Vladimir Vertlib:
Spiegel im fremden Wort
Die Erfindung des Lebens als Literatur
Mit einem Nachwort von Annette Teufel und Walter Schmitz sowie einer
Bibliographie
Thelem Verlag 2007
Euro 14,80
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"Ein deutsch schreibender jüdischer Russe,
der zur Zeit in Österreich lebt"
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Literatur als Zwiegespräch:
"Hat Schreiben einen Sinn?"
Leseprobe aus dem
Nachwort von Annette Teufel und Walter Schmitz, S.
248-253
Jedes Erzählen braucht Zuhörer. Wo erzählt werden soll, bedarf es eines
Gegenübers, einer dialogischen Situation. "Um das Zeugnis überhaupt
hervorzubringen und um diese Erleichterung [durch die Mitteilung] zu
ermöglichen, bedarf es einer zuhörenden Person, die eine Art der zweiten
Zeugenschaft übernimmt."
Was für die Zeugnisse der Shoah im Extremen gilt, gilt in schwächerer Form
für das Bezeugen jeder – wie auch immer gearteten –traumatischen Erfahrung.
Vladimir Vertlib entwirft in seinen Texten immer erneut Situationen des
Zwiegesprächs, in denen erzählt, in denen nachgefragt und dem anderen
zugehört wird. Schon Rosa Masur, so will es Vertlibs Roman, wäre wohl nie in
Versuchung gekommen, aus ihrem 'besonderen Gedächtnis's zu erzählen – noch
nicht einmal, sich in dieses Gedächtnis hineinzubegeben –, hätte sie nicht
unerwartet einen Zuhörer gefunden, der die ermutigt, der fragt und der
Anteil nimmt. Es geht in diesem Akt des Erzählens, der zugleich ein Akt des
Erinnerns und des Bezeugens ist – um deutlich mehr als ein Honorar, obwohl
Rosa, die Zugewanderte, letzteres gut für ihre Familie und die von Kostik,
dem Sohn, so innig ersehnte Reise nach Aix-en-Provence gebrauchen kann. Das
ursprüngliche, möglicherweise vorgeschobene Motiv, das Geld, wird zunehmend
– je tiefer sich Rosa Masur ins Erzählen und mithin in die Welt ihrer
Erinnerungen verstrickt – verdrängt von dem Motiv, einfach erzählen zu
können. Den Vorwurf der Kinder, sie prostituiere sich, indem sie ihre
Geschichte öffentlich preisgebe, weist Rosa jedenfalls sehr entschieden
zurück: "'Hör endlich auf, das Projekt zu kritisieren. Es bereitet mir
großes Vergnügen […] Ich kann erzählen, was ich will. Man lässt mich reden.
[…]'"
Denn die "Gespräche", gesteht sich Rosa am Ende ein, sind "für mich […] zu
einer Art Lebenselixier geworden."–
"'Was ich Dir eigentlich erzählen wollte'" – dieses Bekenntnis des Sohnes
aus dem Roman Letzter Wunsch kann als Leitwort von Vladimir Vertlib
Erzählen überhaupt betrachtet werden.
Der
Zuhörer ist demnach jene Instanz, die dem Erzählenden und dem Zeugen einen
Weg zur Erinnerung, mithin zu sich selbst, zu eröffnen vermag. Es geht um
nichts Geringeres als die Möglichkeit, sich im Erzählen selber finden –
beziehungsweise, in Vertlib Sinn, 'er–finden' – zu können. Meist nimmt der
Zuhörer, der häufig als Ich-Erzähler eingeführt wird, in diesem Prozess eine
äußerst diskrete Rolle ein. Er beschränkt sich darauf, den anderen
anzuhören. Dadurch wird der andere zum eigentlichen Erzähler, den der
zuhörende Ich-Erzähler nur gelegentlich unterbricht – um einen winzigen
Kommentar einzustreuen oder um die Geschichte, wo sie droht abzuschweifen,
auf den richtigen Weg zurück zu bringen. Das ist bereits in Vertlibs
Erzählung Innere Werte (1999) so, wo der Erzähler zum eher
unfreiwilligen Zeugen des Berichtes eines Bekannten über dessen Versuche
wird, sich im Osten die richtige Frau zu kaufen – eben dort, wo Frauen noch
"meine inneren Werte zu schätzen" wissen.
Die Kommentare des Ich-Erzählers sind bereits hier äußerst sparsam, und
selbst noch das letzte Wort der Geschichte, welche der Sprecher erzählt,
bleibt ihm überlassen und spricht für sich selbst. Trotzdem wäre diese
Geschichte – wie viele andere Geschichten in Vertlibs Texten – ohne die
Gegenwart jenes diskreten Ich-Erzählers wohl niemals erzählt worden. Dessen
plastischste Figuration ist gewiss Naum Schwarz, Rosa Masurs Ehemann, der es
versteht, andere dazu zu bringen, sich ihm – und mithin sich selber – zu
öffnen: "Meist", so berichtet Rosa über ihren verstorbenen Mann, "unterhielt
er sich den ganzen Abend mit jemandem, wobei er geschickt Fragen stellte und
den anderen dazu bewog, ihm interessante, sogar intime Details aus seinem
Leben zu erzählen, wobei er von sich selbst nur wenig preisgab."
Im
Erzählungsband Mein erster Mörder inszeniert Vertlib schließlich
ausnahmslos dialogische Situationen, in welchen die Helden zu den
eigentlichen Erzählern ihrer Geschichten werden. Dennoch ist der fiktive
Erzähler stets gegenwärtig. Er ist derjenige, der die Erzählung in Gang
bringt, auch wenn es manches Mal nicht die von ihm erwartete Erzählung ist.–
Bereits in der Titelerzählung des Bandes gerät er unverhofft in die "falsche
Geschichte", in die Geschichte eben, die sich als die "richtige Geschichte"
erweist. Anfänglich hatte er lediglich vorgehabt, einen Totschläger zu
interviewen. Wie meist bei Vertlib erklärt sich jedoch die Gegenwart erst
aus dem Rückblick in die Geschichte. Die so banale wie unbefriedigende
Geschichte von einem sinnlosen Totschlag erhält – für den Zuhörer
überraschend – einen anderen, beunruhigenden, ihren wirklichen Sinn: "'Sie
wollen mehr?'" fragt ihn der Mörder. "'[…] Hören Sie zu, ich werde Ihnen von
einem Erlebnis erzählen, das sehr lange zurückliegt. Das wird, glaube ich,
alle Ihre Fragen beantworten, auch jene, die Sie nicht stellen wollten…'"
Damit steht der Erzähler mitten in der Geschichte des Zwanzigsten
Jahrhunderts, in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und jenen der frühen
Nachkriegszeit, in der auch die folgenden beiden "Lebensgeschichten"
spielen. Hier scheint das Interesse des Ich-Erzählers bereits von Anbeginn
auf die Geschichte gerichtet zu sein. Es ist beinahe so, als habe er vor der
Erkenntnis kapituliert, dass es harmlose, nur gegenwärtige Geschichten
ohnehin nicht gibt. Also geht er umgekehrt vor, beginnt am Anfang, in der
Vergangenheit seiner Interviewpartner, aus der sich die Traumata, die
Verhärtungen und die Rollen, die sie in der Gegenwart spielen, fast nebenher
erhellen:
Robert Hamminger erzählt bereitwillig, fast im Plauderton,
von Ereignissen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, erzählt,
als wäre es die Geschichte eines Freundes, den er vor langer Zeit gekannt
hat, macht hin und wieder eine Pause, schenkt Wein nach, schweift ab, flicht
die eine oder andere Anekdote ein. Das Erzählte kommt mit einer über die
Jahre erarbeiteten Sicherheit daher. Doch wenn man ein feines Ohr für
Zwischentöne hat, spürt man die Spannung, die sich weder im Wein ertränken,
noch im Scherz auflösen lässt. Das Vergangene erscheint im Licht der
Gegenwart, die Gegenwart als Spiegel der Vergangenheit. Verschiedene Zeiten
in einem Gruppenbild.
Die
dialogischen Situationen stellen allemal Grenzüberschreitungen dar. Sie
suchen, Brücken zu schlagen – aus der Gegenwart in die Vergangenheit, über
die Grenzen der Generationen hinweg, von den Kindern der Opfer zu denen der
Täter –, ohne dass die zwischen beiden Seiten bestehende Kluft sich in jedem
Fall überbrücken ließe. Mit dem Totschläger will der Interviewer, nachdem er
dessen Geschichte kennt, kein zweites Glas teilen, wie Vladimir Vertlib in
einer geschickten Asymmetrie zur letzten, oben zitierten Geschichte des
Bandes, zeigt: "Der Gastgeber möchte mir Wein nachschenken, aber ich bedecke
das Glas mit der Hand. '[…] Wollen Sie wirklich keinen Wein mehr?' / 'Nein
danke.'"
- Wenigstens aber nimmt einer den anderen wahr, das ist viel. So gelingt den
Erzählern und Zeitzeugen der Schritt aus den Rollen heraus – ein Schritt,
der bei Vertlib typischerweise mit dem Verlassen gewohnter Erzählmuster und
über Jahrzehnte verfestigter Deutungen verbunden ist. Eine
Grenzüberschreitung zur Identität wird dadurch zwar nicht unbedingt möglich,
denkbar ist sie indessen schon. Das ist auch der diskreten Gegenwart des
fiktiven Ich-Erzählers zu danken, der sich hier so wenig wie sonst irgendwo
in Vladimir Vertlibs Texten über seine Figuren erhebt. Er ermutigt sie
vielmehr zum Weitererzählen: "Deshalb sei es so wichtig, Zeugnis abzulegen,
erkläre ich."
Und Robert Hamminger erzählt.– Die
Last der Vergangenheit
kann der Zuhörer den Erzählenden zwar nicht abzunehmen, aber er kann sie
teilen; erzählen zu können und zuzuhören, so zeigt jede einzelne
'Lebensgeschichte' aus Vertlibs Band, sind dazu ein erster – manchmal der
einzig mögliche – Schritt. Denn unbewältigt, so ist Vladimir Vertlib
bewusst, bleibt das Vergangene allemal:
Man kann die
Vergangenheit nicht bewältigen. Man kann lernen, damit umzugehen, und das,
was weh tut, tut weh, und manches, was weh getan hat, rückt in eine gewisse
Ferne, wenn man festgestellt hat, wo die wirklich groben, die schweren
Verletzungen erfolgt sind.
Die
Dialogsituationen aus Vertlibs jüngstem Band können zugleich als Muster für
die Funktion von Literatur in der Gesellschaft gelesen werden. Denn der
Zuhörer, der hier zum Zeugen wird, ist kein beliebiger Freund oder
Zufallsbekannter, sondern – so Vertlibs Erzählkonstruktion – der künftige
Autor der "Lebensgeschichten", die in Mein erster Mörder versammelt
sind. Das ist den Ich-Erzählern der Binnenhandlungen schon von Beginn an
bewusst. Es habe, so der Totschläger am Anfang seiner Erzählung, "bis jetzt
niemand etwas über ihn schreiben wollen";
und wo ein "Aufnahmegerät […] auf dem Tisch" steht,
ist den Beteiligten ohnehin klar, dass das Erzählen zugleich dem Bewahren
dieser Geschichten gilt, dem Weitererzählen, welches die Zeugen dem
Schriftsteller und künftigen Autor ihrer Geschichten anvertrauen: dem
sekundären Zeugen einer späteren Generation.– In seinem Essay Der
subversive Mut zur Naivität hat sich Vladimir Vertlib dazu bekannt, dass
er "[i]nsgeheim immer noch" hoffe, "dass die Welt durch Bücher […] zumindest
marginal besser und erträglicher wird." (S. 121) Wenn dies möglich sein –
wenn also "Schreiben einen Sinn" (S. 117) haben – sollte, dann wohl zuerst
durch einen solchen Brückenschlag – über die Zeiten und Generationen hinweg
– , wie ihn sein letzter Erzählband vorführt. Der Dialog, der diesen
Brückenschlag erst ermöglicht, erhält bei Vertlib dadurch eine Bedeutung, in
der Martin Bubers Lehre vom Dialog – in einer allerdings säkularisierten
Form – nachzuklingen scheint: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung. […] Im
Anfang ist die Beziehung […]. Der Mensch wird am Du zum Ich […]."
Er
hoffe, hat Vladimir Vertlib mehrfach betont, dass seine Texte "zusammen
mit den Texten vieler anderer Autorinnen und Autoren, die sich mit
vergleichbaren Themen […] beschäftigen, ein Gesamtbild ergeben, das die
Vergangenheit im Kontext der Gegenwart sieht und die Gegenwart in einen
Bezug zur Vergangenheit setzt."
Dabei geht es um mehr, als das Gedächtnis an die Geschichte zu wahren –
Erinnerung ist kein Selbstzweck –, und auch die Lehren, die aus ihr zu
ziehen wären, sind Vertlib zufolge nicht ihr einziger Zweck. Für Vladimir
Vertlib hat das Erinnern an die Geschichte vielmehr einen existenziellen
Sinn: "Für mich […] ist Erinnerung eine unverzichtbare Bedingung, mit mir
selbst im Einklang zu bleiben. Nicht die Bewältigung des Unbewältigbaren ist
dabei entscheidend, sondern dessen Akzeptanz."
Was bei diesem Weg zurück zu erkennen sein könnte, ist die Tatsache, dass
die Vergangenheit, wie Vertlib sagt, nur "vermeintlich weit weg" ist – dass
wir, mit anderen Worten, "das Produkt einer gewissen Epoche" sind,
der wir uns stellen müssen, wenn wir uns finden wollen. Obwohl Vertlib in
seinem Selbstverständnis kein religiöser Mensch ist, steht er mit diesem
Gedanken, der auf dem existenziellen Wert der Erinnerung insistiert, der
kabbalistischen Lehre von der Heilung der Welt durch die Erinnerung nahe.
Zwar ist diese Lehre in einer politisierten und popularisierten Form auch im
Diskurs über die Shoah allgegenwärtig: die Worte des Baal Schem Tov –
"Vergessen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung"
– führen bekanntlich programmatisch in die Jerusalemer Shoah-Gedenkstätte
Yad vaShem ein. Bei Vertlib jedoch scheint der Gedanke mehr zu sein als das
griffige Schlagwort einer konsequenten 'Erinnerungspolitik'. Denn Vladimir
Vertlib geht stets vom einzelnen Menschen aus: Er ist es, der sich finden –
der sich erinnern muss.
Erzählen und zuzuhören und in diesem Prozess eine Gemeinschaft der
Erinnerung – der Sich-Erinnenden und derer, die weitererzählen können – zu
stiften, ist für die Erzählenden und die Zuhörer gleichermaßen, obschon in
unterschiedlicher Weise bedeutsam. Nur so, wenn überhaupt, führt Vertlib
zufolge ein Weg aus dem Zirkel der Traumata – des Einzelnen und der
Gesellschaft – heraus:
Wenn wir die
Geschichten unserer Eltern und unserer Großeltern und unserer Urgroßeltern
als konstitutives Merkmal für unser Selbstverständnis anerkennen […], dann
finden wir auch den Zugang zu unseren eigenen Seelen und zu unseren eigenen
Problemen, zu unseren Ängsten und unseren Sehnsüchten.
Erzählen braucht Zuhörer, braucht ein Gegenüber, sucht nach Antwort:
Vladimir Vertlibs erzählte Poetik ist eine Einladung zum Dialog.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Thelem Verlags.
Anmerkungen:
Ulrich Baer: Einleitung. In: "Niemand zeugt für den Zeugen".
Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg. v.
Ulrich Baer. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2000, S. 7–31, hier S. 15.
Vladimir Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. München: dtv
2003, S. 107f.
Ebd., S. 307.
Ders.: Letzter Wunsch. Wien: Deuticke Verlag 2003, S. 52.
Ders.: Innere Werte. Erzählung. In: Liebe! Hg. v. Ilse Walter. Wien:
Deuticke Verlag 2002, S. 124–142, hier S. 126. Vertlib hatte die Erzählung
bereits 1999 während des Ingeborg-Bachmann-Wettstreits in Klagenfurt
gelesen.
Vertlib, Rosa Masur (wie Anm. 2), S. 177.
Ders.: Mein erster Mörder. In: Ders.: Mein erster Mörder. Lebensgeschichten.
Wien: Deuticke 2006, S. 9–82, hier S. 12f.
Ders.: Nach dem Endsieg. In: Mörder, Lebensgeschichten (wie ebd.),
S. 191–253, hier S. 194f.
Vertlib, Mörder, S. 82.
Vertlib, Endsieg, S. 252.
Ines Schütz: Vertlib im Gespräch. Live von der "literadio"-Bühne auf der
Leipziger Buchmesse 2006 (16. März 2006, 16:30 Uhr).
Vertlib, Mörder (wie Anm. 7), S. 9.
Vertlib, Endsieg (wie Anm. 7), S. 194.
Martin Buber: Ich und Du. Stuttgart: Reclam jun. 1995, S. 12, 27f.
Vladimir Vertlib: Schattenbild. In:
Literatur und Kritik 34 (1999), Nr.
331/332, S. 32–36, hier S. 36.
Ders.: Träume. Essay. In: Zwischenwelt 18 (2001), Nr. 4: Lebenswege, S.
29f., hier S. 30.
Schütz, Vertlib im Gespräch (wie Anm. 11).
Nadja Tschistjakowa: Vladimir Vertlib. [Interview.] (= Heimat, fremde
Heimat, Folge 858; Erstausstrahlung im ORF am 14. Mai 2006.).
hagalil.com
06-11-07 |