Der Fundamentalismus ist die Tragödie unserer Zeit:
Die Lämmer des Herrn
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Yasmina Khadra,
ehemaliger Offizier der algerischen Armee, schildert den blutigen Abstieg
eines jungen Lehrers zum fanatischen Fundamentalisten.
Ghachimat ist ein friedliches Dorf am Fuße des Tlemcen-Gebirges. Ein Dorf
wie jedes andere: Man liebt sich, man haßt sich, man intrigiert. Algier ist
weit, und die politischen Unruhen, die sich dort abspielen, berühren die
Leute in Ghachimat zunächst nicht sonderlich.
Drei Freunde, der Polizist Allal, der Lehrer Kada und der arbeitslose Jafer
werben um dasselbe Mädchen, Sarah, die Tochter des Bürgermeisters. Als Allal
Sarah schließlich heiratet, bittet der frustrierte Kada den ortsansässigen
Imam, ihn als Freiwilligen zu den Mudjaheddin nach Afghanistan zu entsenden.
Nach Jahr und Tag kehrt er als glühender Fundamentalist zurück und wird zum
neuen Emir gewählt.
Das Dorf polarisiert sich, der Islamismus zieht immer mehr Enttäuschte in
seinen Bann, spaltet Familien und Freundschaften. Kada eröffnet den Feldzug
gegen die Vertreter der Staatsmacht im Dorf, gegen ihre Sympathisanten. Das
Morden beginnt. Und damit eine Tragödie, die eindringlich und schonungslos
die Entmenschlichung unter einem religösen Terror-Regime schildert.
Hier ein Auszug:
... Er weiß nicht, wie viele Stunden er da gelegen hat, mit dem Gesicht auf dem
Boden, in der Finsternis dieses Lieferwagens, noch wie er es geschafft hat,
mit gefesselten Händen und verbundenen Augen durch den Wald zu laufen, bis
zu dieser Hütte, wo sich die Auftraggeber seiner Entführung versteckt
halten. Vier Männer mustern ihn mit ernsten Blicken. Kada Hilal sitzt mit
undurchdringlicher Miene auf seinem Kissen. Neben ihm streichelt Tej Osmane
stumpfsinnig die Klinge einer Machete. Smail lehnt an der Mauer, die Hände
über seinem Bauch verschränkt.
Der vierte ist ein blasser, schmächtiger
Jüngling, fast unsichtbar in seiner allzu weiten Fallschirmspringerjacke. Er
hat einen Saum wild sprießender Härchen am Kinn und giftsprühende Pupillen.
Es ist Youcef, der Sohn von Haj Boudali. »Setz dich da auf den Hocker.« Doch
der Imam zieht die Weidenmatte vor. »Ihr hättet mich bitten können, euch zu
folgen. Das hätte ich doch gemacht. Und meine Frau müßte nicht diese Ängste
durchstehen. Sie hat Diabetes.« »Sie wird dich vor dem Morgengrauen
zurückhaben«, verspricht ihm Kada. Tej wird ungeduldig. »Sag ihm, warum er
hier ist.« Mit einer herrischen Geste bringt Kada ihn zum Schweigen.
Dann
wendet er sich an den Imam: »Haj Salah, du bist ein guter Mann. Deshalb
appellieren wir an dich. Stimmt schon, wir haben die Alten nicht gerade mit
Samthandschuhen angefaßt. Aber keineswegs aus Mangel an Respekt. Die Welt
wandelt sich, und sie sperren sich dagegen ... Seit der Unabhängigkeit ist
es mit unserem Land stetig bergab gegangen. Unsere Bodenschätze haben unsere
Überzeugungen und unseren Elan ausgehöhlt. Verräter haben sich einen Spaß
daraus gemacht, uns Gummiknüppel als Zuckerlutscher zu verkaufen. Sie haben
uns chauvinistische Selbstbespiegelung und Volksverhetzung gelehrt. Dreißig
Jahre lang haben sie uns an der Nase herumgeführt. Mit dem Resultat, daß das
Land zerstört ist, die Jugend kraftlos, die Hoffnung vernichtet. Überall
greift Resignation um sich. Schlimmer noch: Nachdem wir unsere Identität
verloren haben, sind wir jetzt dabei, auch noch unsere Seele preiszugeben.«
Kada verstummt. So wie Cheikh Abbas immer verstummte, abrupt, um die
Aufmerksamkeit zu erhöhen. »Und jetzt sagen wir: Es reicht!« Smail nickt:
»Es reicht!«
»So ist die Bewegung entstanden. Gott selbst hat die Front
inspiriert. Er hatte Mitleid mit diesem aus der Bahn geworfenen Land, das
ein Haufen von Betrügern durch permanenten Autoritäts- und Vertrauensmißbrauch, hemmungslose Vetternwirtschaft, skandalöse Inkompetenz
und moralische Verkommenheit zu vernichten droht. Wir hatten das schönste
Land der Welt, sie haben daraus einen Schweinestall gemacht. Wir hatten eine
gewisse historische Legitimation vorzuweisen, sie haben daraus eine
widerrechtliche Okkupation gemacht. Und uns den Horizont in jeder Richtung
verstellt ... Deshalb sagen wir: Es reicht!« »Es reicht!« wiederholt Smail
gedankenverloren. »Wir, die Partisanen der FIS, haben uns korrekt verhalten.
Wir haben hart gearbeitet und gezeigt, wozu wir in der Lage sind. Das Volk
hat für unsere Prinzipien und unsere Ideologie gestimmt. Aber diese
Mafiokraten von der Regierung wollen sich dem, was ganz klar auf der Hand
liegt, nicht fügen. Dieses Regime hat sich wissentlich für das Spiel mit dem
Feuer entschieden. Deshalb bieten wir ihnen heute das Höllenfeuer.«
Haj
Salah hebt den Kopf mitten in dieses Schweigen hinein, das plötzlich die
Hütte erfüllt. Tej hat sich unterdessen mit der Machete in den Finger
geschnitten. Youcef hat zwei glühende Kohlen dort, wo man seine Augen sucht.
Nur Smail nickt noch immer vor sich hin.
»Und jetzt herrscht also Krieg«,
schließt Kada.
»Krieg«, echot Smail.
Haj Salah ist erschöpft. Die Müdigkeit
ist übermächtig, doch der stechende Schmerz in seinen Gelenken läßt ihn noch
einmal hochfahren.
»Was erwartest du eigentlich von mir, Sohn der Hilals?«
»Eine Fatwa.«
»Ich verfüge nicht über die nötige Gelehrsamkeit. Ich bin nur
ein einfacher Imam vom Lande, dessen bescheidenes Wissen allmählich erlischt
und dessen Gedächtnis zunehmend nachläßt.«
»Du bist seit vierzig Jahren der
Dorfimam«, mischt Tej sich ein, den Kadas pompöse und völlig überflüssige
Weitschweifigkeit nervt. »Du bist gerecht und weise. Wir wollen, daß du den
Heiligen Krieg ausrufst.«
»Und wer wäre dann der Feind?«
»Alle, die eine
Dienstmütze tragen: Gendarmen, Polizisten, Soldaten ...«
»Bis hin zum
Briefträger«, spottet Smai'l und verdirbt mit einem Schlag die
Feierlichkeit, mit der Kada den Imam beeindrucken wollte.
Haj Salah
verschlägt es die Sprache. Stumm, niedergeschmettert, den Kopf in den Händen
vergraben, sitzt er da und möchte sich weigern zu glauben, was er soeben
gehört hat. Das ist der Augenblick, vor dem er sich immer gefürchtet hat.
Wenn das Ungeheuer im Kind erwacht und bewirkt, daß das Verlangen nach
Bestrafung das Gebot der Vergebung bezwingt. Und der Dichter hatte doch
recht. Jeder Religion, die Gott den Menschen bietet, wohnt unfehlbar etwas
Dämonisches inne. Auf den ersten Blick kaum erkennbar, doch mächtig genug,
die Frohe Botschaft zu verfälschen und die Achtlosen auf den Irrweg zu
leiten und zur Barbarei zu verführen. Jenes dämonische Moment äußert sich in
Ignoranz und Selbstgefälligkeit.
Sidi Sai'm pflegte zu sagen: »Es wäre
widernatürlich, wollte man folgende drei Dinge einem Ignoranten anvertrauen:
Vermögen, denn darunter würde er nur leiden; Macht, denn dadurch würde er
zum Tyrannen; Religion, denn damit schadete er sich selbst genauso wie allen
anderen.«
Haj Salah zittert. Am Anfang war das Mitgefühl Gottes, der um die
Prüfungen wußte, die die Natur für das vollkommenste, aber auch
verwundbarste seiner Geschöpfe bereithält, jene Kreatur, die unter Schmerzen
zur Welt kommt und ihr Überleben nur einem erbitterten Kampf verdankt, der
von den ersten Zähnen bis zum letzten Willen währt. Doch die Menschen
vermögen die göttlichen Zeichen nicht zu lesen. Sie deuten sie, wie es ihrer
Gewohnheit entspricht. Sie machen aus Träumen Utopien, aus Licht
Scheiterhaufen, sie werden ungerecht und töricht.
Nach einer Minute taucht Haj Salah aus seiner Fassungslosigkeit wieder auf. Doch nur sehr mühsam. Ihm
fehlt die Kraft, sich mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht zu
fahren. Er heftet seinen Blick der Reihe nach auf Kada, Tej, Youcef und
Smail und sagt:
»Wißt ihr, warum Gott Abraham befohlen hat, ihm seinen
geliebten Sohn zu opfern?«
»Was für eine Frage!«
»Also warum?«
»Um Abrahams
Glauben auf die Probe zu stellen«, antwortet Youcef.
»Das ist
Gotteslästerung! Wagst du es wirklich zu unterstellen, Gott könne an seinem
Propheten gezweifelt haben? Er, der Allwissende ...? Gott wollte den Völkern
der Erde damit nur eine Botschaft übermitteln. Indem er von Abraham
verlangte, oben auf dem Berg sein eigenes Kind zu opfern, und ihm dann einen
Widder anstelle des Kindes schickte, wollte er den Menschen verständlich
machen, daß selbst der Glaube seine Grenzen hat, daß er da aufhört, wo ein
Menschenleben in Gefahr ist. Denn Gott weiß um den Wert des Lebens. Darauf
gründet all seine Größe und Güte.«
Der Sack ist mitten auf der Brücke
abgestellt, so daß der erste, der des Weges kommt, ihn nicht übersehen kann.
Ein Schwarm von summenden Fliegen umhüllt ihn. Sein Gestank hat die Vögel
verjagt.
Jelloul steht unter Schock. In seinem gemarterten Hirn hat
blitzartig etwas aufgezuckt und ihn weit in die Vergangenheit
zurückversetzt. Es war an einem Wintermorgen im Jahr 1959. Es regnete.
Jelloul wollte seinem Vater, einem Pferdeknecht in Diensten der Xaviers, das
Frühstück bringen. Auf der Brücke hatte er einen Sack gefunden, der genauso
aussah wie dieser hier, einen Sack, aus dem der Kopf eines Menschen ragte.
Weil er nicht recht begriff, weil er weder davonlaufen noch drauflosschreien
konnte, ist es Nacht geworden um Jelloul.
Auch aus diesem neuerlichen Sack
ragt ein Kopf.
Er gehört Imam Haj Salah.
Jelloul legt beide Hände an die
Schläfen und schreit und schreit... ... ...
Die
Lämmer des Herrn
Auszug aus der Übersetzung von Regina Keil-Sagawe.
Yasmina Khadra ist
übrigens das Pseudonym von Mohammed Moulessehoul. Der 1955 geborene Autor war hoher Offizier
in der algerischen Armee. Wegen der strengen Zensurbestimmungen
veröffentlichte er seine beliebten Kriminalromane
mit Kommissar Llob unter dem Namen einer
Frau. Erst nachdem er im Dezember 2000 mit seiner
Familie nach Frankreich ins Exil gegangen war, konnte er
das Geheimnis um seine Identität lüften. Yasmina Khadra
ist eine der wichtigsten Stimmen der arabischen Welt,
seine Romane sind in 17 Sprachen übersetzt.
"Die Bücher von Yasmina Khadra sind spannend, sie sind herzzerreißend, sie
sind gleichzeitig großartige Literatur und erschütternde Zeitgeschichte."
WDR
"Aus genauer Kenntnis beschreibt Khadra die allgegenwärtige Gewalt."
Die Zeit
Immer
wieder erinnern seine Romane an Youssef Chahines Film "Das Schicksal",
eine Hommage an den großen Aristoteles-Vermittler Ibn Ruschd, ein wahres "Manifest gegen den Fundamentalismus".
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Yasmina Khadras kriminalistische Tragödie:
Die Attentäterin
Amin Jaafari ist ein hoch angesehener Arzt – und ein
arabischer Israeli. Umso rascher gerät er ins Visier der Ermittlungen,
als die Polizei die Identität der Selbstmordattentäterin
herausfindet, die ein Restaurant in Tel Aviv
in die Luft sprengte...
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