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Jüdisches Selbstverständnis

Andrea Reiters Buch „Contemporary Jewish Writing. Austria After Waldheim“ zeigt, wie während der Waldheim-Affäre die jüngere Generation jüdischer Intellektueller einen ehrlichen Umgang Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit forderte und dabei ein neues Selbstverständnis entwickelte…

Von Herbert Voglmayr
Erschienen in: Nu, Jüdisches Magazin für Politik und Kultur 03/2015

Reiter geht davon aus, dass zum Verständnis von Autoren der nationale Kontext ihrer Werke wichtig ist. Bei zeitgenössischen jüdischen Autoren in Österreich sei das vor allem der mit der Neugründung der österreichischen Nation 1945 verbundene „Gründungsmythos“, der Österreich als „Hitlers erstes Opfer“ darstellte und seinen Anteil an der Deportation und Vernichtung der Juden leugnete oder kleinredete. Die Waldheim-Affäre war dann eine Art Wiederkehr des Verdrängten und stellte die Mitwirkung Österreichs an nationalsozialistischen Verbrechen öffentlich zur Diskussion. Kurt Waldheim wurde zum Symbol für diese verdrängte Vergangenheit, weil er während der Präsidentschafts-Kampagne 1986 seine Rolle als Wehrmachtsoffizier am Balkan als bloße „Pflichterfüllung“ darstellte und von Deportationen nichts gewusst haben wollte.

Die Demonstrationen gegen Waldheim wurden vor allem von jüngeren Intellektuellen der Nachkriegsgeneration angeführt, darunter viele Juden, die in der Öffentlichkeit bewusst als solche auftraten und sich damit in Widerspruch zu den Exponenten der Überlebenden-Generation setzten, die von jeglicher Aktion abrieten, um den aufflammenden Antisemitismus nicht anzufachen. Die Jungen waren mit dieser „Gefälligkeitshaltung“ unzufrieden und wollten nicht mehr auf die Opferrolle reduziert werden, wollten vielmehr den Reichtum jüdischen Kulturerbes zelebrieren, um sich so aus der traumatischen Umklammerung durch die Shoa zu lösen. In diesem Zusammenhang nennt Reiter unter anderem auch die Zeitschrift „nu“, die seit ihrer Gründung im Jahr 2000 „zu einer wichtigen jüdischen Stimme in Österreichs Qualitätsjournalismus wurde“.

Jüdische Kultur in Mitteleuropa

Neben traditionellen Publikationsformen analysiert Reiter auch Filme und elektronische Medien und beschreibt das Sichtbarwerden jüdischer Kultur im öffentlichen Diskurs, und zwar in einer prononciert jüdischen Art wie nie zuvor, nicht einmal während der Ära des fin de siècle um 1900. Diese Entwicklung, hierzulande 1986 durch die Waldheim-Affäre ausgelöst, sehen andere Autoren im deutschen Kontext als Folge der Wiedervereinigung drei Jahre später, die ebenfalls zu einer stärkeren Präsenz jüdischer Autoren in der Öffentlichkeit führte. In beiden Ländern koinzidiert das mit einem Generationenwechsel und hat zu einer Diskussion um jüdische Kultur in Mitteleuropa geführt, die auch die Frage stellt, was als jüdisch zu gelten hat: die traditionell-halachische Definition, die auf Abstammung bzw. orthodoxer Konversion basiert, oder eine universalistischere Sicht, die auch andere Faktoren wie Sozialisation und kulturelle Werte einbezieht und z.B. im Selbstverständnis der Schriftstellerin Esther Dischereit zum Ausdruck kommt: „Ich habe weder einen zionistischen Begriff vom Jüdischen noch einen von Rasse und auch keinen tief religiösen. Aber ich denke doch, dass es durch die Vermengung von Kultur, Sozialisation, Religion und Shoa hindurch eine Art gibt, die Welt zu betrachten, eine ganz bestimmte Art, aufmerksam zu sein, die ich mir selbst nicht ausgesucht habe. Es ist die fortgesetzte Anwesenheit von – beinahe hätte ich gesagt: jüdischen Frakturen.“

Andrea Reiter ist Professorin für deutsche Literatur des 20. Jhts. an der Universität Southampton. Ihre Forschungsschwerpunkte sind österreichische Nachkriegsliteratur, Bewegungen der Antimoderne in Österreich, Literatur der Shoa und des Exils sowie jüdische Nachkriegsliteratur in Österreich und Deutschland.

Andrea Reiter, Contemporary Jewish Writing: Austria After Waldheim (Routledge Studies in Religion), 2013.