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Lektüren von ‚Täterkindern‘

Konstanze Hanitzschs brillante Studie zu Wissen, Literatur und Geschlecht bei Niklas Frank, Beate Niemann und Malte Ludin…

Von Florian Kappeler (Zürich)

Stellen Sie sich vor, ein Rezensent kritisierte eine literaturwissenschaftliche Untersuchung über Franz Kafkas Brief an den Vater. Als Beleg  führte er an zentraler Stelle unveröffentlichte Briefe Kafkas an, in denen sich dieser über die Arbeit beschwerte: Seine, Kafkas, Motive seien völlig falsch verstanden worden, eine psychoanalytische Argumentation überdies unangemessen und seitens einer nicht psychologisch ausgebildeten Rezensentin gar nicht autorisiert.

Sie halten das für absurd? Martin Janders Rezension „Entlastungszeug / -innen?“ (Hagalil, 11.02. 2014) der Studie Deutsche Scham. Gender – Medien – Täterkinder von Konstanze Hanitzsch[1] folgt einer vergleichbaren Argumentation, wenn er zwei eingestandenermaßen private Briefe der von Hanitzsch untersuchten Autor_innen Beate Niemann und Niklas Frank als Belege für seinen Verriss anführt.[2] So zu verfahren ist nicht nur methodologisch fragwürdig, denn die Meinung von Autor_innen über ihre Texte zählt aus philologischer Perspektive nicht mehr als irgendeine andere. Janders Herangehensweise ist vielmehr illegitim: Ein veröffentlichter wissenschaftlicher Text (in dem Fall Deutsche Scham) kann nicht unter Verweis auf einen Privatbrief delegitimiert werden, zumal wenn dieser der Öffentlichkeit nicht einmal zugänglich und deshalb nicht überprüfbar ist. Eine öffentlich nachprüfbare Auseinandersetzung weicht somit einem autoritären Dekret unter Berufung auf Autor_innen als Privatpersonen. So werden diese tatsächlich zu Entlastungszeug_innen umfunktioniert: Ihr Zeugnis soll den Rezensenten der Beweislast entheben. Im Grunde konterkariert Jander damit, was er vorgeblich anstrebt: Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den publizierten Schriften und Filmen Franks und Niemanns.[3]

Da Janders Rezension geeignet ist, den Blick auf Hanitzschs Studie zu verstellen, möchte ich von jener aus einen anderen Blick auf diese werfen. Bei einer Untersuchung der Schriften und Filme von Kindern nationalsozialistischer Täter_innen ist freilich ein gänzlich anderer politischer, ethischer und persönlicher Einsatz im Spiel als im Falle des von mir fingierten Einwands Kafkas. Der Janders Rezension durchziehende Vorwurf, Hanitzschs Buch sei ein Angriff auf die dort im Zentrum stehenden Autor_innen Niklas Frank, Beate Niemann und Malte Ludin, lässt sich durch Dutzende von Aussagen aus ihrer Studie widerlegen, von denen hier lediglich eine zitiert sei:

Das durch die Mutter geprägte Familiengedächtnis erweist sich als Knotenpunkt von vergangenheitspolitischen Diskursen und Anrufungen, die das jeweilige Vaterbild stützen und stabilisieren. Gegen dieses „Feld der Anrufungen“ richten sich die Nachkommen: Niklas Frank „zerfetzt“ die von der Mutter herausgegebenen Worte des Vaters. Beate Niemann deckt die Lügen der Mutter auf und zerstört damit sowohl das Bild der Mutter wie des Vaters: Sie „befreit“ den Vater aus der Deutungshoheit der Mutter. Malte Ludin stellt dem Bild des „guten Nationalsozialisten“ das des schuldigen entgegen und enthüllt die familiären Abhängigkeitsverhältnisse.[4]

Worum also geht es in der Rezension Janders? Dürfen Zeitzeug_innen nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie sein? Sind literaturtheoretische Untersuchungen nur dann erlaubt, wenn ihr Gegenstand eindeutig fiktionale Texte sind? Hanitzschs Ansatz wird hier in zweierlei Weise missverstanden. Erstens handelt es sich bei den Schriften und Filmen der untersuchten Autor_innen um „kollektive Texte“[5], die narrativ konstruiert, medial vermittelt, öffentlich zugänglich und damit als „kulturelle Produkte“ und „Wissensobjekte“[6] der Interpretation und öffentlichen Debatte zugänglich sind. Eine Auseinandersetzung über sie muss sich somit auf die Texte und Filme selbst beziehen und nicht Briefe der Autor_innen (zumal private) wie ein weißes Kaninchen aus dem Hut zaubern. Hanitzsch argumentiert durchgängig sorgfältig textgestützt. Die wenigen textbasierten Argumente von Janders Rezension strotzen hingegen vor Missverständnissen. So werden Frank, Niemann und Ludin bei Hanitzsch nicht notwendig zu ‚Entlastungszeug_innen’, sondern es wird die Frage gestellt, ob sie in einer zukünftigen Rezeption zu nationalen Entlastungszeug_innen werden könnten. Wenn Hanitzsch eine kritische Perspektive einnimmt, so gilt diese gewiss nicht Frank, Niemann und Ludin, sondern deren Texten und Filmen teils inhärenten geschlechtlichen Codierungen und ihren möglichen künftigen Eingemeindungen in einen nationalen deutschen Diskurs.[7]

Vor diesem Hintergrund wirkt die bei Jander mit Verweis auf Niemann vertretene These[8], Hanitzsch schreibe – als nicht diplomierte Psychologin illegitimer Weise! – ein Psychogramm der Autor_innen, reichlich skurril: Die Methode der Studie ist im Kern nicht psychoanalytisch.[9] So wird der ‚Fassungsverlust’ Niemanns (textbasiert) als Synonym der Scham interpretiert und nicht (psychoanalytisch) als Symptom. Davon abgesehen sind psychoanalytische Deutungen, zumindest nach dem ‚linguistic turn’ in der Literatur- und Kulturwissenschaft, selbst vor allem Textinterpretationen. Bei der Analyse von Texten und Filmen – und das gilt nicht allein für die von Hanitzsch untersuchten Dokumente – ist es entscheidend Text, Autor_innenfunktion, Erzählinstanz und empirische Person nicht miteinander zu verwechseln. Hanitzsch stellt sich diesem Problem in verantwortlicher Weise, wovon nicht nur ihre komplexe und abwägende Darstellung, sondern auch die Situierung ihrer eigenen Position[10] zeugt.

Möglicherweise spielt in Janders Deutungsmachtkampf auch ein Generationenkonflikt eine Rolle, eine Auseinandersetzung um die Frage, wie die Generation der Kinder und der Enkel den Nationalsozialismus und das postfaschistische Deutschland bewerten sollen. Eine Position, die sich auf das Wort der ‚Täterkinder’ als Garant der ‚Wahrheit’ beruft (so Jander) und eine Herangehensweise wie bei Hanitzsch, welche deren veröffentlichte Werke kontextualisiert und interpretiert, sind nicht miteinander kompatibel. Hanitzsch weist zudem deutlich und zu Recht darauf hin, dass im Deutschland des 21. Jahrhunderts eine Kritik der deutschen Integration des Nationalsozialismus in das ‚eigene’ Geschichtsnarrativ virulent geworden ist. Das Tabu der Benennung der Täter_innen zu brechen tritt demgegenüber in den Hintergrund.

Zu widersprechen ist schließlich auch Janders Annahme, man sei „natürlich“ Kind seiner Eltern.[11] Hanitzsch spricht hier treffender vom schwankenden Fundament der Herkunft und der „leidenschaftlichen Verhaftung“ an die Eltern.[12] Der von Hanitzsch bestätigten Schwierigkeit und Größe der Unternehmen von Frank, Niemann und Ludin tut dies keinerlei Abbruch, sie wird im Gegenteil erst dadurch möglich, dass es in ihnen nicht um die ‚natürliche’ Genealogie geht, sondern um das – immer geschlechtlich codierte – Wissen um sie und Schreiben über sie.

Hanitzschs Arbeit zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie diese Verflechtung von Wissen, Literatur und Geschlecht in den Schriften der ‚Täterkinder’ detailliert herausarbeitet. Dabei weist sie verschiedene narrative Strategien der Abrechnung mit den Tätereltern nach: Schamlosigkeit (Frank), Mahnmalwerdung (Niemann) und Reinszenierung des Familiengedächtnisses (Ludin). Frank, dessen Bücher Der Vater (1987) und Meine deutsche Mutter (2005) sowie dessen Theaterstück Der Vater. A bloody Comedy (1995) Hanitzsch am ausführlichsten diskutiert, grenzt sich von der öffentlichen Persona seines Vater und deren männlicher Codierung mittels einer Strategie sexuell codierter Entblößung ab; gegen die öffentliche Sprachmacht des Vaters richtet er eine Strategie der sprachlichen Ermächtigung. Dagegen fokussiert die Abrechnung mit der Mutter eher auf das Privatleben der Franks und verfolgt entsprechend eine biographische Authentizitätsfiktion.[13] Dabei werden jedoch bereits in nationalsozialistischen Texten praktizierte geschlechtliche Einschreibungen übernommen, so etwa die Feminisierung des Nationalsozialismus, die nach 1945 weiter tradiert wurde.

Ein von Hanitzsch kongenial herausgearbeitetes Beispiel dafür ist der Produktionsprozess des Buches Der Vater: Diesem dient zum Einen Curzio Malapartes Roman Kaputt (1944) als Produktionsbedingung, Abgrenzungsfolie und – gerade im geschlechtlichen Bereich – auch als Anknüpfungspunkt insbesondere für die Franks Schrift inhärente geschlechtliche Codierung der nationalsozialistischen Schuld als ‚weiblich’. Zum Anderen wird von der Erzählinstanz ein geschlechtlich codiertes psychologisches Wissen übernommen, wie es etwa der bei Frank zitierte US-Nachrichtendienstoffizier Gustave Mark Gilbert vertrat, der die Darstellung des Nationalsozialismus als ‚feminin’ mit seiner Codierung als ‚homosexuell’ verbindet. An dieser Stelle wird die für alle ‚Täterkinder’ konstitutive Bedeutung diskursiver und intertextueller Verflechtungen und geschlechtlicher Codierungen in ihren Auseinandersetzungen mit den NS-Täter_innen besonders deutlich.

Beate Niemanns immer wieder überarbeitete historiographische Biographie Mein guter Vater (zuerst 2005) und der Dokumentarfilm Der gute Vater – eine Tochter klagt an (2003) bilden die Grundlage einer unabgeschlossenen Auseinandersetzung mit den Archiven, die Auskunft über die Rolle ihres Vaters als NS-Täter geben. Hanitzschs Schrift zeigt hier, wie die plötzliche Erkenntnis der Täterschaft durch ihren absoluten Gegensatz zum familiären Bild des Vaters zu einer Beschämung führt, die Niemann mit der Veröffentlichung zu bewältigen sucht. Von der Tochter des Verbrechers Bruno Sattler wird sie zur ‚Tochter der Archive’, zur Historiographin, die ihre eigene Situierung in der Geschichte thematisiert und die Spannung der beiden Bilder des Vaters ertragen muss. Niemanns eigenes Bild figuriert Hanitzsch zufolge dabei als „Mahnmal“ der Verbrechen des Vaters.[14]

Dagegen wird Niemann in Tataris Film Der gute Vater als Schreiberin ihrer eigenen Geschichte dargestellt. In einer präzisen filmwissenschaftlich fundierten Lektüre kann Hanitzsch zeigen, wie besonders die Stimme des Off-Kommentars im Film einen narrativ-argumentativen Rahmen schafft, mittels dessen auch das Verhältnis der Zuschauer_innen zur NS-Vergangenheit adressiert wird. Dies schafft gerade in der Schlusssequenz des Films jedoch auch einen Raum, in dem Niemann durch die Darstellung ihrer Scham selbst als Opfer ihres Vaters figurieren kann. Als weiblich codierte öffentliche Figuration der Trauer wird sie zu einer mehrdeutigen Projektionsfläche zwischen der Klage um die Opfer des Vaters und der Inszenierung als Opfer des Vaters.

Mit Malte Ludins breit rezipiertem Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2005) erweitert sich der Fokus auf ein familiäres „Netz der Erinnerungen“[15], das zahlreiche Protagonist_innen und auch die Dritte Generation einbezieht. Wiederum vermag es Hanitzsch, die Bedingungen der schreibenden Auseinandersetzung mit dem Nazitäter (in diesem Fall Hanns Ludin) zu rekonstruieren: Neben dem Diskurs im reaktionären Eliteinternat Salem, das die Kinder Ludins besuchten, sind dies besonders der bis heute breit rezipierte Roman Der Fragebogen des Naziverbrechers Ernst von Salomon (zuerst 1951, zuletzt aufgelegt 2003), dessen Entschuldungsrhetorik für die Familie Ludin ein Erkenntnishindernis darstellte, und Christian Geisslers Dokumentarfilm Frau eines Führers (1979), der die Trope der Entschuldung sowie des feminisierten Faschismus reproduziert und bei Ludin implizit zitiert wird.

Malte Ludins Reinszenierung der Schuldverdrängung,, die Hanitzsch als „Familienkrypta“ bezeichnet,[16] liegt der Ausschluss seiner Schwester Erika aus der Familie zugrunde, die im Gegensatz zu den anderen Figuren des Familiennetzwerks das Wissen um den guten und den schuldigen Vater nicht miteinander vereinbaren konnte. Den Film kennzeichnet Hanitzsch zufolge ein dreidimensionales Blickregime: Erstens eine Inszenierung des Blicks des Tätervaters, mit der Malte Ludin sich dessen ermächtigt, zweitens des Blicks der Opfer (seiner Frau Iva Svarcova sowie des Überlebenden Tuvia Rübner), der Ludin beschämt und damit als Teil der Familienkrypta reflektiert, und drittens der Blick der Zuschauer_innen auf ihn, der ihn zugleich als Subjekt und als Objekt des Blickregimes zeigt.

All dies können Sie in Konstanze Hanitzschs Buch, das ganz im Gegensatz zu Janders Rezension exzellent geschrieben ist, finden. Wer die komplexen und mehrdeutigen Ausprägungen der ‚Deutschen Scham’ im Detail nachvollziehen und darüber hinaus wissen möchte, welche Rolle Vampire, Nazi Drags und Zombies in Hanitzschs Studie spielen, muss sie lesen.

Konstanze Hanitzsch, Deutsche Scham – Gender, Medien, „Täterkinder“, Berlin 2013, 421 Seiten, 24 €uro, ISBN-10: 3863311310, ISBN-13: 978-3863311315.


[1] Konstanze Hanitzsch: Deutsche Scham. Gender – Medien – Täterkinder. Eine Analyse der Auseinandersetzungen von Niklas Frank, Beate Niemann und Malte Ludin, Berlin 2013. Martin Jander: „Entlastungszeug / -innen?“, Hagalil (11.02. 2014), http://buecher.hagalil.com/2014/02/taeterkinder, 18.03. 2014.

[2] Vgl. ebd., Fußnoten 18, 19, 24, 25 und 26.

[3] Ludin wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.

[4] Hanitzsch 2013, S. 383, vgl. außerdem u.a. S. 8/9, 13, 28, 51, 220, 223.

[5] Ebd., S. 12, 386.

[6] Ebd., S. 47.

[7] Ebd., S. 389.

[8] Jander 2013, S. 3.

[9] Vgl. z.B. Hanitzsch 2013, S. 10.

[10] Z.B. ebd., S. 15.

[11] Jander 2014, S. 4.

[12] Hanitzsch 2013, S. 7, 36.

[13] Ebd., S. 144f.

[14] Ebd., S. 243f.

[15] Ebd., S. 280.

[16] Ebd., S. 311.