
Jüdischer Almanach
Frauen
Herausgegeben von Gisela Dachs
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2006
Euro 14,80
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Die vorhergehenden Bände:
Die
Jeckes
Humor
Kindheit
Vom Essen
Orte und Räume
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Der neue jüdische Almanach:
Jüdische Frauen - Klischee auf zwei Beinen?
Von Andrea Livnat
Der diesjährige Jüdische Almanach, herausgegeben von Gisela Dachs im
Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, widmet sich einem Thema, das ich mir in
dieser Reihe schon lange gewünscht habe: Frauen. Wie immer bietet der
Almanach dabei eine große Bandbreite, sowohl geografisch wie auch
historisch, und zeigt dabei Frauen, denen es gelungen ist, "eigene
Lebensentwürfe dem entgegenzusetzen, was ihnen von ihrer Zeit und
Umwelt, von Tradition und Religion vorgegeben wurde."
Im Eröffnungsbeitrag stellt Barbara Honigmann "das Problem mit der
Kopfbedeckung" vor, dem sich modern orthodoxe Frauen täglich gegenüber
sehen. Susannah Heschel widmet sich der Rolle von Frauen bei der
Tradierung jüdischer Identität und greift dabei die alljährliche
Anforderung von Pessach als Beispiel auf.
Liliane Weissberg wirft Licht auf eine der bekanntesten Erscheinung der
jüdischen Frauengeschichte, um die sich allerlei Mythisches rankt und
die als erfolgreiche deutsch-jüdische Symbiose gefeiert wird: der
Berliner Salon. Luise Hirsch schreibt über die Eroberung der Hörsäle
durch jüdische Frauen, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in
der Schweiz ihren Anfang nahm, als russische Jüdinnen dort die
Universitäten bevölkerten.
Von einem bisher fast unbeachtetem Thema handelt der Beitrag von
Stefanie Schüler-Springorum, die über die "Mädelfrage" der
deutsch-jüdischen Jugendbewegung "Kameraden" schreibt. Als Quellen
dienten der Autorin Briefe, Fotografien und das Fahrtenbuch einer
Berliner Mädchengruppe, die ein deutliches Bild der "außerordentlichen
Präsenz von selbstsicheren, aktiven und engagierten Mädchen" zeigen.
Zwei äußerst bekannte Jüdinnen werden von Viola Roggenkamp und Marie
Luise Knott unter die Lupe genommen: Katia Mann als Jüdin, die keine
Jüdin sein wollte, sowie Hannah Arendt und ihr kaum bekannter
Briefwechsel mit einer Freundin.
Ellen Presser teilt mit den Lesern ihre Gedanken über ihre Mutter und
deren Freundin Ester, beide Schoah-Überlebende: "Ihr
Selbsterhaltungstrieb, ihre Lebenslust, ob erfüllt oder vom Schamgefühl
getrübt, überlebt zu haben, ihr Bestreben, ihre Geschichten mitzuteilen
oder auch wegzuschließen, ihre Erwartungen an ihre Ehepartner und
Kinder, beschäftigten mich."
Barbara Hahn gibt zu Bedenken, dass mit der Vertreibung von Jüdinnen
aus Nazi-Deutschland auch eine "Kultur des Nachdenkens über "Frau" und
"Geschlecht"" unterging. Denn jene Frauen in der Emigration widmeten
sich von da an Fragen, die ihnen dringender auf der Seele lagen, die
"Frauenfrage" trat in den Hintergrund. Hahn stellt die Überlegungen von
Alice Rühle-Gerstel und Margarete Susman vor, "in der Weimarer Republik
entworfene Denkräume(, die) bis heute weitgehend unentdeckt blieben."
Margalit Shilo macht sich auf die Suche nach der "neuen Hebräerin", die
vom zionistischen Heldenmythos ausgeschlossen blieb. Die Paradoxie der
zionistischen Bewegung, "die eine neue jüdische Welt in einem uralten
Land schaffen" wollte, zeige sich auch im Verhältnis zur Frau. Auch wenn
die Aufgabe der Bewahrung von Tradition als essentiell gesehen wurde,
zeigte sich, dass die neue Gesellschaft auch ein neues Frauenbild
benötigte: "Dazu paßte der Mythos von der emanzipierten, starken, alles
könnenden hebräischen Frau, und daneben gedieh der Mythos von der
Gleichstellung der Frau in der neuen israelischen Gesellschaft."
Frauen im Spiegel der Literatur, in diesem Falle europäische und
orientalische Frauen in der eretz-israelischen Literatur, und Frauen im
Film, genauer gesagt israelischen Kriegswitwen, widmen sich Yaffah
Berlovitz und Yael Zerubavel.
Den beiden Klischee-Bildern von jüdischen Frauen par excellence widmen
sich die einzigen männlichen Autoren des Bandes. Eric Zakim begibt sich
auf die Suche nach der legendären "Jewish American Princess" und fragt
sich, ob deren Erbe nicht der Inbegriff der Postmoderne sei. Henryk M.
Brorder skizziert die "jiddische Mamme", die sich zu einem Mythos
entwickelt hat: "Zwischen dem Ungeheuer von Loch Ness auf der einen und
Florence Nightingale auf der anderen Seite steht die jiddische Mamme
genau in der Mitte, hat eine Schürze an und jammert über die
Undankbarkeit ihrer Kinder, denen sie ihr Leben geopfert hat."
Der Abschlussbeitrag von Olga Mannheimer ist als Ansprache auf einem
internationalen Therapeutenkongress gestaltet, die die Nähe und
Unterschiede zwischen Psychotherapeuten und jüdischen Müttern zum Thema
hat. Der wichtigste Unterschied: Während die Krankenkassen-Modelle der
Therapeuten noch über Evaluation und Feedback diskutieren, hat sich "das
jüdische Mütterkomitee hingegen prompt auf eine so einfache wie
verläßliche Methode geeinigt: das seit Generationen erprobte Modell
"Öpipus, Schmödipus, Hauptsache, du hast die Mama lieb!"
Wie in jedem Jahr ist auch dieser Almanach mit Fotos garniert. Talila
Kasubeks Bilder von Frauen aus Israel zeigen genauso überraschende
Einblicke wie die äußerst lesenswerten Beiträge des Almanachs.
hagalil.com
22-11-06 |