, Brunn, Bremen und Berlin im November vorigen Jahres auf Befehl des Führers geschickt worden sind.“ Kube geht als berühmt-berüchtigter Judenschlächter von Minsk in die Annalen der Geschichte ein.
Nur eine Handvoll Bremer Juden überleben, darunter Hans Löwenthal (geboren 1901); er soll bald nach dem Krieg nach Bremen-Nord zurückgekehrt sein. Im Adressbuch von 1956 ist ein Hans Löwenthal in der Kaspar-Ohm-Strasse in Aumund verzeichnet. Hat er sich jemals wieder in dem Ort heimisch fühlen können? Wer hat versucht, ihm dabei zu helfen?

Die Gerüchte über die Massenmorde dringen von der Front und den Stätten der Massenvernichtung bald nach Deutschland. Urlauber und Zeugen, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht schweigen können oder wollen, teilen das Gesehene und Erlebte anderen mit. Victor Klemperer beispielsweise ist spätestens Anfang 1942 gut informiert, obwohl er isoliert in einem „Judenhaus“ lebt. Aus Bremen beordert man Polizeibataillone mit über 500 Mann nach Kiew und Minsk, um die Greueltaten organisatorisch zu begleiten. Wer hören will, kann hören! Wer wissen will, kann sich mehr als eine Ahnung von den Verbrechen verschaffen.
Im Januar 1942 macht sich auch die Bremer Gestapo Gedanken, was mit den restlichen Juden in der Hansestadt geschehen soll. Zuständig für Aumund und Vegesack ist die Gestapozentrale im neuen Aumunder Rathaus (ab 1939) an der Johann-Lange-Strasse, heute das Bauamt Bremen-Nord. Im Keller soll nach Berichten aus meiner Gemeinde auch gefoltert worden sein. Als Leiter tritt Adolf Schwarting auf, der gegen Ende des Krieges auch für das KZ-Farge arbeitet, seine Stellvertreterin ist Margarethe Lücke, deren Wirken sich in einem besonderen Spitznamen niederschlägt: der „Kommandeuse von Aumund“. Ebenfalls berüchtigt ist der Leiter des „Judenreferates“ der Bremer Gestapo Bruno Nette aus der Kimmstrasse in Vegesack, der die Deportationstransporte zusammenstellt.

Im Mai 1942 erhält das Bremer Büro der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland von der Gestapo die Weisung, alle Juden in Bremen in Doppelbögen zu erfassen. Die Nazis wollen genau wissen, wer jetzt noch für einen Transport in Frage kommt. Deutsche Gründlichkeit. Das nächste Ziel soll Theresienstadt sein.

Ingbert Lindemann: „Die H. ist Jüdin!“ Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933
Mit einem Vorwort von Hans Koschnick
116 Seiten, 86 Abbildungen, Hardcover, Euro 12,80
Donat Verlag 2009, ISBN-Nr. 978-3-938275-58-0

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