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Ari heißt Löwe

Ari Raths Erinnerungen…

Von Roland Kaufhold

„Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die Zukunft Israels von einem dauerhaften und gerechten Frieden mit den Palästinensern abhängt. (…) Leider scheint mir aber der Frieden heute so fern wie nie. (…) Der zunehmende Einfluss der religiösen Siedlerbewegung auf das Militär und der Rechtsruck der israelischen Gesellschaft bereiten mir große Sorge. Die Aussichten sind düster, doch möchte ich am Abend meines Lebens die Hoffnung nicht aufgeben, den Aufbruch in eine friedliche Zukunft noch zu erleben.“
Ari Rath (2012, S. 10)

„Für meine Mutter Laura, die ich nicht kannte.“ Diese Widmung steht am Anfang dieser spannenden, informativen Lebenserinnerungen. Ari Rath, 1925 in Wien geborener und dort aufgewachsener österreichischer Jude, hat sie im hohen Alter vorgelegt, mit Unterstützung von Stefanie Oswalt. Er emigrierte als Jugendlicher in das damalige Palästina, ohne seine Eltern.

Ari Rath ist heute in Wien ein beliebter Interviewgast. Er arbeitete in Israel als Journalist, war politisch engagiert im Umfeld der Arbeiterpartei und der israelischen Friedensbewegung, hatte so vielfältige Kontakte zu prominenten Israelis, aber auch nach Österreich. Vor acht Jahren machte er dann etwas, was der vertriebene Jude selbst für absolut ausgeschlossen gehalten hatte: Er, der lange kaum Deutsch gesprochen hatte,  nahm neben der israelischen auch wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an. Dies hätte er früher wirklich für unmöglich gehalten. Ein schwieriger Entschluss. Und doch freut er sich hierüber. In seinem mit „Die Kreise schließen sich“ betitelten Prolog erinnert sich Ari Rath:

„Gerade rechtzeitig gelang es mir, gemeinsam mit meinem drei Jahre älteren Bruder (…) nach Palästina, in das Land Israel, auszuwandern. Mit erheblichen Mühen und starken seelischen Kräften habe ich mir dort ein neues Leben aufgebaut. (…) 73 Jahre lang habe ich Österreich höchstens für kurze Zeit besucht. (…) Wien (…) war immer mit mir und in mir, obwohl ich nach den fürchterlichen Erlebnissen von 1938 viele Jahre die Verbindung mit der Stadt meiner Geburt und meine Muttersprache Deutsch verdrängt habe. Bis heute spreche ich mit meinem Bruder Hebräisch. Nach unserer Ankunft in Palästina haben wir uns das feierlich versprochen, obwohl unsere Sprachkenntnisse damals noch sehr rudimentär waren. Keine meiner Nichten und ihrer Nachkommen hat übrigens Deutsch gelernt.“ (S. 7f.)

Einige Lebensstationen: Ari wächst im zentral gelegenen 8. und 9. Wiener Bezirk auf, seine Eltern – sie hatten anfangs einen polnischen Pass –  besitzen eine Papiergroßhandelsfirma, in der er als Kind häufig spielt. Seine Mutter stirbt, als er vier Jahre alt ist. Ein Trauma. Er hat keine Erinnerungen an sie behalten. Das Wort „Mamma“ vermag er danach nicht mehr zu sagen. Der Schmerz über den frühen Verlust, den Mangel,  ist ihm geblieben, bis heute.

Ari wächst in einer „typisch modernen jüdischen Familie“ (S. 16) auf, jüdische Zeremonien und Feste bilden einen Teil seiner Identität. Bereits als Kind interessiert er sich für Politik, liest mit acht Jahren Tageszeitungen, die gewalttätigen Zeitereignisse prägen seine Kindheit: „Bis heute steht mir die Zeitungsschlagzeile vom Januar 1933 vor Augen: „Adolf Hitler – deutscher Reichskanzler.“ (S. 22) Ari ist da gerade acht Jahre alt geworden. 1934 wechselt er zum Wasagymnasium, kommt dort wegen „der antisemitischen Schulpolitik Österreichs“ (S. 23) in eine „Judenklasse. 1935 emigrieren die ersten Verwandten nach Palästina – bleibende Abschiedsszenen. 1937 hat er seine Bar Mizwa, 1938 verteilt er bereits für die „Vaterländische Front“ Flugblätter vor seiner Schule, gegen den „Anschluss“. Kurz darauf wird sein Vater verhaftet, wird ins KZ Dachau verschleppt. Der 13-jährige Ari hört Auslandsnachrichten, um die politische Situation besser zu verstehen. Intuitiv spürt er, dass die zionistische Bewegung bedeutsam für ihn ist, ihm Rettung zu bieten vermag: „Instinktiv wollten wir nur in ein Land auswandern, von wo wir nie wieder vertrieben werden würden“ (S. 36) – ins ferne Palästina.

Sein Bruder gelangt an einen Ausweis des Jüdischen Nationalfonds Keren Kayemet. Am 1. November 1938 emigrieren die beiden Brüder mit einem Kindertransport über Triest nach Palästina, ohne ihren Vater. „Jedenfalls zählt ich zu den fünfzig Glücklichen, die wenig später ausreisen durften.“ (S. 40)

In Israel muss er gleich Verantwortung übernehmen, ist hierzu aber auch fähig. Er ist voller Optimismus. Endlich: Freiheit. Freiheit von Angst, von Beleidigungen. Er nimmt einen hebräischen Namen an, Aron, lebt zuerst drei Jahre lang im Ahawah-Jugendheim. Ahawah heißt auf Deutsch Liebe. Die Einrichtung orientiert sich an linkszionistischen Überzeugungen, bleibende Prägungen für den jungen Ari. 1941  gründet der 16-Jährige gemeinsam mit Freunden den in Nordisrael gelegenen Kibbuz Hamadia, lebt dort 16 Jahre. Eine spannende, prägende Zeit. Er knüpft vielfältige soziale Kontakte, kennt zahlreiche Zionisten. Viele von ihnen werden später hohe Positionen in Israel übernehmen.

Der junge Ari übernimmt rasch politische Funktionen im Umfeld der späteren Arbeiterpartei, arbeitet für David Ben-Gurion. Einer seiner engen politischen Weggefährten ist der junge Shimon Peres; ein weiterer Freund ist Teddy Kollek, der spätere berühmte Bürgermeister Jerusalems. Die beiden ehemaligen Wiener bleiben lebenslang enge Freunde – bis zu Kolleks Tod im Jahr 2007. Ari Rath engagiert sich im Kampf gegen die britische Mandatsregierung, erlebt 1948 den Unabhängigkeitstag: „Pazifistische Gedanken spielten für mich damals keine Rolle: Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als in einem eigenen jüdischen Staat leben zu können, und hoffte nur, dass eine friedliche Teilung des Landes zwischen Arabern und Juden möglich sein würde.“ (S. 77) 1947 gelangt er nach Amerika, arbeitet dort als Funktionär und Außenvertreter der zionistischen Jugendbewegung – obwohl er anfangs noch kein Englisch spricht! Dies muss sich der Autodidakt erst beibringen. In Amerika trifft er seine Familie wieder.

Ari Rath entdeckt seine Fähigkeit zum Schreiben. 1958 wird er Redakteur der Jerusalem Post, 31 Jahre sollte er dort bleiben, zuletzt 14 Jahre lang als Chefredakteur – bis zu seinem schmerzhaften Rauswurf durch einen neuen Eigentümer. Wir finden im Buch zahlreiche Erinnerungen an seine journalistischen Storys, lehrreich zum Verständnis der Geschichte Israels. Er genießt die offene Diskussionskultur innerhalb der Redaktion, die Reisen als Auslandskorrespondent, die internationalen Begegnungen.

Immer mal wieder kehrte er zu Besuchen nach Wien zurück, erlebte dort antisemitische Reaktionen. Ein Gespräch mit Wienern gibt er so wieder: „…Gleich versuchten sie, alles zu relativieren. Gegen Juden im Allgemeinen hätten sie gar nichts, aber es gebe immer einige, die auf ihren Vorteil bedacht seien … Kurz, es war widerlich.“ (S. 107)  Und er erlebte Fremdheit, nichts in Wien erinnerte ihn mehr an seine Kindheit: „Wasagymnasium, Liechtensteinstraße, Porzellangasse. Wien war für mich zur Geisterstadt geworden. Keines der jüdischen Geschäfte existierte mehr, ich las neue, fremde Namen und fühlte mich, als würde ich über einen Friedhof gehen.“ (S. 107) Die Fremdheit, Kälte blieb lange.

Seine tiefe Bewunderung gilt dem Staatsgründer Ben-Gurion, und er hat das Glück, 1965 bis 1966 als dessen persönlicher Sekretär zu arbeiten. „Schon als Jugendlicher begeisterten mich Ben-Gurions glühende Reden bei Parteisitzungen und öffentlichen Kundgebungen. Später begleitete ich ihn als Mitglied des Pressekorps bei internationalen Staatsbesuchen.“ (S. 169)

Lesenswert sind die Beschreibungen seiner Zusammenarbeit mit arabischen Freunden, die sich für eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen. Anwar Nusseibeh bewundert er für deren Mut und Durchsetzungsvermögen. Mahmoud Abu Salef, Chefredakteur des Zeitung Al-Quds, und Elias Frej werden geschätzte Gesprächspartner.

Ari Rath unterstützt die israelische Friedensbewegung nachdrücklich, bis heute – trotz aller schweren Rückschläge. Er sieht keine Alternative zu einem Kompromiss, der von beiden Seiten weitgehende Zugeständnisse einfordert. Die Siedlungsbewegung kritisiert er sehr scharf als „verhängnisvoll“ (S. 212), als gefährlich für die Existenz und demokratische Kultur Israels. Seine Beschreibungen sind nachvollziehbar, gelegentlich fehlt ihnen aufgrund des journalistischen Charakters des Buches jedoch etwas Tiefenschärfe.

Der abschließende „Epilog. Zwischen Jerusalem und Wien“ ist persönlich und dicht gehalten, ein Vermächtnis. Die Ermordung Yitzhak Rabins war ein fürchterlicher Schock, von dem sich der Friedensprozess bis heute nicht erholt hat: „Beinahe beschämt erinnere ich mich an den zweiten Friedensgipfel in Camp David im Jahr 2000, als Arafat von der israelischen Delegation völlig respektlos behandelt wurde; Ministerpräsident Ehud Barak machte mit seiner unvergleichlichen Arroganz das bis dahin Erreichte zunichte.“ (S. 315). Auch der Genfer Initiative gelingt kein Durchbruch der verfahrenen Situation. Als eine der wenigen Hoffnungsperspektiven beschreibt er die israelisch-palästinensische Internetzeitung Partners for Peace.1

Heute ist er tief pessimistisch – eine für mich leicht nachvollziehbare Einstellung:

„Mein Leben lang habe ich mit Optimismus in die Zukunft geblickt, und trotz aller Hindernisse schien mir die Zukunft des Staates Israel sicher. Heute bin ich pessimistischer denn je. Mit der gegenwärtigen Regierung Israels ist der Frieden in weite Ferne gerückt. Die Entfremdung der arabischen Staaten gegenüber Israel nimmt (…) weiterhin zu, wobei die Entwicklungen durch den Arabischen Frühling noch nicht abzusehen sind. Noch nie hatten in Israel nationalistische und orthodox-religiöse Parteien so viel Macht.“ (S. 319)

Und er fügt hinzu: „So sehr es mich schmerzt, dies niederzuschreiben: In der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft fällt es mir zunehmend schwer, mich zu Hause zu fühlen.“

Diese pessimistischen Erfahrungen beförderten seine Wiederannäherung an seine ehemalige Heimat Wien, in der er zunehmend öfter verweilt. 2005 nimmt er die österreichische Staatsbürgerschaft wieder an. Zeitgleich macht er sich in Galizien und der Bukowina auf Spurensuche nach seiner Familie – um hierbei in der heutigen Ukraine erneut Hakenkreuzen und antisemitischen Hetzparolen zu begegnen.

Sein leicht lesbares journalistisches Erinnerungswerk lässt der heute 83-Jährige so ausklingen: „Ich habe vieles erlebt, was ich zuvor für unmöglich hielt. Mein sehnlicher Wunsch ist es, den Aufbruch zum Frieden in meiner Heimat noch zu sehen.“ (S. 327)

Ari Rath: Ari heißt Löwe. Erinnerungen. Aufgezeichnet von Stefanie Oswalt, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012, 327 S., 24,90 Euro, Bestellen?

  1. http://www.enpi-info.eu/mainmed.php?id=11&id_type=10 []