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Der Holocaust hat keine Werte:
Die Politik der Erinnerung
Amos Elon, 1993, aus dem Buch:
Nachrichten aus Jerusalem, Reportagen aus vier Jahrzehnten
In Israel herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg
angesichts der Enthüllungen über den Holocaust zunächst betroffenes
Schweigen - eine Mischung aus Scheu und Scham.
Ältere Menschen fühlten sich schuldig, weil sie nicht
imstande gewesen waren, die Katastrophe zu verhindern oder in ihren
Dimensionen zumindest zu begrenzen. Jüngere, im Lande geborene Israelis
zeigten sich oft unfähig, den Überlebenden des Holocaust einfühlsam zu
begegnen. Das war, jedenfalls partiell, das Ergebnis zionistischer
Erziehung und Propaganda. Generationen von Jugendlichen waren in dem
Glauben aufgewachsen, dass die Existenz der Diaspora nicht nur eine
Katastrophe, sondern auch eine Schande sei. Oft hieß es, die jüdischen
Opfer der Nazis seien wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen. Ein
Schulbuch, das mindestens bis Ende der fünfziger Jahre an israelischen
Oberschulen in Gebrauch war, interpretierte die große Klage des
hebräischen Dichters Bialik über das
Pogrom von
Kischinew (1903) folgendermaßen: »Dieses Gedicht beschreibt die
gemeine Brutalität der Angreifer und die schändliche Schmach und
Feigheit der Juden des [osteuropäischen] Schtetl.«
»Schändlich«, »Schmach« und »Feigheit«, das waren die
Schlüsselbegriffe, die auf den Kern der zionistischen Erziehung
verwiesen. In der schwankenden Stimmung von Erinnerung und Ablehnung
waren jüngere Israelis anfangs hin- und hergerissen zwischen Zorn und
Scham über ihre verfluchte Vergangenheit. Manche führende Politiker
wurden von Schmerz und Schuldgefühlen geplagt, dass sie vielleicht mehr
hätten tun können, um das Ausmaß der Tragödie wenigstens zu verringern.
Manche sind damit nie fertig geworden.
Der erste Außenminister des Staates Israel, Mosche
Scharett, wurde zeit seines Lebens von solchen Gedanken gepeinigt.
Jahrelang quälte ihn der Fall Joel Brand, des umstrittenen Emissärs, der
1944 aus Ungarn entsandt wurde, um Eichmanns »Lastwagen gegen
Juden«-Vorschlag zu überbringen. Die Engländer hielten Brand in einem
Militärgefängnis in Aleppo fest. Scharett, der ihn dort verhörte, war
überzeugt von Brands Aufrichtigkeit und fand, dass man zwar Eichmanns
Angebot nicht annehmen dürfe, mit Eichmann aber weiter verhandeln und
bluffen müsse, um Zeit zu gewinnen. Immerhin standen die Russen schon
vor den ungarischen Grenzen. Die Briten interessierte das alles nicht.
Aus ihrer Sicht war der Sieg über die Nazis wichtiger als die Rettung
von Juden. Gegen einen solchen Handel wandten sich auch die Russen, die
einen anglo-amerikanischen Separatfrieden mit Deutschland befürchteten.
Bis an sein Lebensende machte Scharett sich Vorwürfe, seine
verzweifelten Appelle vielleicht nicht eindringlich genug formuliert zu
haben oder in seiner Loyalität gegenüber den Westalliierten allzu
diszipliniert gewesen zu sein.
Ende der fünfziger Jahre wich das Schweigen über den
Holocaust einer wortreichen — oft staatlich geförderten - Diskussion
über seine Auswirkungen. Es wurde üblich, vom Holocaust als dem
zentralen Trauma der israelischen Gesellschaft zu sprechen. Seine
Auswirkungen auf den Prozess der Staatswerdung sind nicht hoch genug zu
veranschlagen. Tocqueville schrieb, dass die Umstände der Geburt einer
Nation, wie beim Menschen, großen Einfluss auf ihre Entwicklung haben.
In der Zeit, als sich in Israel ein Großteil des nationalen Ethos und
der politischen Sprache herausbildete, brannten sich Bilder einer wahren
Hölle auf den dunklen Grund der Seelen ein. Die frühen Zionisten hatten
sich Israel als einen sicheren Hafen für verfolgte Juden vorgestellt,
aber der Staat war zu spät gegründet worden, als dass er die Millionen
von Toten hätte verhindern können. Bis auf den heutigen Tag existiert in
Israel eine latente Hysterie, die unmittelbar darauf zurückzuführen ist.
Sie erklärt das paranoide Gefühl des Isoliertseins, das seit 1948 ein
Hauptmerkmal der israelischen Gesellschaft ist. Sie erklärt das
übermächtige Misstrauen, die Entschlossenheit, sich nur auf die eigene
Stärke zu verlassen, die (bisweilen in Verachtung umschlagende) Angst
vor Außenseitern, besonders Arabern, und in jüngster Zeit vor den
Palästinensern. Israelis neigen dazu, hinter jedem Araber oder
Palästinenser SS-Männer zu sehen, die nur darauf warten, sie abermals in
die Gaskammern und Verbrennungsöfen zu treiben.
Die Israelis sind natürlich nicht das einzige Volk, das im
Schatten einer traumatischen Vergangenheit lebt. Das Selbstverständnis
etwa der Polen oder Iren hat seine Wurzeln in ähnlichen Bildern von
historischem Leid und Märtyrertum. Der Mord an Millionen Armeniern ist
vielleicht die beste Parallele. Hitler soll gesagt haben: »Wer erinnert
sich noch an die Massaker an den Armeniern?« - also kann man auch die
Juden ausrotten. Wenn andere ebenfalls ausgerottet wurden, so liegt der
Fall bei den Juden doch anders, weil (mit Ausnahme der Zigeuner) nur sie
als »Volk«, als »minderwertige Rasse« zur Vernichtung bestimmt wurden.
Generationen von Juden sind mit dieser düsteren Lehre
aufgewachsen: Juden mussten nicht wegen ihrer Religion oder ihrer
Politik sterben oder wegen ihrer Taten, sondern einfach, weil es sie
gab, weil sie existierten. Diese Botschaft ist ihnen jahrelang und mit
weitreichenden politischen, kulturellen und religiösen Konsequenzen
vermittelt worden. Daraus entwickelte sich eine spezifische politische
Sichtweise, eine düstere, harte, pessimistische Einstellung zum Leben.
Der Historiker Jacob Talmon billigte diese Haltung als einen »göttlichen
und kreativen Wahn, der nicht nur jede Angst und Unschlüssigkeit bannt,
sondern in einer Landschaft, die in ein unheimliches, verzerrendes Licht
getaucht ist, auch für einen klaren Blick sorgt«. Talmon schrieb diese
Worte 1960. Als er zwanzig Jahre später starb, hatte er sie schon längst
bedauert. Wenn nämlich die vorherrschende traumatische Erinnerung an den
Holocaust mit den Jahren stärker geworden war, so wurde sie von
Politikern und Ideologen inzwischen auch manipuliert. Paradoxerweise
gewann sie, nach Israels Blitzsieg über drei arabische Nachbarstaaten im
Jahre 1967, im politischen Leben noch mehr an Gewicht. Talmons
»göttlicher und kreativer Wahn« erklärt die Unerschrockenheit und
Energie des jungen Israel. Aber nach 1967 führte er auch zu jenem
engstirnigen und staatlich sanktionierten Egoismus, der nach dem
Sechs-Tage-Krieg und dem Yom-Kippur-Krieg aufkam - zur Paranoia des
»Die-ganze-Welt-ist-gegen-uns«, zur Missachtung der Rechte der
Palästinenser und der Weltöffentlichkeit.
Diese Unversöhnlichkeit war vermutlich einer der Gründe,
warum der Frieden mit Ägypten, der 1971 oder 1972 durchaus möglich
gewesen wäre, erst 1978, nach dem furchtbaren Aderlaß des
Yom-Kippur-Kriegs, erreicht wurde. Ich war zufällig Zeuge eines
Gesprächs, das 1972 zwischen Richard Crossman, dem Chef der britischen
Labour Party, und einem pensionierten hohen israelischen Diplomaten
stattfand. Crossman, ein alter Freund Israels, beklagte sich bitter über
die israelische Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern, besonders
bei der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir. Der Diplomat nickte
erst betrübt, versuchte dann aber, Golda Meirs Härte mit einem Hinweis
auf den Holocaust verständlich zu machen. »Wir sind ein traumatisiertes
Volk«, sagte er. »Verstehen Sie doch!« »Gewiß!« erwiderte Crossman.
»Gewiß, Sie sind ein traumatisiertes Volk! Aber Sie sind ein
traumatisiertes Volk mit einer Atombombe! Solche Leute gehören hinter
Gitter!«
Nach dem Sechs-Tage-Krieg sahen sich die meisten
israelischen Politiker in ihren eigenen Widersprüchen gefangen. Das
gleiche Recht auf Selbstbestimmung, das die Israelis für sich forderten,
verweigerten sie jetzt anderen - im Namen der Erinnerung. Während sie
jeden Ansatz, den Holocaust historisch zu relativieren oder zu
vergleichen, vehement ablehnten, vielmehr darauf bestanden, dass er
absolut unvergleichbar sei, brachten sie es fertig, die Araber als Nazis
und Arafat als einen zweiten Hitler zu bezeichnen. Menachem Begin
schrieb während des Libanonkriegs in einem Brief an Ronald Reagan, er
habe, als die israelischen Panzer nach Beirut rollten, das Gefühl
gehabt, als marschiere er in Berlin ein, um Hitler in seinem Bunker
gefangen zu nehmen. Diese Sprache war übrigens nicht nur für Begin und
den Likud typisch. Abba Eban, der moderateste aller Politiker der
Arbeitspartei, bezeichnete die Grenzen vor 1967 - Grenzen, die es Israel
ermöglicht hatten, in nur sechs Tagen drei arabische Armeen zu
vernichten - als »Auschwitz-Grenzen«.
Die Schwierigkeit, sich der Erinnerung an den Holocaust zu
stellen, beeinflusste auch die israelische Geschichtsschreibung. In den
ersten zwei Jahrzehnten wirkten sich die Formeln der zionistischen
Ideologie hemmend auf die israelischen Historiker aus. So entstand eine
Reihe von ideologischen und apologetischen Arbeiten, deren Absicht es
war, die historische Notwendigkeit des jüdischen Staates nachzuweisen.
Tom Segev, einer der führenden israelischen Historiker, hat diese Werke
in seiner Studie
Die siebte Million* scharfsinnig analysiert.
Obwohl das Thema Nationalsozialismus eine so beherrschende Rolle in
Israel spielt, sind, wie Segev zeigt, die meisten seriösen Arbeiten
jüdischer Autoren zu diesem Thema nicht in Israel geschrieben worden,
und davon wiederum - vielleicht weil sie nicht ganz den. gängigen
Formeln entsprachen - ist nur eine Handvoll ins Hebräische übersetzt
worden, meist mit erheblicher Verspätung. Raul Hilbergs monumentales
Werk über den Holocaust wurde nie übersetzt. Alan Bullocks Buch über
Hitler kam auf hebräisch erst mit zwanzigjähriger Verspätung heraus,
Joachim Fests Hitler erst 1986 - wobei der israelische Verlag es bei
Fests Studie für angebracht hielt, einen Untertitel hinzuzufügen
(»Portrat einer Unperson«), der der Grundthese des Autors widerspricht.
*) Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels
Politik der Erinnerung. Übersetzt von Jürgen Peter Krause und Maja
Ueberle-Pfaff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995.
Ich erwähne diese Manöver und Verzögerungen nur, weil sie
charakteristisch sind für jene Zeit, eher auf simplifizierende als auf
differenziertere Darstellungen zu setzen. Es brauchte mehr als eine
Generation, bis israelische Historiker imstande waren, die Geschichte
des Holocaust losgelost von ihrer eigenen Biographie zu betrachten.
Die Geschichte aufzuschreiben ist, wie wir alle wissen,
eine Möglichkeit, die erdrückende, oft lähmende Last der Vergangenheit
abzuschütteln - »sich von der Geschichte zu befreien«, wie Benedetto
Croce sagt. Die politische Klasse Israels zögerte jedoch, sich von den
Klischees zu lösen. Unter der rechten Likud-Regierung, die 1978 an die
Macht kam, wurde die Erinnerung immer stärker instrumentalisiert. Ich
muss manchmal an die politische Rhetorik jener Zeit denken, wenn ich die
Erklärungen lese, die heute im ehemaligen Jugoslawien abgegeben werden,
in denen immer wieder die Identität von Geschichte und Schicksal
beschworen wird. Menachem Begin pflegte jeden größeren politischen Akt
seiner Regierung - ob im Libanon oder in den faktisch annektierten
besetzten Gebieten - als Meilenstein auf Israels historischem Marsch
»vom Holocaust zur Erlösung« zu bezeichnen. Er versuchte, den Holocaust
auf juristischem Weg der Geschichtsschreibung wegzunehmen. 1981 wurde
ein Gesetz erlassen, welches das Leugnen des Holocaust unter Strafe
stellte, als wäre er kein Thema mehr für Historiker, sondern, wie Segev
schreibt, eine gesetzlich geschützte »Doktrin« nationaler Wahrheit, eine
Staatsreligion. (Das Gesetz scheint die Doktrin sogar besser zu schützen
als die Religion. Die Höchststrafe für »grobe Beleidigung religiöser
Gefühle« - vermutlich also auch für das Leugnen der Existenz Gottes -
ist ein Jahr Gefängnis. Wer den Holocaust leugnet, wird mit mindestens
fünf Jahren bestraft. Beide Gesetze sind im Grunde Ausdruck politischer
Rhetorik: sie sind bis jetzt noch nie angewendet worden).
Die politische Sprache ist noch immer voll von alten
Klischees über den Holocaust. Als General Ehud Barak, der
Generalstabschef der israelischen Armee, im letzten Jahr Auschwitz
besuchte und, umringt von Adjutanten und Fernsehreportern, vor den
Verbrennungsöfen stand, erklärte er feierlich. »Wir sind fünfzig Jahre
zu spät gekommen«.
Aus dem gleichen Grunde entwickelte sich in Israel nur sehr
langsam eine Einsicht in den Charakter der Bundesrepublik Deutschland -
dass sie ein Neuanfang war, zudem gar kein so schlechter, eine offene
Gesellschaft und eine relativ gut funktionierende Demokratie, ein
komplexes Land, ein Land, das weniger einem Gemälde von Otto Dix oder
George Grosz ähnelte, sondern eher einem von Anselm Kiefer. In der
deutschen Frage war David Ben Gurion die große Ausnahme unter den
israelischen Politikern. Oft widersprach er dem verbreiteten Feindbild
mit dem Hinweis, dass Westdeutschland nunmehr eine freiheitliche
Demokratie sei. Er durfte das aus Gründen der Staatsräson getan haben,
aber auch deswegen, weil er wirklich überzeugt war, dass es inzwischen
ein »anderes« Deutschland gab. Er kam damit nicht sehr weit, nicht
einmal in seiner eigenen Partei. Auch seinen Nachfolger konnte er nicht
davon überzeugen. Wahrend Adenauers Israel-Besuch 1966 kam es m
Jerusalem bei dem offiziellen Essen zu einem bezeichnenden Zwischenfall,
dessen Zeuge ich zufällig wurde. In einer abgelesenen Tischrede würdigte
Ministerpräsident Levi Eschkol Adenauers Wirken in Vergangenheit und
Gegenwart und erklärte dann, dass »es keine Sühne gibt ... Israel wartet
auf weitere Zeichen und Beweise dafür, dass das deutsche Volk die
schreckliche Last der Vergangenheit erkennt und sich einen neuen Weg in
die Völkerfamilie sucht.« Adenauer stellte daraufhin sein Weinglas ab
und erklärte, dass er seinen Besuch abbrechen werde, da Eschkol sein
Lebenswerk geleugnet habe.
Eschkol war perplex Die Tischgäste sahen einander betreten
an. Eschkol verstand nicht, was passiert war. Er versuchte Adenauer zu
besänftigen: »Aber ich habe Sie persönlich gepriesen«, sagte er. Das
machte alles nur noch schlimmer. Adenauer verkündete, er habe
angeordnet, dass sein Flugzeug am nächsten Morgen zum Abflug
bereitstehen solle. Am Ende brach er seinen Besuch doch nicht ab.
Diplomaten beider Länder steckten in einem Nebenzimmer die Kopfe
zusammen und fanden eine Versöhnungsformel. Aber der Vorfall war
bezeichnend. Es war nicht bloß die Unachtsamkeit eines Redenschreibers
oder die Müdigkeit oder Zerstreutheit eines Politikers.
Levi Eschkol war ein einzigartig humaner, moderater und
versöhnlicher Mensch. Er gehörte zu jener frühen, inzwischen legendären
Welle von Pionieren, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Palästina
niedergelassen und den ersten Kibbuz gegründet hatten. Anders als Begin
oder Schamir hatte er den Nationalsozialismus nicht am eigenen Leibe
erfahren. Aber er war repräsentativ für Israelis jeden Alters und jeder
ethnischen Herkunft, für die der Holocaust weit mehr bedeutete als nur
ein persönliches Trauma. Der Holocaust war, neben Nationalismus und
Religion, einer der drei Eckpfeiler kollektiver Identität. Viele der
hier geborenen Israelis identifizierten sich, unabhängig von Alter,
Herkunft oder Bildung, mit den Opfern des Holocaust. Viele nichtjüdische
Israelis, einschließlich Araber und Drusen, teilen in einer Art von
Osmose diese Haltung.
1978, mit dem scharfen Rechtsruck in der israelischen
Politik, wurde die »Erinnerung« innerhalb des nationalen Rituals und des
Erziehungswesens weiter institutionalisiert. An den Schulen war der
Holocaust schon immer Bestandteil des regulären Lehrplans im Fach
Geschichte gewesen. Nun wurde er auch in Staatsbürgerkunde und im
Religionsunterricht behandelt. Regelmäßig sprach man über die »Lehren«
und »Werte« des Holocaust und über seine religiöse »Bedeutung«. Als sich
Osteuropa gegen Mitte der achtziger Jahre für israelische Touristen
öffnete, wurde der Holocaust-Unterricht durch staatlich subventionierte
Gruppenreisen nach Polen ergänzt. Tausende von Oberschülern nahmen,
begleitet von ehemaligen KZ-Häftlingen, die als Reiseführer fungierten,
an diesen Exkursionen teil, den so genannten »Märschen der Lebenden«.
Die Reise begann meist in Warschau, wo der Ort des ehemaligen Ghettos
besichtigt wurde. Von dort ging es weiter nach Treblinka und Auschwitz,
dem Höhepunkt ihrer Reise. Begleitet von einem ehemaligen Insassen
marschierten die Schüler in T-Shirts, auf denen ein großer Davidsstern
und die Aufschrift "Israel" oder "Israel lebt" prangte, durch das
Stammlager, sangen dabei israelische Lieder und schwenkten israelische
Fahnen. In Birkenau hissten sie vor den Verbrennungsöfen ihre Fahnen und
sprachen den Segen für die Soldaten der israelischen Armee. Dann sagten
sie das Kadisch, das traditionelle jüdische Totengebet.
Bei der Rückkehr aus Polen erklärten einige der
jugendlichen Reiseteilnehmer vor der Presse, dass sie auf dem Gelände
des früheren Vernichtungslagers »bessere« Zionisten geworden seien; sie
seien nun überzeugt, dass Israel an jedem Quadratzentimeter der 1967
besetzten Gebiete festhalten müsse; territoriale Kompromisse seien
ausgeschlossen. Auschwitz, so hieß es in einer vom israelischen
Erziehungsministerium eigens für diese Reisen herausgegebenen Broschüre,
verkörpere den unveränderlichen Hass auf Juden, einen Hass, der schon
immer existiert habe und immer existieren werde, solange es Christen und
Juden gebe. An anderer Stelle hieß es:
»Mit bitterem Herzen und Tränen in den Augen stehen wir vor den Feueröfen
der Vernichtungslager und beklagen das schreckliche Ende der
europäischen Juden. Doch während wir noch weinen und klagen, werden
unsere Herzen von Stolz und Freude erfüllt, weil wir das Privileg
besitzen, Bürger des unabhängigen Staates Israel zu sein. Wir antworten
und versprechen aus vollem Herzen: Möge der Staat Israel ewig leben.«
In derselben Broschüre wird, laut Segev, der gegenwärtige
Antisemitismus in Polen verurteilt sowie die Tatsache, dass die
polnische Regierung auch nach dem Ende des Kommunismus noch immer das
Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkennt, als wären das
nicht zwei verschiedene Dinge.
Die Atmosphäre, die auf diesen Reisen herrschte und die sie
ihrerseits erzeugten, ist in den letzten Jahren Gegenstand scharfer
Kritik gewesen. Eröffnet wurde die Debatte vor einigen Jahren von
Professor Yehuda Elkana von der Universität Tel Aviv, der selbst
Auschwitz-Überlebender ist. Elkana veröffentlichte in Haaretz einen
Artikel unter der Überschrift »Die Notwendigkeit des Vergessens«, in dem
er dagegen protestierte, wie die Erinnerung zu politischen Zwecken
instrumentalisiert werde. Er warnte vor den möglichen politischen und
psychischen Auswirkungen:
»Was sollen Kinder mit solchen Erinnerungen anfangen? Der ernste Appell
"Erinnert euch!" kann leicht als Aufforderung zu blindem Hass
interpretiert werden. Es mag sein, dass sich die Weltöffentlichkeit noch
lange erinnern muss ... aber für uns sehe ich keine wichtigere
pädagogische Aufgabe, als für das Leben einzutreten, sich der Gestaltung
der Zukunft in diesem Land zu widmen, statt tagaus, tagein über die
schrecklichen Symbole, quälenden Zeremonien und düsteren Lehren des
Holocaust nachzudenken ... Das Verhältnis der israelischen Gesellschaft
zu den Palästinensern wird politisch und sozial vor allem von einer
tiefen existentiellen Angst geprägt, die sich von einer bestimmten
Interpretation des Holocaust nährt und von dem Glauben, dass die ganze
Welt gegen uns ist, dass wir die ewigen Opfer sind.
In diesem uralten Glauben, der heutzutage von vielen Menschen geteilt
wird, sehe ich den tragischen und paradoxen Sieg Hitlers. Aus der Asche
von Auschwitz sind, bildlich gesprochen, zwei Nationen erstanden: eine
Minderheit, die erklärt, "das darf nie wieder geschehen" und eine
verängstigte und ruhelose Mehrheit, die erklärt, "das darf uns nie
wieder geschehen".
Wenn das die beiden einzigen Lehren sind, dann habe ich persönlich immer
an der ersten festgehalten; die zweite erscheint mir als katastrophal.
Geschichte und kollektive Erinnerung sind untrennbarer Bestandteil jeder
Kultur; aber die Vergangenheit kann nicht und darf nicht das Element
sein, das die Zukunft einer Gesellschaft und das Schicksal eines Volkes
entscheidend bestimmt".
Für diese Auffassung wurde Elkana heftig angegriffen, doch
er war nicht der einzige, der den Israelis in den letzten Jahren
klarzumachen versuchte, dass es, in Anlehnung an Carlyles bekanntes
Wort, weise ist, sich nicht nur zu erinnern, sondern auch zu vergessen.
Mir geht Nietzsches These durch den Sinn, dass wahres Leben ohne
Vergessen unmöglich ist. »Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von
Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden
kommt und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk
oder eine Kultur.«
Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Israel verbracht
und bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass dort, wo es so viele
traumatische Erinnerungen gibt, so viel Schmerz, so viel Erinnerung, die
bewusst oder unbewusst zu politischen Zwecken mobilisiert wird, ein
wenig Vergessen ganz angebracht ist. Das sollte nicht als banaler Aufruf
zum »Vergeben und Vergessen« betrachtet werden. Vergebung hat damit
nichts zu tun. Die Erinnerung ist oft eine Art Rache, paradoxerweise
aber auch die Grundlage für Versöhnung. Meines Erachtens brauchen wir in
Israel ein neues, ausgewogeneres Verhältnis zwischen Erinnerung und
Hoffnung.
So gesehen war der Regierungswechsel in Israel (1993 zur
Regierung Rabin) ein Schritt nach vorn. Das hat nicht nur mit der
Bereitschaft der Regierung zu tun, ein historisches Friedensabkommen mit
den Palästinensern zu schließen, die von offizieller Seite nicht mehr
als moderne Nazis betrachtet werden. Es geht vor allem auch um den
Holocaust.
Schulamit Aloni, Rabins erste Bildungsministerin, argumentierte ähnlich
wie Elkana. Ehe sie auf Druck der Ultrareligiösen von Rabin entlassen
wurde, strich sie die organisierten Schulreisen nach Auschwitz. Sie
vertrat die Ansicht, dass staatliche Schulen nicht die so genannten
»Werte des Holocaust« propagieren dürften. Allein schon bei diesem
Ausdruck, sagte sie, laufe es ihr kalt den Rücken hinunter. Der
Holocaust habe keine Werte. Statt die Wunden heilen zu lassen, rissen
die Israelis sie immer wieder auf. Man sollte das Trauma nicht ewig
»verwalten«, sondern anfangen, es zu kurieren. Wie das politisch
geschehen kann, weiß ich nicht. Die einzige Hoffnung liegt in der
Chance, daß sich Yehuda Elkanas Vision durchsetzt.
Eine verzweifelte Flaschenpost aus Israel:
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hagalil.com
22-04-03 |