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„Kämpfen ist das, was ihm im Leben Spaß machte“

Zu seinem 100. Geburtstag ist eine umfassende Biografie Joseph Wulfs erschienen, die sein Leben und Wirken angemessen würdigt…

Es ist eine von jenen Biografien, die man wie einen Roman lesen kann. Das liegt nicht nur daran, dass die Geschichte Joseph Wulfs an sich fesselnd ist, sondern auch daran, dass der Autor Klaus Kempter flüssig und kurzweilig schreibt und stets den richtigen Ton trifft.

Wulfs Leben ist einerseits typisch für das 20. Jahrhundert, spiegeln sich darin doch die große Katastrophe des jüdischen Volkes und ihre bis heute anhaltenden Nachwehen wider. Andererseits ist Joseph Wulf eine einzigartige Persönlichkeit, 1912 in Chemnitz geboren und in Krakau aufgewachsen, bezeichnete er sich selbst als „galizischen Juden“ und ließ sich schließlich Anfang der 1950er Jahre ausgerechnet in Berlin nieder, wo er stets Außenseiter blieb und als solcher einen besonderen Beobachterposten einnahm. Als Schoah-Überlebender hatte er sich die Aufklärung zur Aufgabe gemacht und wählte vor diesem Hintergrund andere Themen als der Mainstream innerhalb der deutschen Historikerschaft. Oder, wie Klaus Kempter noch deutlicher formuliert, Wulf stellte Fragen, die die übrige Historikerschaft noch nicht bereit war zu stellen.

Als Wulf zu publizieren begann, gab es keine historischen Arbeiten über die Vernichtung der Juden. Er hat in diesem Bereich Enormes geleistet und es ist erstaunlich, dass er heute in Vergessenheit geraten ist. Jeder, der sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst, stolpert schließlich über eines seiner zahlreichen Werke, wie etwa das gemeinsam mit Leon Poliakov 1955 verfasste „Das Dritte Reich und die Juden“, die Täterbiografien wie beispielsweise zu Himmler und Bormann, Dokumentationen zu Literatur, Theater und Musik im Dritten Reich, Arbeiten über das Ghetto Warschau, das Ringelblum Archiv und vieles mehr. Die Verwicklung des Auswärtigen Amtes in die Verbrechen des NS-Regimes, die 2005 durch die von Joschka Fischer eingesetzte Historikerkommission, bekannt wurden, hatte Wulf schon in den 1956 in seinem Werk „Das Dritte Reich und seine Diener“ dokumentiert.

Klaus Kempter hat Wulfs Werk erstmals in seiner Gesamtheit analysiert und seinen Nachlass ausgewertet. Der damit entstandene wichtige Beitrag zur Historiografiegeschichte, der in Anknüpfung an Nikolas Bergs wegweisende Studie zum „Holocaust und der westdeutsche Geschichtswissenschaft“ gesehen werden muss, ist aber bei Weitem nicht nur für Historiker interessant. Die Arbeit ist vielmehr, wie Kempter schreibt, „auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Gedächtnisgeschichte“ situiert und zeigt somit eine neue Perspektive auf die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte auf. Wulfs Leben und Werk sind „als Seismograf der Entwicklung vergangenheitspolitischen Denkens und Argumentierens in der Bundesrepublik“ zu verstehen, so Kempter.

Am 10. Oktober 1974 nahm sich Joseph Wulf das Leben. Er hatte sich aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock gestürzt.

Kempter kommt hier zu einer Neubewertung. Der Suizid wurde bisher mit dem anhaltenden Trauma erklärt, Wulf war nicht der einzige Schoah-Überlebende, der seinem Leben ein Ende setzte. Kempter gibt jedoch zu Bedenken, dass Wulf keineswegs unglücklich und von vergeblichen Bemühungen zermürbt war. Zu Beginn seines publizistischen Wirkens konnte er sowohl Anerkennung als auch Erfolge verbuchen, über weite Strecken müsse man sich Wulf vielmehr als glücklichen Menschen vorstellen. Wie sein Sohn David sagte,“Kämpfen ist das, was ihm im Leben Spaß machte“. Und Wulf kämpfte, publizierte, erhielt Anerkennung und Auszeichnung. Die vielen positiven Rezensionen und Neuauflagen seiner Werke zeugen u.a. davon.

Den Selbstmord sieht Kempter vor allem in Folge des Todes von Wulfs Frau Jenta, der ihn einsam und kraftlos in Berlin gelassen habe. „Die heutige historische Bewertung von Leben und Wirken Joseph Wulfs“, so resümiert Kempter, „muss nicht mehr auf den sentimentalen Mythos vom ewigen Opfer rekurrieren und kann seine Leistungen in den Fokus rücken.“ Das ist die große Errungenschaft von Klaus Kempters Biografie, die allen Geschichtsinteressierten aufs Wärmste empfohlen sei. – al

Klaus Kempter, Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Bd. 18, Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 422 S., Euro 64,99, Bestellen?
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