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Israel aus deutsch-evangelischer Sicht

Ein ungewöhnliches Länderportrait…

Wenn man bei Amazon nach einem Reiseführer über Israel sucht, werden über 30 solche Guides angeboten. Wozu also noch ein weiteres Buch über dieses spannende, aber für viele Zeitgenossen immer noch exotische Land, das in den täglichen Nachrichten ein Dauerthema ist? Eigentlich ist doch alles schon gesagt? Aber eben noch nicht von Ruth Kinet, die als Tochter des evangelischen Theologen und langjährigen Reiseleiters von „Biblische Reisen“ Dr. Dirk Kinet schon als Kind „hebräische Psalme rezitierte“ und mit „zionistischen Hymnen“ beschallt wurde.

Das scheint nicht ohne Folgen geblieben zu sein. Dennoch nimmt die Autorin „als Deutsche belgischer Herkunft“ für sich in Anspruch, den Israelis „unbelasteter und freier“ zu begegnen, als es „Deutschen deutscher Herkunft“ gelingt. Mit „empathischen Blick“ beklagt sie, dem bundesrepublikanischen Mainstream folgend, dass „Israel sich immer weiter von der Weltgemeinschaft entfernt“ und sich „der Graben des Unverständnisses zwischen Israel und seinen Nachbarn und Verbündeten“ zusehends vertiefe.

Mehrfach versucht Ruth Kinet in ihren Betrachtungen eine angebliche Friedensunfähigkeit des jüdischen Staates aufzuzeigen. Als Beweis führt sie etwa an, dass immer häufiger bei der Verteidigung des Landes Israel von „Erez Israel“ gesprochen werde. Dies sei völkerrechtlich jedoch bedenklich, denn richtig müsse vom „Medinat Israel“ gesprochen werden, also nicht vom Land (Erez) sondern vom Staat (Medinat). Wer sich nicht an diese Sprachregelung halte, stehe wenigstens im Verdacht, ein Anhänger des großisraelischen Traums zu sein, der das Gebiet vom Suez-Kanal bis zur Ostgrenze Jordaniens umfasst. Auch Jitzchak Rabin wird mehr oder weniger unterstellt, dass er zumindest mit solchen Gedanken spielte, als er sagte: „Wir wollen Grenzen haben, die wir verteidigen können“. Wobei die Autorin nicht umhinkommt hinzuzufügen, dass Rabin „keine imperialistische Emphase anzumerken“ sei. Völlig aus dem Ruder läuft ihre Kritik an der vorgeblich mangelnden Rechtstaatlichkeit Israels. „Bis zum heutigen Tag hat Israel keine Verfassung.“ Damit würde das gesamte „politische System in Israel geschwächt“, so Ruth Kinet. Die Voraussetzungen „für rechtliche Ungleichheiten und Rechtsunsicherheit“ sei damit geschaffen. Mit Verlaub: Großbritannien, einer der ältesten und angesehenen Demokratien der Welt lebt ohne eine geschriebene Verfassung!

Doch es sind nicht nur diese bekannten Versatzstücke der als „Israelkritik“ bezeichneten Belehrungen, die dem Rezensenten sauer aufstoßen. Die Darlegungen im Kapitel über Erziehung in Kindergarten und Schule, die Ruth Kinet als zionistischen brainwash geißelt, lösen ebenfalls Irritationen aus. Unwidersprochen kann auch die aus christlicher Überzeugung genährte Position des Schutzes des ungeborenen Lebens nicht bleiben. Scheinbar sachlich berichtet die Autorin, dass in Israel „an Embryonen geforscht“ und somit die „Schöpfung nicht als perfekt, sondern als verbesserungswürdig“ betrachtet werde. „Ärzte bestimmen, was eine Schwangere isst, welchen Sport sie machen darf und welche Untersuchungen sie über sich ergehen lassen muss.“ Denn wenn eine „jüdische Israelin schwanger wird, ist das noch kein Anlass zu feiern“, klagt die Mutter zweier Kinder. Auch der ethische Grundsatz, dass „das Leben und die Gesundheit der Mutter während der gesamten Schwangerschaft und noch während der Geburt Vorrang vor dem ungeborenen Leben“ habe, bereitet der Autorin offensichtlich Bauchschmerzen.

Doch – oder deswegen? – ist ihr Buch äußerst erfolgreich: Kinets nicht nur für das alternative, christlich-friedensbewegte Publikum zurechtgeschnitztes Länderportrait erschien erstmals im Herbst 2013 und geht nun in die 3. Auflage. Freilich ist der Band nicht nur eine als neutrale Länderkunde getarnte Abrechnung mit dem Zionismus. Ruth Kinet lebte fünf Jahre in Tel Aviv und ist tief in die israelische Gesellschaft eingetaucht. Sie lobte die „dynamische und innovationsbegeisterte Gesellschaft mit den flachen Hierarchien“ und bewundert die bunten Familienmodelle und Lebensentwürfe, die so „vielgestaltig sind wie wohl nirgends sonst auf der Welt“. Die Autorin nimmt den Leser mit in den israelischen Alltag und ermöglicht Einblicke in die Lebenswelt und das Lebensgefühl der Israelis, heißt es im Klappentext. Das tut sie wirklich, teilweise scharfsinnig, spannend und mit guter Beobachtungsgabe. Wenn nicht diese ideologischen Aussetzer wären. Kinet vergisst leider sehr oft, dass sich Israel seit der Staatsgründung gegen seine Auslöschung durch die arabischen Nachbarn zur Wehr setzen muss. „Wir müssen stark bleiben und über eine mächtige Armee verfügen“, schrieb der erste Ministerpräsident David Ben Gurion. „Unsere ganze Politik besteht darin. Sonst werden uns die Araber vernichten.“ Aufgrund dieser fatalen Tatsache tickt die israelische Gesellschaft und Politik eben auch anders und ist nicht mit dem unbeschwerten und sicheren Leben des Gutmenschens in Mitteleuropa vergleichbar. Gleichwohl ist das Buch als Lektüre für einen bevorstehenden Israelurlaub geeignet. Bringt es doch sehr viel Informationen, Denkanstöße und trägt – en passant – dazu bei, den Kreislauf anzuregen. Ein Buch nicht nur für die Pilger des Touristikunternehmens „Biblische Reisen“, die es wärmstens empfehlen. (lf)

Der Rezensent lebt in Süddeutschland. Seine wissenschaftliche Arbeit und seine Neugier führen ihn seit rund 30 Jahren regelmäßig nach Israel.

Ruth Kinet, Israel. Ein Länderportrait, Berlin 2015, Ch. Links Verlag (3. Auflage), 16,90 €, erscheint im Juni. Derzeit ist die Kindle Version für 9.99 Euro erhältlich, Bestellen?