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Versuchsfeld für die Endlösung

Die deutsche Besatzung und der Massenmord in Litauen 1941–44…

Als die Deutschen im Juni 1941 in Litauen einfielen, waren auf dessen Territorium über 200.000 Juden ansässig. Davon lebten am Ende des Jahres noch etwa 40.000 – innerhalb von nur sechs Monaten wurde ein Großteil der jüdischen Bevölkerung erbarmungslos abgeschlachtet. Aufgrund dieser exzesshaften und einzigartigen Mordrate gilt Litauen als das Testgebiet des NS-Massenmordes und stellt somit einen maßgeblichen Schritt auf dem Weg zur „Endlösung der Judenfrage“ dar.

Infolge des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion fiel Litauen nach dem Beginn des 2. Weltkrieges in den Machtbereich Stalins. Als Reaktion auf den Verlust der Unabhängigkeit gründete sich bald eine extrem nationalistisch ausgerichtete litauische Untergrundbewegung, die im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer keinen Hehl aus ihrer Sympathie mit dem NS-Regime machte. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion erhoben sich die nationalistischen Kräfte in Litauen und ermordeten zunächst in Kowno, aber auch an anderen Orten, tausende von Juden. Die Nationalsozialisten sahen in diesen Mörderbanden eine willkommene Hilfstruppe, die auf Anweisung von Reinhard Heydrich als „Selbstreinigungs-Maßnahmen antikommunistischer und antijüdischer Kreise“ nicht zu behindern, sondern „zu verstärken und wo nötig in die richtigen Bahnen zu lenken“ seien.

Der deutsche Historiker Christoph Dieckmann hat nun eine zweibändige Monografie über die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Litauen 1941 bis 1944 vorgelegt. Auf über 1.600 Seiten dokumentiert er detailliert die deutschen Verbrechen in Litauen aus der Perspektive der Besatzer, der Bevölkerung und der Opfer. In Litauen verloren neben den über 200.000 Juden eine etwa gleiche Anzahl von Nichtjuden – sowjetische Kriegsgefangene und zwangsevakuierte Zivilisten  – während der NS-Herrschaft ihr Leben. Zweifelsohne waren Himmlers Truppen dabei die treibende und verantwortliche Kraft, möglich wurde der Massenmord aber auch durch die ungeheuere Kooperationsbereischaft großer Teile der litauischen Gesellschaft. Christoph Dieckmann beschreibt diesen Prozesse auf der Basis deutscher, litauischer sowie jüdischer Quellen und analysiert die deutsche Besatzungspolitik und ihre unfassbaren Verbrechen.

Im Mittelpunkt seiner komplexen Darstellung behandelt Dickmann – vor allem im zweiten Band – ausführlich die jüdische Opfersicht. Neben den zahlreichen Massenmorden, wie sie etwa an der Exekutionsstätte in Ponary stattfanden, beschreibt der Autor auch einzelne Morde, bei denen die Täter keinerlei Tötungshemmungen zeigten. Das vom deutschen Sicherheitsdienst (SD) erlassene Verbot, jüdische Kinder zu gebären, gehört dabei zu den besonders beklemmenden Beispielen in seinem Buch. In einer internen Empfehlung des SD wurde angeregt, zunächst alle männlichen Juden über 14 Jahre zwangszusterilisieren, um „eine Vermehrung der Juden auf litauischem Gebiet zu verhindern“. Dies sollte perfiderweise durch die wenigen am Leben gebliebenen jüdischen Ärzte durchgeführt werden. Zudem erging im Sommer 1942 ein striktes Schwangerschaftsverbot für jüdische Frauen. Wer dagegen verstieß, musste mit der sofortigen Liquidierung rechnen. Zudem waren die „Judenräte“ gezwungen, eine Anordnung zu erlassen, dass alle Schwangerschaften abzubrechen seien. Babys, die trotz des Verbotes geboren werden, seien umzubringen – ohne Ausnahme, wie nachfolgendes Beispiel zeigt: Eine hochschwangere Frau wurde erschossen, das noch lebende Kind im Ghettokrankenhaus per Kaiserschnitt zur Welt gebracht, um anschließend durch einen deutschen Polizisten getötet zu werden.


Kinder im Ghetto Kowno, Repro: Wallstein Verlag/ushmm

Dieckmann bezieht in seiner quellengesättigten Darstellung das bisher weitgehend unbekannte Geschehen in der litauischen Provinz und den zahlreichen Ghettos und Arbeitslagern ein. Er rekonstruiert aber auch das Schicksal anderer Opfergruppen anhand deutscher und sowjetischer Quellen. Ein eigenes Kapitel ist der Geschichte der vielfältigen Widerstandsgruppen von Juden, Litauern, Polen und sowjetischen Partisanen gewidmet.

Mit der Auswertung einer nahezu unüberschaubaren Menge von Quellenmaterial spannt Dieckmann eine neue Richtschnur in der historischen Forschung, überschreitet aber gleichzeitig hinsichtlich des Umfanges das Maß einer wissenschaftlichen Publikation. Es besteht die Gefahr, dass der „Normalleser“ durch die Faktenfülle überfordert wird und den Überblick verliert. Auch sind die beschriebenen Grausamkeiten von kaum vorstellbarer Dimension, die geschilderte Abwesenheit jeglicher humanen Regung der Täter, oft kaum zu ertragen. Dennoch ist „Deutsche Besatzungspolitik in Litauen“ natürlich ein wichtiges Buch, das durch seine breite Quellenbasis, seine gründlichen und kritischen Recherchen sowie die klugen Analysen klar überzeugt. Die Monografie hat schon jetzt die Qualität eines Standardwerkes und sollte in keiner Bibliothek fehlen. – (jgt)

Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, 2 Bände, 1.652 Seiten, 79,- €, Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0929-6, Bestellen?