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Vladimir Vertlib:
Spiegel im fremden Wort
Die Erfindung des Lebens als Literatur
Mit einem Nachwort von Annette Teufel und Walter Schmitz sowie einer Bibliographie
Thelem Verlag 2007
Euro 14,80

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Weitere Leseprobe:

Literatur als Zwiegespräch:
"Hat Schreiben einen Sinn?"

Vladimir Vertlib:
Spiegel im fremden Wort

Leseprobe, S. 158-165

Wann ist eine Biographie eher exotisch und interessant und wann "bedrohlich fremd"? Die Grenzen sind fließend, weil das Vorurteil, das der Exotisierung zugrunde liegt, sich oft nur wenig von jenem unterscheidet, das im Fremden eine Irritation und eine Bedrohung sieht.

Eine andere Frage ist, ob die Schubladen, in welche mich manche Rezensenten und einige andere Personen des Literaturbetriebs stecken, leer sind oder ob Inhalte, ob also diverse Erwartungshaltungen darin verborgen liegen, die meine Texte vermeintlich sehr gut oder gerade nicht erfüllen, was für die besagten Rezensenten und anderen Personen des Literaturbetriebs dann ein Ansatz zu Kritik oder Lob sein müsste. (In Wirklichkeit gibt es natürlich keine inhaltsleeren Schubladen, sonst würde man gar nicht auf die Idee kommen, sie zu verwenden. Es wird nur ab und zu deren Inhalt verschleiert, totgeschwiegen oder verdrängt.) Mit anderen Worten: Folgt etwas daraus, wenn ich beispielsweise als "hebräischer Autor" oder als "Russe" bezeichnet werde, oder ist das ein bloßes Etikett (weil einem sonst nichts zu sagen einfällt), das für die Deutung des Textes und in Folge auch für die Haltung mir gegenüber letztendlich folgenlos bleibt?

1. Beispiel: Disput nach einer "politisch korrekten" Preisverleihung:

Im Februar 2001 erhielt ich in München den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis. Dieser von der Robert Bosch Stiftung finanzierte Literaturpreis wird, wie schon an anderer Stelle erwähnt, an deutschsprachige Autorinnen und Autoren mit nichtdeutscher Muttersprache vergeben. Er wurde 1985 eingerichtet und diente dazu, die zu jener Zeit noch kaum bekannte und von der Literaturkritik weitgehend ignorierte Literatur von Zuwanderern einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Inzwischen gehören viele Preisträgerinnen und Preisträger zu den bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellern im deutschsprachigen Raum, darunter Ilja Trojanow, Terézia Mora, Feridun Zaimoglu, Radek Knapp oder Dimitré Dinev. Dies hat dazu geführt, dass manche die Idee und das Konzept dieses Literaturpreises für nicht mehr zeitgemäß halten.

Nach der Preisverleihung wurde ich von einer französischen Germanistin, die auch Schriftstellerin ist und zudem als Tochter von Immigranten in Frankreich geboren wurde, angesprochen. Ob ich mich über diesen Preis freuen würde, wollte sie wissen. Als ich dies bejahte, warf sie mir vor, ich gebe mich mit einer "unzulässigen Schubladisierung" und einer "Abdrängung in die Minderheitenecke" zufrieden. Die Preisverleihung sei eine "geballte Ladung politisch korrekter Phrasen" gewesen. In Frankreich empfände es ein Autor als Beleidigung, wenn man ihn als Person und demzufolge auch seine Texte derart von seiner Herkunft abhängig machen würde. Meinen Einwand, Frankreich habe einen anderen historischen Hintergrund als Deutschland oder Österreich, quittierte sie mit der Bemerkung, prinzipielle Erwägungen dürfe man nicht durch pragmatische Überlegungen relativieren. Die Literatur von Zuwanderern möge im deutschsprachigen Raum immer noch unterrepräsentiert sein, dies sei jedoch kein Grund, die Texte eines Zuwanderers gesondert zu betrachten und zu beurteilen. Wir diskutierten noch einige Zeit, so lange, bis alle Argumente ausgetauscht waren und es klar wurde, dass keiner von uns beiden von seinem Standpunkt abrücken werde. Das unangenehme Gefühl, das ich nach diesem Gespräch hatte, war aber nicht darauf zurückzuführen, dass ich an einem solch festlichen Abend eigentlich kein Streitgespräch hatte führen wollen, sondern auf die Tatsache, dass die Argumente der französischen Kollegin natürlich nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Wenn, wie ich behaupte, die Literatur von Zuwanderern nichts Außergewöhnliches ist, sondern Normalität herstellt, darf sie dann gesondert beurteilt werden? Ist es nicht fragwürdig, schreibende Immigranten als eigene Gruppe zu sehen? Ein als Jugendlicher nach Stuttgart zugewanderter Italiener unterscheidet sich wahrscheinlich von einer in Berlin lebenden Türkin mehr als von seinen schwäbischen Schriftstellerkollegen. Andererseits sind zahlreiche mit einem Sprach- und Kulturwechsel verbundene, manchmal salopp als "Chamisso-Phänomen" bezeichnete Auswirkungen bestimmter Lebens- und Schreiberfahrungen durchaus vergleichbar. Spricht dies aber wirklich dafür, diese Aspekte hervorzuheben und mit einem Literaturpreis zu prämieren? Oder wird dadurch nicht vielmehr der Eindruck erzeugt, man versuche jene Autorinnen und Autoren zu belohnen, die den Sprach- und Kulturwechsel besonders "erfolgreich" vollzogen haben, so als wäre es eine gute Zensur für einen gewissenhaft absolvierten Nachhilfeunterricht? Einige Literaturwissenschaftler, Kritiker und Verleger tendieren dazu, dies so zu betrachten. Für sie bleibt die "nationale Kultur" eine Norm, an der jene gemessen werden, die sich in einem kulturellen Zwischenraum aufhalten. Für sie ist der Adelbert-von-Chamisso Preis demzufolge "politisch wichtig", aber dennoch keine "richtige" und ernst zu nehmende literarische Auszeichnung.

Wenn es hingegen diese Norm nicht mehr gibt, dann sind die erwähnten Voraussetzungen für die Verleihung des Adelbert-von-Chamisso Preises genauso mit Ironie zu betrachten wie zum Beispiel jene meist willkürlich festgesetzten Altersgrenzen, bis zu denen man sich um ein Stipendium als "junger Literat" bewerben kann. Dass jemand mit achtunddreißig "älter" und "reifer" sein kann als ein anderer mit zweiundvierzig, ist eine Binsenweisheit. Doch wenn die Altersgrenze mit vierzig festgelegt wurde (was oft der Fall ist), entspricht das nur der gängigen Vorstellung, dass man spätestens mit diesem Alter nicht mehr "jung" sein darf. Ein Mittdreißiger dürfe sich dieses Gefühl hingegen noch erlauben. Kriterien dieser Art zementieren Klischees und brechen sie – durch das Aufzeigen ihrer Fragwürdigkeit und Willkürlichkeit – gleichzeitig auf. Im Falle des Adelbert-von-Chamisso Preises verhält es sich nicht anders. Seine Existenz hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Literatur von Zuwanderern initiiert, den Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen des Kultur- und Sprachwechsels bereichert und dadurch überkommene Vorstellungen in Frage gestellt. Dass manche Vertreter des "Literaturbetriebs" noch immer die Meinung vertreten, es handle sich dabei "nur" um ein Minderheitenprogramm, muss man dabei ebenso in Kauf nehmen wie die entsprechende Rezeption.

2. Beispiel: Nur für Juden

Vorgefasste Meinungen und Klischees können groteske, sogar amüsante Züge annehmen. Einem Autor bieten sie Stoff für seine Texte oder bereichern zumindest seine Lebenserfahrung – was meist auf dasselbe hinausläuft. Vor einigen Jahren nahm ich an einem Literaturtreffen in einer deutschen Kleinstadt teil. Es war Hochsommer. Die Workshops, Lesungen und Seminare fanden meist im Freien, im weitläufigen Park einer Jugendstilvilla, statt. Dort nahmen die etwa zwanzig Teilnehmer des Treffens auch ihre Mahlzeiten ein. Die Verköstigung war im Stipendium mitenthalten. Die Veranstalter hatten sich sehr bemüht, ihren Gästen – allesamt "Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation" – den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Für das leibliche Wohl wurde gut gesorgt, und so ist mir von diesem Treffen vor allem das gute Essen in Erinnerung geblieben.

Eines Tages gab es ein besonderes Festessen: Spanferkel. Es lag auf einem großen, langen Tisch, der auf der Terrasse stand, und war äußerst kunstvoll mit Äpfeln, Gemüse und Grünzeug geschmückt. Doch kaum hatte ich mich dem Tisch genähert, zupfte mich einer der Veranstalter am Ärmel und meinte halblaut, da ich jüdisch sei, habe man für mich extra etwas anderes zubereitet. Daraufhin führte er mich zu einem etwas kleineren Tisch, auf dem zwei Töpfe standen. In einem von ihnen befanden sich Nudeln, in dem anderen, wie mir sogleich versichert wurde, "eine rein vegetarische Sauce". Ich war überrascht, hatte ich doch während dieses Treffens weder nach koscheren Gerichten verlangt noch jemals behauptet, kein Schweinefleisch zu essen. Ich wurde auch nie danach gefragt. Wenn ich in den vorangegangenen Tagen auf meine jüdische Herkunft angesprochen wurde, hatte ich immer erklärt, kein gläubiger Mensch zu sein und das Judentum in erster Linie als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen. Da ich aber nicht unhöflich sein wollte, nahm ich mir einen Teller Nudeln. Inzwischen hatten andere Kollegen den Nudeltopf entdeckt und sich hinter mir angestellt. Doch auch diesmal erwies sich der stets höfliche, diskrete und wohl deshalb fast immer nur halblaut redende Veranstalter als konsequent. "Die Nudeln sind für Herrn Vertlib", meinte er. "Wir haben nur für eine Person gekocht, da Herr Vertlib bekanntlich …" Hier verstummte er für einen Augenblick. "Herr Vertlib ist Jude und ich bin Vegetarierin", unterbrach ihn eine Autorin. "Ich auch", erklärte ein Autor. "Ach so", murmelte der Veranstalter. "Dennoch – es tut mir Leid. Aber wir haben ja noch Gemüse. Brot und Aufstriche. Und natürlich die Nachspeise." Inzwischen hatte ich mich mit meinem Nudelteller am anderen Ende der Terrasse angestellt. "Vom Fleisch möchte ich wirklich nichts", erklärte ich. "Aber von der Sauce hätte ich gerne ein bisschen was."

Ich hatte den Eindruck, die Veranstalter des Literaturtreffens seien danach nicht mehr so freundlich zu mir gewesen. Später verarbeitete ich das "Spanferkelerlebnis" zu einer Szene in meinem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur.

3. Beispiel: Kindheit im Exil – ein spannendes Abenteuer

Vor einiger Zeit hielt ich an einem deutschen Gymnasium eine Lesung ab. Meine Zuhörerschaft, Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse, fanden Gefallen an meinen Texten. Noch mehr interessierten sie sich allerdings für meine Biographie. Ich erzählte bereitwillig von der Odyssee, die ich als Kind und als Jugendlicher durchmachen musste, erwähnte alle Orte, an denen ich mich aufgehalten hatte, und sprach darüber, was ich damals empfunden und welche Auswirkungen die Emigration auf mein späteres Leben hatte. Die Schülerinnen und Schüler schienen von meinen Worten beeindruckt zu sein. Einige von ihnen waren selbst als Immigranten nach Deutschland gekommen und berichteten, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich.

Nachdem die Schulstunde zu Ende war, dankten mir die Lehrer für die "interessante und wichtige Veranstaltung". Der Stellvertretende Direktor meinte, er habe zwar viel Arbeit, bereue es aber trotzdem nicht, meine Lesung und das anschließende Gespräch miterlebt zu haben. Als ihn die Klassenlehrerin gebeten habe zu kommen, habe er geschwankt, ob er sich die Zeit dafür nehmen solle oder nicht. Nun sei er froh, dabeigewesen zu sein. "Sie haben eine so interessante Biographie!", meinte er. "Was kann ich dem schon mit meiner behüteten Kindheit im Nachkriegsdeutschland entgegensetzen. Aber ich habe einen jüdischen Freund, der in den Dreißigerjahren nach Shanghai flüchten musste. Seine Erzählungen sind ähnlich spannend wie Ihre."

Zuerst wollte ich widersprechen. Meine Kindheit und Jugend hatte ich keineswegs als "spannend" in Erinnerung. Das Leben eines Emigranten ist neben allen Spannungszuständen, auf die er gerne verzichten würde, in erster Linie trostlos. Die vielen Stunden, die ich in den Warteräumen der österreichischen Fremdenpolizei oder diverser anderer Behörden verbracht habe, assoziiere ich vor allem mit Langeweile und vergeudeter Lebenszeit. Aber ich wollte nach der Lesung nicht wiederholen, was ich im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern ohnehin schon ausführlich erläutert hatte. Wenn jemand nur das hört, was er hören möchte, dachte ich, wird er seine Klischees zu verteidigen wissen. Heute bereue ich, dass ich damals geschwiegen habe. Manchmal ist Widerspruch eine Frage des Prinzips. Den äußerst bedenklichen Vergleich meiner Biographie mit der eines Verfolgten und Vertriebenen der NS-Diktatur hätte ich auf jeden Fall zurückweisen müssen. Während der Emigration ist mein Leben niemals bedroht gewesen. Als Kind wurde ich ausgegrenzt, manchmal beschimpft, einige Male geschlagen, aber ich wurde nicht misshandelt, und niemand hatte je gedroht, mich zu ermorden. Dennoch hätte ich gerne mein Leben gegen jenes einer so genannten "behüteten Kindheit" ausgetauscht.

Konnte eine Kindheit in Nachkriegsdeutschland überhaupt so "behütet" sein, wie es mir jener Lehrer weiszumachen versuchte? War eine solche Kindheit nicht vielmehr von Schweigen, Verdrängen oder den traumatischen Erinnerungen von Eltern und Großeltern geprägt? Für die wenigen Juden, die nach 1945 beschlossen hatten, sich – trotz allem – in Deutschland oder in Österreich eine neue Existenz aufzubauen, war dies wohl fast immer der Fall.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Thelem Verlags.

hagalil.com 06-11-07











 

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