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Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust

Das in der Fachzeitschrift Psychoanalyse erschienene Themenheft ist eine sehr gelungene Mischung mit zumeist weniger bekannten Autoren zu bekannten Themen, die so eine neue Perspektive gewinnen…

Die Gastherausgeber Roland Kaufhold und Bernd Nitzschke und Herausgeber Oliver Decker geben in ihrer Einleitung, in der sie zunächst den Begriff „Identität“ einkreisen und erläutern, als gemeinsamen Bezugspunkt der Autoren des Heftes an, dass sie „eine innere Auseinandersetzung mit dem jüdisch-demokratischen Staat Israel sowie eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Holocaust“ kennzeichnet. Dennoch könnten die Beiträge und Blickwinkel unterschiedlicher nicht sein, und genau das macht den Band so spannend und kurzweilig.

Den ersten Teil zu „Zeitzeugen“ eröffnet ein Interview Roland Kaufholds mit Gideon Greif über den Holocaust im Bewusstsein Israels. Der israelische Historiker ist vor allem für seine Forschung über die jüdischen Sonderkommandos, sowie seine Arbeiten über die sog. Jeckes, die deutschen Juden in Israel, bekannt. Der Psychologe, Analytiker und Schriftsteller Arno Gruen, 1923 in Berlin geboren und mittlerweile in der Schweiz lebend, untersucht in seinem Beitrag den Begriff „Identität“ und speziell „jüdische Identität“ genauer, wobei er seine Thesen, dass es nämlich falsch sei, von einer „jüdischen Identität“ zu sprechen, autobiographisch illustriert.Die Psychotherapeutin Anita von Raffay zeichnet in einem sehr persönlichen Beitrag ihren Weg „von Wien nach New York, von Jung zu Freud“ nach.

Mit Meinhold Nussbaum stellt der Historiker und Journalist Jim G. Tobias einen überzeugten Zionisten vor, der 1946 aus Palästina zurückkehrte, um für die Jewish Agency als „Beauftragter für jüdisches Eigentum“ die Rückerstattung vorantreiben sollte. Nussbaum starb bei einem Verkehrsunfall in Köln 1953, als sein Sarg von einer israelischen El-Al-Maschine nach Israel gebracht wurde, war es das erste Mal, dass ein israelisches Flugzeug mit israelischer Besatzung auf deutschem Boden landete. Der in Köln lebende Schriftsteller Peter Finkelgruen bringt in seinem Beitrag „Israel – freiwillige Geisel?“ seine Sorge über die Zukunft jenes Landes zum Ausdruck, in dem er aufwuchs und das er stets als Zufluchtsort für sich als Jude sah.

Der zweite Teil des Bandes zu transgenerationaler Erfahrung wird von Kurt Grünbergs Ausführungen zu einem „Szenischen Erinnern der Shoah“ eingeleitet. Der Psychoanalytiker beleuchtet „aus der Perspektive der Opfer und deren Nachkommen die Spätfolgen und transgenerationalen Wirkungen des zentralen Geschehens des Nationalsozialismus, der systematischen Verfolgung und industriell betriebenen Vernichtung der Juden in Europa.“ Er erläutert dabei das Arbeitskonzept des „szenischen Erinners“ anhand zahlreicher auch persönlicher Beispiele.

Auch Peter Pogany-Wnendt ist Kind von Überlebenden. Er wurde in Budapest geboren, , flüchtete mit seinen Eltern 1956 nach Chile und von dort 1970 nach Deutschland. Er ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises für intergenerationalle Folgen des Holocaust, ehem. PAKH e.V., Psychiater und Psychotherapeut. In seinem autobiografischen Beitrag zeichnet er seine eigene Entwicklung mit der Bürde des Leids seiner Eltern, sein jüdisches Identitäsdilemma und seine professionelle Auseinandersetzung mit diesen Themen nach.

Der 1960 in Rumänien geborene und heute in Köln lebende Arzt und Schriftsteller Peter Rosenthal beschreibt ebenfalls autobiografisch seine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität und seine Erinnerung an die Kindheit in einer Diktatur und Emgration und Leben in Deutschland. Uri Kuchinsky, in Tel Aviv geboren und ebenfalls in Köln lebend, widmet sich im Kontext seiner familiären Geschichte den Begriffen Holocaust und Identität und den mit ihnen verbundenen Problemen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Roland Kaufhold stellt den 2003 verstorbenen Psychoanalytiker Sammy Speier vor. Speier wurde 1944 in Palästina geboren und kam mit seiner Familie 1958 nach Deutschland. Er sah sich selbst als „politischer Psychoanalytiker“ und verstand „das Schweigen insbesondere von politisch links orientierten Menschen sowie seinen Berufskollegen (..) als eine seelische Einfühlungsverweigerung.“

Die Journalistin und Autorin Ramona Ambs schildert eindringlich und sehr persönlich den Alltag der Nachgeborenen in Deutschland, die beständige Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Ahnungslosigkeit und Desinteresse, aber auch das ambivalente Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft selbst. Und sie lässt wenig Hoffnung, dass sich eine Normalität einstellen wird, sondern berichtet vielmehr davon, dass auch ihre eigenen Kinder noch immer mit den Identitätsfragen und -konflikten des Jüdischseins konfrontiert sind.

Im dritten, mit „Das politische Erbe“ überschriebenem Teil  entwirft Micha Brumlik einen Fragenkatalog zu den Unterschieden und Prägungen zwischen Schoa-Überlebenden aus Polen und deren Nachkommen und Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die heute etwa 90 Prozent der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands stellen. Daniel Cil Brecher untersucht den Umgang mit dem Holocaust in der Bundesrepublik, der DDR und Israel. Alexandra Senfft zeigt die Perspektive der Täter auf und stellt anhand der eigenen Familiengeschichte, insbesondere anhand der Weigerung ihrer Mutter, sich mit den Verbrechen des Großvaters Hanns Ludin, auseinander zu setzen, die Folgen des familiären Schweigens auch für die Enkelgeneration dar.

Insgesamt ist das Heft eine erfrischende Neuerung im Dschungel der Veröffentlichungen im deutsch-jüdischen Kontext. Es trumpft nicht mit Fachjargon auf und wird sicher jedem Leser Anregungen bieten. – al

Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung. Nr. 1/2012, Schwerpunktthema: Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust, Gast-Herausgeber: Roland Kaufhold, Bernd Nitzschke, Euro 12,00, Weitere Informationen und Bestellung