Yasmina
Khadras kriminalistische Tragödie:
Die Attentäterin
Amin Jaafari ist ein hoch angesehener Arzt – und ein
arabischer Israeli. Umso rascher gerät er ins Visier der Ermittlungen,
als die Polizei die Identität der Selbstmordattentäterin
herausfindet, die ein Restaurant in Tel Aviv
in die Luft sprengte.
Jaafari kann es selbst nicht fassen,
dass er vom tödlichen Plan seiner doch so weltlich denkenden
Frau Sihem, mit der er fünfzehn Jahre lang glücklich
verheiratet war, nichts gewusst hat. Nachdem die Polizei
ihn gehen lässt, will Jaafari herausfinden, was in den letzten
Tagen von Sihems Leben passiert ist.
Er reist nach
Bethlehem und Dschenin, in die Zentren des palästinensischen
Widerstands. Dort lösen seine Nachforschungen
Unruhe aus: Er wird bedroht, verprügelt und als Verräter
beschimpft. Doch unbeirrt versucht Jaafari, die Verantwortlichen
zu finden, die seine Frau zu einer ›Schwarzen
Witwe‹ gemacht haben.
Der Roman war ein Bestseller in Frankreich, wurde
unter anderem für den Prix Goncourt nominiert. Der 2005 publizierte Roman "L’Attentat", der unter dem
Titel "Die Attentäterin" auch auf Deutsch vorliegt, liegt in 15 weiteren
Sprachen vor und soll darüber hinaus verfilmt werden.
André
Glucksmann spricht von einer "kriminalistischen Tragödie in der Yasmina Khadra
die teuflischen Rädchen des radikalsten Hasses, der ans Geheimnis
der Liebe und an absolute Perversion grenzt, demontiert".
Heribert Becker auf Qantara meint zwar, der Roman komme literarisch mit einem eher mäßigen Niveau daher, auch wenn
ein Autor wie J.M. Coetzee
Yasmina Khadra "zu den weltweit bedeutendsten Romanciers" zählt.
Die Erzählung komme recht kolportagenhaft und zum Teil auch etwas melodramatisch daher, und die
psychologische Zeichnung der Figuren sei kaum weniger flach als in einer Seifenoper.
Über das was in Sihem, der Attentäterin, vorgeht, erfahre man fast nichts. Doch die
literarische Qualität dürfte die meisten Leser hier weniger interessieren
als die hochaktuelle Thematik, so Becker. Das gelte wohl auch für diejenigen, die das
Buch auf die Leinwand bringen möchten.
Joseph Hanimann sieht dafür in der Frankfurter Allgemeine Zeitung,
andere Motive: "Ein grandioser Aufbau. Er funktioniert wie das Doppelgetriebe einer Spirale
des Terrors im Nahen Osten, das beim Vor- und Zurückdrehen immer neue
Lesemöglichkeiten ergibt und die Spannung so steigert, dass man das Buch
nicht mehr weglegen kann."
Und Heinz Hug, Neue Zürcher Zeitung, zählt das Buch "zum Besten, was
man derzeit über diese Themen lesen kann. Mit 'Die Attentäterin' ist Yasmina Khadra
ein reichhaltiger, packend geschriebener Roman zum Terrorismus und zum
Nahostkonflikt gelungen."
Unter amazon.de meint Helga König: "Yasmina Khadra befasst sich mit den Hintergründen des dauerhaft mörderischen Konflikts zwischen
Palästinensern und Israelis und in diesem Zusammenhang mit den krankhaften
Motiven von Selbstmordattentätern, wie auch der fatalen Spirale von Gewalt.
Der in Tel Aviv lebende, sehr angesehene Chirurg Amin Jaafari, ein
integrierter Beduine mit israelischem Pass, ist seit 15 Jahren mit Sihem,
einer Palästinenserin, verheiratet, von der er annimmt, dass sie seine
ehrlich gemeinten Intergrationsbemühungen voll unterstützt. Amin wird
allerdings eines Besseren belehrt als er schockiert erkennen muss, dass
seine Frau sein Vertrauen missbraucht und hinter seinem Rücken Kontakt mit
dem palästinensischen Widerstand aufgebaut hat. Unvermutet sprengt sich die
Selbstmordattentäterin in einem gut besuchten Lokal gemeinsam mit den
ahnungslosen Gästen, zumeist Kindern, in die Luft und verrät durch diese
Tat die Liebe ihres Gatten und das Vertrauen, das ihr ihre israelischen
Freunden entgegengebracht haben.
Gequält von den Eindrücken will Amin wissen, was seine Frau zu dieser
grausamen Tat veranlasst hat und setzt sich in der Folge unzähligen Gefahren
aus, um die Hintergründe für ihr Verhalten zu ermitteln. Der Arzt reist nach
Bethlehem und Dschenin, wo er nach den ideologischen Drahtziehern dieser
Verblendung sucht. Er will den Hass begreifen, den seine Frau umgetrieben
hat und muss schließlich erkennen, dass es eine enge Verbindung zwischen
abgründigem Hass und dem Gefühl der Ohnmacht gibt.
Amin, für den die oberste Maxime des Lebens das Retten von Menschenleben
ist, wird durch die Geisteshaltung der mit allem Irdischen abgeschlossen
habenden, potentiellen Selbstmordattentäter mit dem Gegenteil dessen, wovon
er überzeugt ist, konfrontiert.
Und so bleibt festzuhalten, dass überall dort, wo vermeintliche Märtyrer
ihre Tat vollbringen, ideologische Machenschaften über die Mitmenschlichkeit
gesiegt haben und Versöhnungsversuche bewusst untergraben werden.
Empfehlenswert."
Yasmina Khadra ist
übrigens das Pseudonym von Mohammed Moulessehoul. Der 1955 geborene Autor war hoher Offizier
in der algerischen Armee. Wegen der strengen Zensurbestimmungen
veröffentlichte er seine beliebten Kriminalromane
mit Kommissar Llob unter dem Namen einer
Frau. Erst nachdem er im Dezember 2000 mit seiner
Familie nach Frankreich ins Exil gegangen war, konnte er
das Geheimnis um seine Identität lüften. Yasmina Khadra
ist eine der wichtigsten Stimmen der arabischen Welt,
seine Romane sind in 17 Sprachen übersetzt.
Stellenweise erinnert der Roman an ein wahres "Manifest gegen den Fundamentalismus",
den Film "Das Schicksal", Youssef Chahines Hommage an den großen Aristoteles-Vermittler Ibn Ruschd.
Doch vielleicht lesen Sie selbst:
Ich erinnere mich nicht, eine Detonation gehört zu
haben. Ein Zischen vielleicht, ähnlich dem Reißen eines
Stoffes, aber sicher bin ich mir nicht. Meine Aufmerksamkeit
ist abgelenkt von diesem Mann, der vom
Heer seiner frommen Anhänger getragen wird wie ein
Gott, während seine Leibgarde versucht, ihm einen Weg
zu seinem Fahrzeug zu bahnen. «Macht Platz da. Bitte
geht zur Seite, lasst uns durch.» Die Gläubigen drängeln,
stoßen einander in die Rippen, um aus der Nähe einen
Blick auf den Scheich zu erhaschen, einen Zipfel seines
kamis zu berühren, seines langen Gewandes. Der verehrte
Greis winkt in die Menge, grüßt hier einen seiner
Bekannten, dankt dort einem seiner Schüler. Der Blick
seines asketischen Gesichts ist so schneidend scharf wie
die Klinge eines Krummschwerts.
Ich versuche erfolglos,
mich von den Leibern in Trance, zwischen denen ich
eingezwängt bin, zu befreien. Der Scheich verschwindet
in seinem Wagen, hebt die Hand zum Gruß hinter
der Scheibe aus Panzerglas, während seine beiden Leibwächter
neben ihm ihre Plätze einnehmen … Dann sehe
ich ihn nicht mehr. Etwas zuckt am Himmel auf und
explodiert im nächsten Moment mitten auf der Straße;
die Schockwelle trifft mich mit voller Wucht und reißt
die frenetische Menge auseinander, in der ich gefangen
bin. Im Bruchteil einer Sekunde stürzt der Himmel herab,
und die Straße, die eben noch vor religiöser Inbrunst
brodelte, versinkt im Chaos. Der Körper eines Mannes,
oder vielleicht auch eines Jungen, streift mich in
meinem Taumel wie ein seltsamer Blitz. Was ist das …?
Eine riesige Welle erfasst mich, aus Feuer und Staub,
schleudert mich zwischen tausend Geschossen hindurch.
Ich habe das undeutliche Gefühl zu zerfasern, zu zerschmelzen
im glühenden Hauch der Explosion … Einige
Meter – oder Lichtjahre – entfernt geht das Fahrzeug des
Scheichs in Feuer auf. Züngelnde Flammen greifen nach
ihm und verbreiten in der Luft den grauenhaften Gestank
brennender Leichen.
Der Lärm muss entsetzlich
sein, doch ich kann ihn nicht hören. Ich bin mit plötzlicher
Taubheit geschlagen, fernab von allen Geräuschen
der Stadt. Ich höre nichts, spüre nichts. Ich schwebe einfach
nur, ich schwebe. Ich schwebe eine Ewigkeit, bevor
ich zur Erde zurückfalle, wie zerschlagen, und völlig
aufgelöst, dabei seltsam wach, mit Augen geweitet vom
Schrecken, der auf der Straße wütet. Im Moment, da ich
den Erdboden berühre, erstarrt alles; die Feuerfackeln
über dem zerfetzten Fahrzeug, die Geschosse, der Rauch,
das Chaos, die Gerüche, die Zeit … Nur eine himmlische
Stimme ist da, über dem unergründlichen Schweigen
des Todes, und singt: Eines Tages aber kehren wir heim.
Eigentlich ist es gar keine Stimme, es ähnelt mehr einem
feinen Rauschen … Mein Kopf prallt irgendwo auf …
Mama, ruft ein Kind. Sein Ruf ist schwach, aber klar
und deutlich. Er kommt von weit her, aus einer heiteren,
wunderbar friedlichen anderen Welt … Die Flammen,
die das Fahrzeug verschlingen, hören plötzlich auf
sich zu bewegen, die Geschosse fallen nicht mehr herab
… Meine Finger tasten im Schutt nach sich selbst. Ich
glaube, es hat mich getroffen. Ich versuche, meine Beine
zu bewegen, den Hals zu heben. Nicht ein Muskel
gehorcht mir mehr … Mama, ruft das Kind … Ich bin
da, Amin … Und da ist sie, die Mama, aufgetaucht aus
einem Rauchvorhang. Sie schreitet durch die schwebenden
Brocken hindurch, die versteinerten Bewegungen,
die aufgerissenen Münder. Im ersten Moment halte ich
sie mit ihrem milchigen Schleier und dem gemarterten
Blick für die Jungfrau Maria. So war sie immer, meine
Mutter, strahlend und traurig zugleich, wie eine Wachskerze.
Wenn sie ihre Hand auf meine heiße Stirn legte,
waren mein Fieber und all meine Sorgen wie weggeblasen
… Und da ist sie. Und es geht derselbe ungebrochene
Zauber von ihr aus. Ein Schauer durchläuft mich von
oben bis unten, er befreit das Universum, löst Zuckungen
aus. Da setzt der Totentanz der Flammen wieder
ein, die Splitter fliegen umher und die Panik erwacht
zu neuem Leben … Ein Mann in zerfetzter Kleidung,
mit geschwärzter Haut versucht, sich einen Weg zum
brennenden Fahrzeug zu bahnen. Er ist schwer verletzt
und setzt doch alles daran, getrieben von einem unbegreiflichen
Willen, dem Scheich zu Hilfe zu kommen.
Jedes Mal, wenn er die Hand an die Wagentür legt,
hält ihn eine lodernde Flamme zurück. In der Falle des
Wageninnern brennen die Körper. Zwei blutüberströmte
Phantome versuchen von der anderen Seite, die hintere
Wagentür aufzureißen. Ich sehe, wie sie brüllen, Kommandos
oder Schmerzensschreie, ich weiß es nicht, denn
ich höre sie nicht. Neben mir starrt mich ein Alter mit
entstelltem Gesicht verblüfft an; er scheint nicht zu merken,
dass seine Gedärme frei liegen und sein Blut sich wie
ein Sturzbach ins Einschlagloch ergießt. Ein Verwundeter
kriecht mit einem riesigen rauchenden Fleck auf dem
Rücken durch den Schutt, ganz nah an mir vorbei, stöhnend
und verwirrt, wenige Meter weiter gibt er seinen
Geist auf, mit aufgerissenen Augen, als könne er nicht
fassen, dass so etwas ihm, ausgerechnet ihm, zustößt.
Den beiden Phantomen gelingt es schließlich, die Windschutzscheibe
einzuschlagen und ins Innere vorzudringen.
Andere Überlebende kommen zu Hilfe. Mit bloßen
Händen nehmen sie das brennende Fahrzeug auseinander,
zertrümmern die Scheiben, mühen sich an den
Türen ab und schaffen es schließlich, den Körper des
Scheichs herauszuziehen. Ein Dutzend Arme trägt ihn
fort, weit weg vom Brandherd, ehe sie ihn auf den
Gehweg legen, während weitere Hände versuchen, seine
brennende Kleidung zu löschen. Durch meine Hüfte
zuckt ein stechender Schmerz. Von meiner Hose ist kaum
etwas übrig, nur ein paar verkohlte Stofffetzen bedecken
ein wenig Haut. Mein Bein liegt an meiner Seite, grotesk
und grausig hängt es nur noch als ein Fetzen Fleisch
an mir herunter. Mit einem Mal lassen mich all meine
Kräfte im Stich. Ich habe das Gefühl, dass die Fasern
meines Körpers sich lösen, sich zu zersetzen beginnen …
Endlich dringt das Geheul eines Krankenwagens zu mir
durch. Nach und nach setzt der Straßenlärm wieder ein,
überflutet mich, betäubt mich. Jemand beugt sich über
meinen Leib, tastet ihn oberflächlich ab und entfernt
sich. Ich sehe, wie er vor einem verkohlten Körper niederkniet,
ihm den Puls fühlt und dann den Bahrenträgern
ein Zeichen gibt. Ein anderer Mann kommt herbei,
fasst nach meinem Handgelenk, lässt es wieder fallen …
«Der ist hinüber. Für den können wir nichts mehr
tun …»
Ich möchte ihn aufhalten, ihn dazu bringen, dass
er noch mal nachprüft. Doch mein Arm versagt mir den
Dienst, verleugnet mich. Mama, sagt da wieder das
Kind … Ich suche meine Mutter inmitten des Chaos …
Sehe nichts als Obstgärten, so weit das Auge reicht … die
Obstgärten meines Großvaters … des Patriarchen …
ein Land voller Orangenbäume, wo jeden Tag Sommer
war … und einen Jungen, der hoch oben auf einem Bergrücken
träumt. Der Himmel ist von transparentem Blau.
Die Orangenbäume reichen ins Unendliche. Der Junge ist
zwölf und hat ein zerbrechliches Herz. Aus lauter Verliebtheit
möchte er, einfach, weil seine Zuversicht so
groß ist wie seine Freude, den Mond wie eine Frucht anknabbern,
überzeugt, er müsse nur die Hand ausstrecken,
um alles Glück der Erde zu fassen … Und da, vor
meinen Augen, und trotz des Dramas, das soeben die Erinnerung
an diesen Tag für immer getrübt hat, trotz der
Körper, die auf der Straße mit dem Tode ringen, trotz der
Flammen, die das Fahrzeug des Scheichs vollends unter
sich begraben, springt der Junge auf und läuft mit sperberflügelweit
ausgebreiteten Armen durch Felder, auf
denen jeder Baum zu einer Märchenwelt gehört … Tränen
strömen über meine Wangen … «Wer immer dir gesagt
hat, ein Mann dürfe nicht weinen, der weiß nicht,
was es bedeutet, ein Mann zu sein», verriet mir mein
Vater, als er mich in Tränen aufgelöst im Sterbezimmer
des Patriarchen fand. «Man muss sich nicht dafür
schämen, dass man weint, mein Großer. Tränen sind das
Edelste, was wir haben.» Da ich mich weigerte, Großvaters
Hand loszulassen, hockte er sich vor mich hin und
nahm mich in die Arme. «Es hilft gar nichts, noch länger
hier zu bleiben. Die Toten sind tot und kommen nicht
wieder, sie haben ihre Strafe gewissermaßen abgebüßt.
Die Lebenden aber sind nur Gespenster, die ihrer Stunde
voraus sind …»
Zwei Männer heben mich hoch und
packen mich auf eine Trage. Ein Krankenwagen kommt
rückwärts herangefahren, mit weit offenen Türen. Arme
ziehen mich ins Innere, befördern mich unsanft zu den
Leichen. In einem letzten Aufbäumen höre ich mich
schluchzen … «O Gott, wenn das hier ein grauenhafter
Alptraum ist, dann mach, dass ich so schnell wie möglich
aufwache …»
Kap.
1.
Nach der Operation kommt Ezra Benhaim, unser Direktor,
zu mir ins Büro. Obwohl er keine sechzig mehr ist
und neuerdings eine gewisse Leibesfülle zeigt, ist er ein
flinker, aufmerksamer Typ. Seine ausgeprägte Neigung
zum Herumkommandieren, zu der sich eine spezielle Art
von Humor gesellt, der sich in unangebrachten Witzen
äußert, hat ihm den Spitznamen «Wachtmeister» eingetragen.
Aber wenn es darauf ankommt, dann ist er noch
immer der Erste, der die Ärmel hochkrempelt, und der
Letzte, der nach Hause geht.
Er war schon da, als ich, damals ein blutjunger Chirurg
und noch lange kein israelischer Staatsbürger, Himmel
und Erde in Bewegung setzte, um eine Festanstellung
zu bekommen. Obwohl er zu der Zeit nur ein einfacher
Oberarzt war, nutzte er das bisschen Einfluss, das ihm
sein Posten verlieh, um meine Gegner auf Abstand zu
halten. Damals war es schwer für einen Beduinensohn,
Einlass in den erlesenen Kreis der akademischen Elite zu
finden, ohne Anstoß zu erregen. Meine Mitabsolventen
waren ausnahmslos junge reiche Juden mit Goldkettchen
und Cabrio. Sie sahen auf mich herab und empfanden
jeden meiner Erfolge als persönlichen Angriff auf ihren
Status. So kam es, dass Ezra, wenn einer von ihnen mich
bis zur Weißglut reizte, automatisch für mich Partei ergriff,
ohne auch nur zu fragen, wer den Streit begonnen
hatte.
Er öffnet die Tür ohne anzuklopfen und blickt mich
mit gesenktem Kopf von unten herauf an, den Anflug
eines Lächelns im Mundwinkel. Das ist seine Art, Zufriedenheit
zum Ausdruck zu bringen. Dann, als ich mich im
Sessel herumdrehe, um ihn direkt anzuschauen, nimmt
er seine Brille ab, wischt sie an seinem Arztkittel sauber
und bemerkt: «Man erzählt sich, dass du schon halb im
Jenseits warst, um deinen Patienten zurückzuholen.»
«Nun übertreibe mal nicht.»
Er schiebt die Brille zurück auf eine Nase mit garstigen
Nasenlöchern, wiegt den Kopf hin und her, denkt kurz
nach, dann wird sein Blick wieder nüchtern.
«Sehen wir uns heute Abend im Club?»
«Nein, das ist unmöglich, meine Frau kommt heute
zurück.»
«Und was ist mit meiner Revanche?»
«Welcher Revanche? Du hast bisher nicht ein Spiel
gegen mich gewonnen.»
«Das ist nicht fair, Amin. Du nutzt immer meine
schwachen Momente aus, um mich zu besiegen. Und gerade
heute, wenn ich in Form bin, da kneifst du.»
Ich lehne mich im Sessel zurück, um ihn besser mustern
zu können.
«Soll ich dir mal was sagen, mein Lieber? Du bist nicht
mehr der Jüngste, ich würde es mir selbst übel nehmen,
wenn ich das ausnutzen wollte.»
«Schaufel nur nicht zu schnell mein Grab. Ich werde
dir das Maul schon noch stopfen.»
«Dazu brauchst du aber keinen Tennisschläger. Eine
einfache Suspendierung vom Dienst tut es auch.»
Er verspricht, darüber nachzudenken, tippt zum Abschied
kurz mit dem Finger an die Schläfe und ist schon
wieder draußen auf dem Gang, wo er mit den Krankenschwestern
schäkert.
Wieder allein, versuche ich mich zu erinnern, womit
ich beschäftigt war, bevor Ezra hereinplatzte, und mir
fällt ein, dass ich meine Frau anrufen wollte. Ich greife
zum Hörer, wähle die Nummer von zu Hause und lege
nach siebenmal Klingeln wieder auf. Die Zeiger meiner
Uhr stehen auf 13 Uhr 12. Wenn Sihem den 9-Uhr-Bus
genommen hätte, wäre sie längst zurück.
«Mach dir deswegen keine Gedanken!» Überraschend
kommt Doktor Kim Yehuda in mein Büro geschneit und
fügt gleich hinzu: «Ich habe angeklopft, bevor ich eingetreten
bin. Aber du warst in Gedanken …»
«Entschuldige, ich habe dich gar nicht kommen hören.
»
Sie wischt meine Worte mit einer Handbewegung beiseite,
beobachtet das Auf und Ab meiner Augenbrauen
und fragt: «Du hast zu Hause angerufen?»
«Man kann aber auch gar nichts vor dir verbergen.»
«Und natürlich ist Sihem noch nicht zurück?»
Ihr Scharfsinn geht mir auf die Nerven, aber ich habe
gelernt, damit zu leben. Ich kenne Kim seit der Universität.
Wir waren nicht im selben Semester – ich war ihr um
drei Nasenlängen voraus –, doch wir haben uns auf Anhieb
verstanden. Sie war schön und spontan und fackelte
nicht lange, wo die anderen Studentinnen erst stundenlang
zögerten, bevor sie einen Araber fragten, ob er Feuer
hätte, auch wenn er noch so gescheit und attraktiv war.
Kim lachte viel und gerne und trug ihr Herz auf der
Zunge. Unsere Flirts waren von verwirrender Naivität.
Ich habe schrecklich gelitten, als ein junger russischer
Gott, frisch aus seinem Komsomol angereist, sie mir ent-
führte. Aber da ich kein schlechter Verlierer sein wollte,
habe ich keine Schwierigkeiten gemacht. Später habe
ich dann Sihem geheiratet, und der Russe ist sang- und
klanglos Richtung Heimat verschwunden, kurz nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Kim und ich sind
gute Freunde geblieben, und durch unsere enge berufliche
Zusammenarbeit ist eine außergewöhnliche Komplizenschaft
entstanden.
«Heute gehen die Ferien zu Ende», erklärt sie mir.
«Die Straßen sind vollgestopft. Hast du versucht, sie bei
ihrer Großmutter zu erreichen?»
«Auf dem Bauernhof gibt es kein Telefon.»
«Ruf sie auf ihrem Handy an.»
«Sie hat es schon wieder zu Hause liegen lassen.»
Sie breitet die Arme schicksalsergeben aus: «Das nenne
ich Pech.»
«Für wen?»
Sie zieht ihre prächtigen Brauen in die Höhe und droht
mir mit dem Finger: «Das Drama gewisser guter Absichten
besteht darin, dass es ihnen an Mut zur Durchsetzung
und an Konsequenz im Gedankengang fehlt.»
«Das ist die Stunde der müden Krieger», sage ich
schon im Aufstehen. «Die Operation war anstrengend
genug, jetzt müssen wir erst einmal wieder zu Kräften
kommen …»
Ich fasse sie am Ellenbogen und schiebe sie in den Korridor.
«Nach Ihnen, schöne Frau. Ich möchte mir diesen Anblick
nicht entgehen lassen.»
«Würdest du es wagen, das in Gegenwart von Sihem
zu wiederholen?»
«Nur ein Idiot ändert nie seine Meinung.»
Kims Lachen verhallt im Flur wie das Echo eines
Armesünderglöckleins.
Ilan Ros stößt in der Kantine zu uns, als wir gerade mit
Essen fertig sind. Mit seinem vollgepackten Tablett lässt
er sich rechts neben mir nieder, gegenüber von Kim. Sein
Kittel klafft über einem immensen Bauch, und seine
Hängebacken glänzen scharlachrot. Als Erstes schiebt er
drei Scheiben kaltes Fleisch in sich hinein, dann wischt er
sich mit einer Papierserviette über den Mund.
«Suchst du noch immer eine Zweitwohnung?», fragt
er mich kauend.
«Kommt darauf an, wo.»
«Ich glaube, ich hätte da was Nettes für dich. In der
Nähe von Ashqelon. Eine hübsche kleine Villa mit allem,
was dazugehört, um mal so richtig abzuschalten.»
Meine Frau und ich suchen schon seit über einem Jahr
ein Häuschen am Meer. Sihem liebt das Meer. Jedes
zweite Wochenende springen wir, wenn ich nicht gerade
Dienst habe, in unseren Wagen und fahren zum Strand.
Wir machen lange Spaziergänge im Sand, klettern irgendwann
auf eine Düne und versinken bis tief in die
Nacht in den Anblick des Horizonts. Der Sonnenuntergang
hat auf Sihem eine Faszination ausgeübt, die mir bis
heute ein wenig rätselhaft blieb.
«Glaubst du denn, dass mein Portemonnaie das hergibt?
»
Ilan Ros lacht kurz auf, sein puterroter Hals bebt wie
Wackelpudding.
«So lange, wie du schon nicht mehr mit leeren Hosentaschen
herumläufst, Amin, hast du, denke ich, mehr als
genug, um dir die Hälfte deiner Träume zu erfüllen …»
Plötzlich bringt eine gewaltige Explosion die Wände
zum Erbeben und lässt die Fensterscheiben in der Kantine
vibrieren. Alle sehen sich ratlos an, dann stehen die,
die in der Nähe der Panoramafenster sitzen, auf und
recken die Hälse. Kim und ich stürzen auf das nächstgelegene
Fenster zu. Die Leute, die im Hof des Krankenhauses
unterwegs waren, stehen wie angewurzelt, die
Köpfe nach Norden gedreht. Die Fassade des Baus gegenüber
verstellt uns den Blick.
«Bestimmt ein Attentat», bemerkt jemand.
Kim und ich rennen hinaus auf den Korridor. Schon
taucht ein Trupp Krankenschwestern aus dem Kellergeschoss
auf und läuft in Richtung Eingangshalle. Dem
Ausmaß der Schockwelle nach zu urteilen, muss die Explosion
ganz in der Nähe stattgefunden haben. Einer
vom Wachdienst dreht an seinem Funkgerät, um Erkundigungen
einzuholen. Sein Gesprächspartner teilt ihm
mit, dass er auch nichts weiß. Wir stürzen uns in den Aufzug.
Oben angelangt, rennen wir auf die Dachterrasse
des Südflügels. Einige Neugierige sind schon da und starren,
die Augen mit den Händen abgeschirmt, zu einer
Rauchwolke hinüber, die etwa zehn Häuserblocks weiter
in den Himmel steigt.
«Das kommt aus Richtung Haqirya», berichtet ein
Wachposten in sein Funkgerät. «Bombe oder Selbstmordattentat.
Vielleicht eine Autobombe. Ich hab keinerlei
Informationen. Alles, was ich sehe, ist der Rauch,
der von dort aufsteigt …»
«Wir müssen wieder runter», mahnt mich Kim.
«Du hast recht. Wir müssen uns darauf vorbereiten,
die ersten Opfer in Empfang zu nehmen.»
Zehn Minuten später dringen vereinzelt Informatio-
nen durch, die von einem regelrechten Blutbad reden.
Manche berichten von einem Angriff auf einen Bus, andere
von einem Restaurant, das in die Luft gesprengt
worden sei. Die Telefonzentrale steht kurz vor dem Kollaps.
Es herrscht Alarmstufe Rot.
Ezra Benhaim trommelt den Krisenstab zusammen.
Krankenschwestern und Chirurgen laufen zur Notaufnahme,
wo in hektischem, aber geordnetem Gewimmel
Tragen und Transportliegen aufgestellt werden. Es
ist nicht das erste Mal, dass ein Attentat Tel Aviv erschüttert,
und die Rettungsdienste gehen von Mal zu
Mal mit größerer Effizienz vor. Aber Attentat bleibt Attentat.
Auf die Dauer bekommt man es zwar technisch
in den Griff, aber nicht menschlich. Emotion und Entsetzen
passen nicht recht zu einem kühlen Kopf. Wenn
das Grauen zuschlägt, zielt es immer als Erstes auf das
Herz.
Ich mache mich ebenfalls auf zur Notaufnahme. Ezra
ist schon da, mit blassem Gesicht und dem Handy am
Ohr. Mit der anderen Hand versucht er, die Vorbereitungen
für die Operationen zu dirigieren.
«Ein Selbstmordattentäter hat sich in einem Restaurant
in die Luft gesprengt. Es gibt mehrere Tote und
eine Menge Verletzte», verkündet er. «Lasst Raum 3 und
Raum 4 räumen. Und haltet euch bereit, die ersten Opfer
in Empfang zu nehmen. Die Krankenwagen sind schon
unterwegs.»
Kim, die in ihr Büro gegangen war, um ihrerseits zu
telefonieren, stößt in Raum 5 zu mir. Dort sollen die
Schwerverletzten hingebracht werden. Manchmal, wenn
die OP-Räume nicht reichen, wird auch an Ort und Stelle
amputiert. Zusammen mit vier anderen Chirurgen über-
prüfen wir das Einsatzmaterial. Krankenschwestern sind
rund um die OP-Tische zugange, mit flinken, präzisen
Gesten.
«Es gibt mindestens elf Tote», berichtet Kim, während
sie die Apparate in Gang setzt.
Draußen heulen die Sirenen. Die ersten Krankenwagen
erreichen den Innenhof. Ich lasse Kim mit den
Apparaten allein und laufe zu Ezra in die Eingangshalle.
Die Schreie der Verwundeten hallen durch den Raum.
Eine beleibte Frau, die fast nackt ist und noch größer
scheint in ihrem Entsetzen, windet sich auf einer Trage.
Die Pfleger, die ihr beistehen, haben Mühe, sie ruhig zu
halten. Sie wird an mir vorbeigetragen, mit gesträubtem
Haar, hervorquellenden Augen. Gleich dahinter wird ein
blutüberströmter kleiner Junge eingeliefert. Gesicht und
Arme sind so geschwärzt, als käme er direkt aus einer
Kohlenmine. Ich greife nach seiner Liege und schiebe sie
zur Seite, um den Weg frei zu machen. Eine Krankenschwester
kommt mir zu Hilfe.
«Seine Hand ist abgerissen!», schreit sie.
«Es ist jetzt nicht der Moment, die Nerven zu verlieren
», herrsche ich sie an. «Legen Sie ihm einen Knebelverband
an und bringen Sie ihn auf der Stelle in den OPSaal.
Jede Minute zählt.»
«Sehr wohl, Herr Doktor.»
«Sind Sie sicher, dass Sie es schaffen?»
«Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Herr Doktor.
Das bekomme ich schon hin.»
Binnen einer Viertelstunde verwandelt sich das Foyer
der Notaufnahme in ein Schlachtfeld. An die hundert
Verletzte sind dort zusammengepfercht, die meisten liegen
am Boden. Sämtliche Tragen sind mit ausgerenkten
Körpern belegt, die furchtbare Splitterwunden aufweisen
und manchmal gleich mehrere Brandwunden. Ein
Schluchzen und Schreien durchzieht das ganze Krankenhaus.
Von Zeit zu Zeit übertönt ein vereinzelter Schrei
den Lärm und kündet vom Tod eines Opfers. Ein Patient
stirbt mir unter den Händen weg, ohne dass ich Zeit gehabt
hätte, ihn näher anzusehen. Kim informiert mich,
dass der OP-Saal überfüllt sei und wir die Schwerverletzten
nach Raum 5 verlegen müssen. Ein Verwundeter
brüllt, man solle sich auf der Stelle um ihn kümmern.
Sein ganzer Rücken ist gehäutet, das Schulterblatt liegt
stellenweise bloß. Da er niemanden sieht, der ihm zu
Hilfe kommt, packt er eine Schwester bei den Haaren. Es
braucht drei kräftige Männer, damit er sie loslässt. Nicht
weit davon schreit ein Verletzter, der zwischen zwei Liegen
eingeklemmt ist, und strampelt wie ein Wilder. Vom
vielen Strampeln fällt er schließlich von seiner Trage. Er
hat jede Menge Schnittwunden und beginnt, mit den
Fäusten ins Leere zu boxen. Die Schwester, die sich um
ihn kümmert, wirkt überfordert. Ihre Augen leuchten
auf, als sie mich sieht.
«Schnell, schnell, Herr Doktor Amin …»
Schlagartig versteift sich der Verletzte. Sein Geröchel,
seine Zuckungen, sein Gestrampel, sein ganzer Körper
erstarrt, und die Arme sacken ihm auf die Brust wie
bei einer Marionette, der man die Fäden durchschneidet.
Im Bruchteil einer Sekunde weicht der Ausdruck des
Schmerzes in seinen hochroten Zügen dem der kalten
Wut, vermischt mit Ekel. Als ich mich über ihn beuge,
wirft er mir einen drohenden Blick zu und bleckt empört
die Zähne.
«Ich dulde nicht, dass ein Araber mich berührt»,
knurrt er und stößt mich erbittert zurück. «Da krepier
ich lieber.» Ich packe ihn am Handgelenk und drücke ihm den
Arm energisch nach unten.
«Halten Sie ihn gut fest», sage ich zur Schwester. «Ich
werde ihn mir mal ansehen.»
«Fassen Sie mich nicht an!», brüllt der Verletzte. «Ich
verbiete Ihnen, mich zu berühren.»
Er spuckt mich an. So kraftlos, dass ihm der Speichel
klebrig und zitternd aufs Kinn zurückfällt, während Tränen
der Wut in seinen Augen aufsteigen. Ich öffne sein
Jackett. Sein Bauch ist nur noch ein schwammiger Brei,
den die kleinste Anstrengung zusammendrückt. Er hat
bereits viel Blut verloren, und sein Geschrei erhöht noch
den Blutverlust.
«Wir müssen sofort operieren.»
Ich gebe einem Pfleger Zeichen, mir zu helfen, den
Verletzten wieder auf die Trage zu heben, schiebe die Liegen
zur Seite, die uns den Weg versperren, und steuere eiligst
auf den OP-Saal zu. Der Verwundete fixiert mich
aus hasserfüllten, schon halb verdrehten Pupillen. Er versucht
noch immer zu protestieren, doch sein Widerstand
hat ihn erschöpft. Entkräftet wendet er den Kopf ab, um
mich nicht direkt vor Augen zu haben, und überlässt sich
der einsetzenden Betäubung.
... ...
Yasmina Khadra
Die Attentäterin
Roman
Aus dem Französischen von
Regina Keil-Sagawe
Deutscher Taschenbuch Verlag
März 2008
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
www.dtv.de [BESTELLEN?]
Der Fundamentalismus ist die Tragödie unserer Zeit:
Die Lämmer des Herrn
Yasmina Khadra, ehemaliger Offizier der
algerischen Armee, schildert den blutigen Abstieg eines jungen Lehrers zum
fanatischen Fundamentalisten...
deutscher taschenbuch verlag |