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Das Wunder des Überlebens – ein Junge in den Zeiten der Finsternis

Aharon Appelfeld ist einer der Grossen der jungen israelischen Literatur. Sein Name wird verschiedentlich im Zusammenhang mit dem Literaturnobelpreis genannt. Appelfeld, der früher an der Universität von Beersheba hebräische Literatur lehrte, hat eine Vielzahl von ausgezeichneten Romanen vorgelegt, die alle um das Überleben der Shoah kreisen. In einer direkten, liebevollen, dennoch unsentimentalen Weise hat er immer wieder über Kinder geschrieben, die die Shoah überlebt haben. Dies ist zugleich auch sein eigenes Leben…

Von Roland Kaufhold

Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz als Kind jüdischer Eltern geboren und ist dort auch aufgewachsen. Für den Jungen endet die Kindheit abrupt und verstörend: Achtjährig erlebt er die Ermordung seiner Mutter durch die Deutschen und Rumänen, hört ihre Schreie. Er überlebt, von seinem Vater getrennt, den er auch nicht mehr wiedersehen sollte, das Ghetto und den Todesmarsch, schlägt sich ab 1943 alleine in den ukrainischen Wäldern durch, lebt bei einer Prostituierten. Aharon Appelfeld versteht sehr früh, dass er seine jüdische Herkunft verbergen muss. Die Phantasie eines Wiedersehens mit seiner Mutter — deren Ermordung er erlebt hatte, was er jedoch zugleich verleugnen musste, um den Lebenswillen nicht zu verlieren – verleiht ihm die Kraft, den Überlebenskampf niemals aufzugeben: "Ich sagte mir, dass ich stark sein musste, sodass sie mich hier finden kann. Es war, als ob ich ihr versprochen hätte, dass ich durchhalten würde", erinnert sich Appelfeld 2002 in einem Interview mit der israelischen Journalistin Diora Eilon.

1944 findet er Zuflucht bei russischen Soldaten und arbeitet als Küchengehilfe bei ihnen. Ein Jahr nach Ende des Krieges gelingt ihm die Einreise nach Palästina. Israel wurde für den Überlebenden seine neue Heimat. In besagtem Interview erinnert er sich: "Ich möchte unter Juden leben, denn ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Ich bin wegen Studien ausser Lande gewesen, meine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden, und ich reise viel. Aber ich lehne es ab, an einem Ort zu leben, wo kein Hebräisch auf den Strassen und in den Schulen gesprochen wird. Es freut mich, dass meine Nachbarn Juden sind, dass es in den Läden jüdische Verkäufer gibt, und dass ich mich wegen der unmittelbaren Nachbarn keine Sorgen machen muss."

Und: "Ich kam hierher ohne Kinder, ohne eine lebende Seele, ohne eine Sprache oder eine Kultur. Und das Land hat mir soviel gegeben, dass ich den Tag bereuen würde, an dem ich fühle, dass mein Haus mein Feind ist, dass ich davon weglaufen muss."

Diese schrecklichen Themen des Überlebens und Sterbens finden sich alle in dieser schönen, stillen, nüchternen, mit "Blumen der Finsternis" betitelten Erzählung. Appelfeld erzählt die Geschichte eines jüdischen Jungen, Hugo Mansfeld, der im Alter von elf Jahren von seinen Eltern versteckt wird, um die Zeit der Verfolgung zu überleben. Gleich mit den ersten Worten werden wir in die Welt eines Kindes hineingezogen, welches im jüdischen Ghetto lebt:
"Morgen sollte Hugo elf Jahre alt werden, und zu seinem Geburtstag würden Anna und Otto kommen. Die meisten von seinen Freunden waren schon in ferne Dörfer geschickt worden, und die wenigen, die geblieben waren, würde man wohl auch bald wegschicken. Die Anspannung im Ghetto war gross, aber niemand weinte. Die Kinder errieten insgeheim, was ihnen bevorstand." (S. 7)

Viele Eltern versuchten ihre Gefühle zu verbergen, um ihre Kinder zu schützen. Das ganze Buch hindurch verbleiben wir in der Kinderwelt, und dennoch bricht die brutale, mörderische deutsche Aussenwelt immer wieder in sein Leben ein. Seine Eltern müssen sich von Hugo trennen, sie geben ihn zu einer Bekannten, die als Prostituierte in einem Dorf lebt. Wohl mehrere Jahre lang wohnt Hugo mit Mariana zusammen, muss sich sprach- und weitgehend bewegungslos in einer Kammer verstecken, wenn diese ihre Kunden empfängt. Und doch liest er viel, schreibt Tagebuch, um weiter zu leben, zu verstehen, die innere Bindung zu den Eltern aufrecht zu halten: "Ich bin von vielen Geheimnissen umgeben, jedes einzelne muss ich aufschreiben. Mit dieser Erkenntnis kam ihm die dunkle Abstellkammer plötzlich heller vor, und er wusste, dass seine Mutter, die ihn durch die Kanalisation getragen und sein Leben gerettet hatte, ihm auch diesmal zu Hilfe gekommen war." (S. 70)

Mariana entwickelt inmitten ihres Überlebenskampfes eine Beziehung zu ihm — und er zu ihr -, in welcher er ein Kind ist und doch zugleich in die verwirrend-überfordernde Rolle eines Geliebten hineingezogen wird.

Hugo lernt, sich zu verbergen, still zu sein, zu schweigen. Sein Überleben hängt hiervon ab. Und doch vergisst er seine Eltern nicht, behält innerlich eine Beziehung zu ihnen aufrecht, denkt an die Geschichten aus der Bibel, welche ihm seine Mutter in seinen letzten Monaten vorgelesen hatte. Und er erinnert sich an ihre mahnenden Worte: "`Du musst dich jetzt benehmen wie ein Grosser´, sagte sie mit dieser anderen Stimme." (S. 20)

Hugo erlebt die zunehmende Trunkenheit von Mariana, ihre Stimmungsschwankungen, Gewaltexzesse, ihre Verführungskünste auch gegenüber deutschen Soldaten. Er versucht, diese verwirrende neue Welt zu verstehen: "Hugo legte den Kopf auf die Felle und sagte sich, hier passieren seltsame Dinge, die ich nicht verstehe. Er schloss die Augen, und wieder tauchte Onkel Sigmund vor ihm auf. (…) Schon damals hatte er sich gesagt: Alles, was ich sehe, will ich in meinem Herzen bewahren. Der Gedanke, dass das Leben endlich war und die Toten nie mehr zurückkamen, hatte ihn schon damals bedrückt." (S. 54f)

Das Leben bei Mariana bleibt bedrohlich, die Gefahr, von den Deutschen entdeckt, ermordet zu werden, ist ihm gegenwärtig. Und doch gibt es Hoffnung, verschiedentlich. Er entdeckt in einem Buch einen Abschiedsbrief seiner Mutter, in welchem sie ihm erklärt, warum sie ihn abgeben, ihn bei einer Prostituierten verstecken musste. Sie beschwört ihn, niemals die Hoffnung auf das Überleben aufzugeben. Hugo formuliert einen Antwortbrief an seine geliebten Eltern, welcher ihm neue Kräfte verleiht: "`Ihr habt mir den Glauben an das Leben beigebracht. Ich bin so froh darüber, dass Ihr meine Eltern seid, ich möchte manchmal die Tür des Verstecks aufbrechen und zu Euch flüchten. In Liebe, Hugo.´" (S. 120)

Das letzte Drittel des Buches erzählt von der Phase der Hoffnung, gegen Ende des Krieges: "Der Winter kam vor der Zeit. Hartnäckige Gerüchte besagten, die deutsche Armee habe mit dem Rückzug begonnen" (S. 196), so wird das 42. Kapitel eingeleitet. Ein Wachmann flieht, Mariana offenbart ihren 16 Kolleginnen ihren jugendlichen Mitbewohner. Gemeinsam feiert man, trinkt in grossen Mengen. Nun findet man die Kraft, über das neue Leben "danach" nachzudenken. Erneut meldet sich in Hugo der Wunsch, das Erlebte aufzuschreiben, "damit ich immer daran denke, was ich gesehen und gehört habe. Meine Mutter wird es lesen." (S. 212)

Die Liebe zu seiner Beschützerin, der Prostituierten Mariana, bricht durch: "Die Nächte waren ein ununterbrochenes Vergnügen. Er trank die Reste des Kognaks von ihren Lippen, umschlungen von ihren Beinen, und hörte nur ihr zärtliches Flüstern." (S. 219) Die russische Armee kommt auch in ihr Dorf, gemeinsam brechen sie auf, voller Angst und doch voller vager Hoffnung, das Überleben ist weiterhin höchst ungewiss.

Das Leben ist brutal. Mariana und einige weitere Mädchen werden von Soldaten festgenommen, wegen ihrer Kontakte mit deutschen Soldaten erschossen. Nun, allein in der Welt, ohne Beziehungen, besucht Hugo noch einmal die Stadt seiner ausgelöschten Kindheit. Die neuen Bewohner seines Elternhauses lassen ihn nicht einmal eintreten. Nun begreift er endgültig: "Was einmal war, würde nicht mehr zurückkehren." (S. 308) Er muss weggehen. Und sich eine neue Heimat suchen.

Für den Autor, Aharon Appelfeld, wurde diese neue Heimat Israel.

Aharon Appelfeld: Blumen der Finsternis. Roman.
Berlin 2008 (Rowohlt Verlag), 316 Seiten, 19,90 ‚¬
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Diese Rezension erscheint in einer gekürzten Version im vom Fritz Bauer Institut herausgegebenen Newsletter zur Erforschung des Holocaust, Nr. 34, Frühjahr 2009. Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main.